«19» - Tankstelle

SASHA

Sasha holte die anderen schnell ein und sie ritten noch lange. Erst als die Sonne aufging, wurden sie langsamer. Die Regenwolken waren verschwunden und die Vögel begannen zu singen. Der Rücken von Sashas Stute war nass und die Pferde schnaubten alle drei angestrengt. Sie hatten die letzten Stunden über kaum geredet.

"Nennt mich Alaska", hatte die Blonde irgendwann gesagt. Danach hatten sie sich weiter angeschwiegen. Wären sie angegriffen worden, hätten sie wahrscheinlich nicht die Kraft und Motivation gehabt, sich zu wehren. Was war das für eine kranke Welt, in der die guten Menschen abgeschlachtet wurden wie Tiere vor dem Abendessen? Vielleicht mussten sie einfach nur noch an sich selber denken, egoistisch und geizig durch die Welt gehen.

Sie ritten entlang eines Flusses, als Agnes sich plötzlich hinter Sasha bewegte, aufstöhnte und vom Pferd fiel.

"Stopp! Wir brauchen eine Pause!", rief Sasha den anderen hinterher, sprang von ihrer Stute und hockte sich neben Agnes, die kaum noch bei Bewusstsein schien. Ihre Augen verdrehten sich und Schaum sammelte sich vor ihrem Mund. Vorsichtig stützte sie den Kopf der älteren Frau auf ihre Oberschenkel.

"Verdammt, Agnes." Alaska stürzte sich neben ihre Anführerin. "Wurde sie geschnitten?", fragte sie an Sasha gewandt. Sie erinnerte sich, dass der Kojote Agnes ein Messer an den Hals gehalten hatte und hob ihr Kinn leicht. Tatsächlich war dort ein kleiner Schnitt an ihrem Hals, geschwollen und entzündet.

"Scheiße." Alaska unterdrückte die Tränen. "Die Leezen reiben ihre Waffen in Gift ein", erklärte sie schluchzend. "Verdammt, verdammt."

Sie hockten da und konnten nichts mehr für Agnes tun. Agnes Muskeln spannten sich nur noch krampfartig an. Aus ihrem Mund lief weißer Schaum und ihre Augen wurden milchig, dann erschlaffte ihr Körper ganz.

"So einen Tod hat sie nicht verdient", flüsterte Alaska und schluchzte. Der Name passte zu ihr, fand Sasha. Alaskas Augen waren die blauesten Augen, die sie je gesehen hat und sie funkelten wie Gletscher in der morgendlichen Sonne.

Sasha erhob sich nach einer Weile: "Wir müssen weiter. Agnes ist tot, wir können nichts mehr für sie tun. Und es kann gut sein, dass wir verfolgt werden", meinte sie mitfühlend, aber bestimmt.

"Ich möchte sie noch begraben", bat Alaska.

"Das ist zu viel Arbeit. Wir müssen weiter. Die Kojoten könnten uns hier jeden Moment finden", bekräftigte Sasha und warf einen kurzen Blick auf Philipp.

Alaska sah sie wütend an: "Wer hat dich zur Anführerin gemacht?", zischte sie und ihre Augen schienen Funken zu sprühen.

"Entweder du schließt dich uns jetzt an oder nicht, dann bleibst du hier. Das ist deine Entscheidung. Wir gehen weiter." Sashas Stimme war hart. Sie schaute in die Ferne und sah Rauch am Himmel aufsteigen, dort, wo das Lager von Evergreen brannte.

"Gut. Ich komme auch ohne euch zurecht. Geht nur", fauchte die Blonde.

"Gut."

Philipp beobachtete die Diskussion mit gerunzelter Stirn und hob danach selber die Stimme: "Sasha hat recht. Wir müssen weiter. Aber wir lassen dich ganz sicher nicht alleine hier, das ist zu gefährlich." Auch er warf einen Blick auf den Rauch am Himmel in der Ferne. So viel zu "Wir müssen egoistischer sein", dachte Sasha und seufzte genervt.

Alaska sah zwischen Sasha und Philipp hin und her, blickte dann auf Agnes hinunter.

"Nun gut", stimmte sie zu und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich komme mit euch bis zum Yellowstone Nationalpark, dann werde ich nach Süden gehen."

Sie schwangen sich wieder auf die Pferde und ritten in ruhigem Schritt durch den Wald. Sie hatten Agnes noch mit Steinen bedeckt, bevor sie aufgebrochen waren, damit sie nicht so offen liegen blieb.

"Ich würde gerne die alte Welt kennen lernen", meinte Alaska nach einiger Zeit. "Die Autos, die vollen Städte, Flugzeuge und das Internet. Agnes hat erzählt, dass man dort alles nachschlagen und nach allem suchen konnte. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie ein unendliches Lexikon."

"Die Kriege und Anschläge, Armut und Krankheiten, Umweltverschmutzung und Massentierhaltung", zählte Philipp auf. "So schlimm und hart diese neue Welt auch ist, ich würde nicht in die alte Welt zurück kehren wollen. Jetzt kämpft jeder selber um sein eigenes Überleben, entweder man verdient es sich oder nicht. Alle haben die gleichen Chancen. Wir sind den Tieren gleichgestellt. So wie es sein sollte."

"Es war trotzdem sicher besser als auf der Straße, von Todesangst geplagt, zu leben", murmelte Alaska missmutig. "Heute haben die guten Menschen wie Agnes keine Chance zu überleben. Irgendwann besteht die Welt nur noch aus brutalen, aggressiven Menschen."

"Was ist da vorne?", fragte Sasha plötzlich und deutete auf etwas Buntes, das in der Ferne durch die Bäume schimmerte.

"Sieht aus wie eine Tankstelle", meinte Philipp. Mit Tankstellen hat man früher Autos betankt, das wusste Sasha. Jetzt standen sie nur noch herum und baten Schutz bei Regen.

Sie ritten auf die Tankstelle zu, stellten ihre Pferde etwas abseits ab und gingen den Rest zu Fuß. Sie mussten vorsichtig sein. Oftmals trieben sich Skrim in der Nähe von Städten und Dörfern herum. In den tiefen Wäldern war man also sicherer als auf den Straßen.

Plötzlich zischte Philipp und sie duckten sich sofort ins Unterholz. Er deutete einige Meter neben die Tankstelle und dann genau darauf. Sasha sah genauer hin. Zwei Skrim streunten an der Tankstelle herum. Der Kleinere umkreiste gerade ein altes, verrostetes Auto, während der größere sich dem Eingang der Tankstelle näherte.

"Ich sehe nur zwei. Mit denen können wir es aufnehmen", flüsterte Philipp Sasha zu. Sie sah nochmal einige Momente hin.

"Was, wenn hinter dem Gebäude noch welche sind?", fragte sie nach einigen Herzschlägen.

"Muss das wirklich sein?", mischte sich Alaska ein und schaute unsicher zwischen Sasha und Philipp hin und her. Sasha verdrehte die Augen und antwortete nicht. Alaska konnte nicht kämpfen und war ihnen nur eine Last, aber andererseits konnten sie die Blonde nicht zum Sterben zurücklassen.

Sie schlichen durch den Wald auf die Tankstelle zu. "Bleib du hier", befahl Sasha der Jüngeren. Diese sah enttäuscht aus, blieb aber, wo sie war. Sasha folgte Philipp aus dem Unterholz hinaus auf die offene Fläche. Sie suchten Deckung hinter einem alten Bus. Sie hatten schon so oft zusammen gekämpft, dass sie sich stumm verständigen konnten. Philipp nickte und Sasha legte einen Pfeil an, lugte hinter dem Bus hervor. Ihre Augen glänzten wild, sie schoss und traf ihr Ziel. Wie immer.

Der kleinere Skrim ging mit einem lauten Kreischen zu Boden. Sofort legte Sasha einen zweiten Pfeil an und zielte auf den anderen Skrim, als sie plötzlich stark gerammt wurde. Ihr blieb die Luft weg, als sie hart auf dem Boden aufprallte. Alles drehte sich. Schmerz durchströmte Ihre Schulter.

Gerade als sie sich aufrichten wollte, trat etwas Schweres auf ihren Rücken und drückte sie zu Boden. Das hohe, wütende Kreischen eines Skrim drang zu ihr durch. Es war so hoch, dass sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde platzen. Sasha erhaschte einen Blick auf Philipp, der ebenfalls gegen eines der Monster kämpfte. Sie wehrte sich mit aller Kraft, aber der Skrim war bei weitem stärker als sie. Sie bekam keine Luft und Panik breitete sich in ihr aus. Sie begann zu toben. Und plötzlich verschwand das Gewicht. Sasha schnappte nach Luft, sprang auf und sah sich mit gespanntem Bogen um. Der sterbende Skrim neben ihr wandte sich und zischte wütend. Alaska kam auf sie zu, beugte sich zu dem sterbenden Skrim hinunter und zog den Dolch aus seinem Kopf, stach nochmal zu und der Skrim rührte sich nicht mehr.

Überrascht sah Sasha Alaska an und nickte ihr anerkennend zu. Alaska sah wütend zurück: "Sag mir nie, wieder ich solle mich von einem Kampf fernhalten", meinte sie trocken. Sasha nickte, sagte aber nichts.

Nachdem Philipp unter dem dritten toten Skrim hervor gekrochen war, kam er auf sie zugehumpelt. Sasha setzte das Herz aus. Hatte das Monster Philipp erwischt? Hoffentlich hatte er sich nur etwas geprellt. Aber diese Hoffnung erlosch schnell wieder, als sie Philipps blutgetränkte Jeans sah.

"Wurdest du gebissen?", fragte Sasha und stützte ihren Freund von der linken Seite.

"Nein", keuchte Philipp. "Nur ein Kratzer."

Sie brachten Philipp in die Tankstelle und setzten ihn an ein Regal. Sofort begannen sie, nach Verbandszeug zu suchen. Einige Regale waren umgeworfen oder ausgeräumt, doch Sasha konnte sehen, dass hier noch nicht so viele Menschen geplündert hatten . Einige Lebensmittel waren noch da; Toast, Riegel, Kaugummis. Auch lagen noch einige Wasserflaschen herum.

Während Alaska den Bereich um die Kasse herum absuchte, ging Sasha in einen hinteren Raum. Ihr stockte der Atem bei dem Gestank in dem Raum und sie musste würgen. Es dauerte einige Momente, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Sie legte sofort einen Pfeil an, als sie eine Silhouette sah, entspannte sich jedoch wieder, als sie erkannte, dass die Person tot war. Dann erkannte sie eine zweite, dritte und vierte tote Person. Sie waren alle erschossen worden. Sasha trat näher heran und rümpfte die Nase. Sie beugte sich über den Mann zu ihrer linken und griff nach der Waffe an seinem Gürtel. Plötzlich öffnete der Mann seine Augen und starrte sie an. Sasha zuckte zurück, griff dann aber trotzdem nach der Waffe und nahm sie dem Verletzten ab. Er würde sie nicht mehr brauchen. Er würde sowieso nicht überleben. Doch der Mann griff nach Sashas Hand und hielt sie mit kalten Fingern fest: "Balter...", keuchte er. "Balter wird euch kriegen. Er wird euch alle kriegen. Er ist noch viel schlimmer als Riverside, viel schlimmer als die Kojoten, viel schlimmer als das Militär. Und wenn er euch hat, werdet ihr euch wünschen, nie geboren zu sein."

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