#16 - Der Sturm

LOUISA

Es war dunkel. So dunkel, dass sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Der Mond war von dicken Wolken bedeckt. Der Regen prasselte auf die Straßen und Wege der Kaserne herab, während ab und zu ein Ruf eines Soldaten auf seinem Wachposten oder das Bellen eines Hundes ertönte.

Nick führte sie in die hinterste Ecke der Kaserne, wo der Rasen ungepflegt wucherte und die Gebäude älter waren. Sie hatten sich wie geplant an der Bibliothek getroffen und Nick ihr von dem Gespräch mit William und den Plänen des Colonels erzählt. Doch irgendwie fand sie das Ganze nicht schlüssig. Wieso sollte William glauben, dass Nick ihm Louisa einfach so ausliefern würde? Oder hatte Nick ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt? Nein, sie vertraute ihm voll und ganz.

"Wir müssen sofort von hier verschwinden", hatte Nick gesagt und Louisa dann in seinen Plan eingeweiht. John würde sie hier treffen, so hatten sie es ausgemacht.

Eine Flucht über den Zaun der Kaserne war nicht auszudenken, außer Nick oder John würden auf einem der Wachposten stehen. Doch da der Colonel Louisa heute Nacht nach St. Cloud schicken wollte, mussten sie schnell handeln. Sie hatten das ganze Gelände nach einem Fluchtweg abgesucht, doch aus dieser Kaserne kam man nicht raus. Dann hatte Louisa John eingeweiht. Er hatte ihnen verraten, dass es im westlichen Teil der Kaserne einen unterirdischen Tunnel gab, der nach draußen führte. John wollte ihnen noch Waffen und Proviant besorgen. Sie würden sich um Mitternacht bei dem Tunneleingang treffen. So hatte es Louisa mit John ausgemacht.

"Hier." Nick kniete sich auf den eingeweichten Boden und fegte mit der Hand das Laub beiseite. Eine rostige Metallklappe kam zum Vorschein. John kannte diesen geheimen unterirdischen Tunnel von Ryker. Es war ihre einzige Hoffnung, hier rauszukommen.

"Jetzt warten wir auf John", flüsterte Louisa. Wahrscheinlich hatte Nick genickt, doch sie konnte es nicht sehen.

Der Lichtkegel einer Taschenlampe glitt über sie hinweg.

"Runter", zischte Nick und zog Louisa zu sich hinunter in das hohe Gras. Das Licht der Taschenlampe durchsuchte die Wiese und sie drückten sich flacher in die nasse Erde. Louisa spürte, wie sich ihre Klamotten mit Schlamm vollsaugten. Kalter Wind fegte über sie hinweg und ließ sie frieren. Sie zitterte. Nick legte seine Hand auf ihren Rücken und sie war dankbar für die Wärme, die er spendete.

Irgendwo in der Ferne heulten Kojoten und schreckten einige Krähen auf. Louisa schaute zum Himmel hinauf und stellte fest, dass die Wolken dunkler und dichter wurden. Ihre roten Locken klebten auf Gesicht und Hals.

Wieder glitt der Lichtkegel einer Taschenlampe über ihre Köpfe hinweg und es regnete noch stärker. Schritte näherten sich. Louisa wimmerte und zitterte noch heftiger. Ein Blitz zuckte über den Himmel und es donnerte. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter ihr das Blut abpumpte. Sie wollte nicht zurück nach St. Cloud und Teil irgendwelcher Experimente sein. Ob es schmerzhaft war? Ihr Herz pochte in ihrer Brust. Was würden sie machen, wenn sie jetzt entdeckt wurden? Kämpfen? Wäre sie bereit, einen Menschen für ihre Freiheit zu töten?

Die Schritte kamen noch näher und plötzlich wurde sie von einer Taschenlampe geblendet. Louisa erstarrte. Jemand stand direkt vor ihnen und leuchtete auf sie herab. Erst nach einigen Herzschlägen und nachdem Nick erleichtert aufgeatmet hatte, erkannte sie Johns breite Schultern, das markante Gesicht und die dunklen Haare. Sie lagen perfekt, wie immer.

John kniete sich zu ihnen herunter und öffnete seinen Rucksack.

"Hier, deine Machete", flüsterte er zu Louisa und reichte ihr das kurze Schwert. Dann wandte er sich an Nick: "Die Waffenkammer war verschlossen und wurde streng bewacht. Da wäre ich niemals unbemerkt hinein, geschweige denn wieder hinausgekommen." Er drückte ihm ein langes Messer in die Hand. "Aber", fuhr er fort, "eine Waffe kann ich euch mitgeben." Er übergab Nick seine eigene Waffe und reichte ihm dann den Rucksack. "Hier ist genug Proviant für eine Woche drin. Taschenlampen, Batterien, Feuerzeuge, Decken ... alles was ihr brauchen könntet. Folgt dem Tunnel und haltet euch immer links. Der Tunnel führt nach Westen aus der Stadt hinaus. Danach seid ihr nicht mehr im Militärgebiet." John streckte Nick die Hand entgegen. "Viel Glück."

Nick schüttelte die Hand des jungen Soldaten. "Danke, das werde ich dir nie vergessen", meinte er, öffnete die Metallklappe und kletterte die verrostete Leiter hinunter in die Kanalisation. Dann wandte sich John an Louisa. Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch das konnte man bei dem Regen nicht sehen.

"Wieso kommst du nicht mit uns?", fragte sie leise und ihre Blicke trafen sich. "Komm mit nach Portland."

"Ich kann nicht. Ich bin ein Soldat und mein Platz ist hier." Kurz herrschte ein unangenehmes Schweigen, dann küsste er sie auf die Stirn. Sie spürte Nicks Blick, der sich heiß in ihren Rücken bohrte.

"Werden wir uns wiedersehen? Irgendwann?" Sie wusste, dass ihre Reise jetzt nach Westen ging und sie nie wieder zum Militär zurückkehren würde. Hier trennten sich ihre Wege.

"Vielleicht. Pass auf dich auf. Passt beide auf euch auf", flüsterte er und strich ihr über die Wange.

Dann begann auch Louisa die Leiter hinunterzuklettern und ließ sich die letzten Sprossen zu Boden fallen. Mit einem dumpfen Geräusch landete sie neben Nick.

"Alles okay?", fragte er und seine Stimme hallte erschreckend laut von den Wänden des Ganges vor ihnen.

"Ja." Ihre Stimme bebte. "Wir müssen weiter." Sie nahm von Nick eine der Taschenlampen entgegen. Louisa versuchte, ihre Trauer herunterzuschlucken und sich auf die Flucht zu konzentrieren. Sie sah sich in dem Tunnel um. Hinter ihnen war der Gang zu Ende und vor ihnen führte der Tunnel in die Dunkelheit. Die Luft war schwül, warm und feucht. Von der Decke tropfte Wasser und große Pfützen bedeckten den Boden. Sie vernahm das Quieken von Ratten und das Glucksen von Fröschen.

"Meinst du ..." Louisa zögerte. "Denkst du, hier lauern Skrim?" Sie hatte noch nie einen Skrim gesehen und die Vorstellung, solch einem Monster gegenüberzustehen, ließ sie erschaudern.

"Ich denke nicht", antwortete Nick ihr mit ruhiger Stimme. "Skrim haben es auf Menschen abgesehen und nicht auf Ratten." Die Antwort beruhigte Louisa ein wenig, doch sie blieb angespannt und wachsam.

Während sie schweigend dem Tunnel folgten und hin und wieder hinter die vergitterten Kanäle schauten, wurde es immer schwüler.

Plötzlich blieb Louisa stehen und starrte auf den Boden.

"Was ist?" Nicks Augen glänzten besorgt. "Was ist los?"

Louisa hob den Blick und sah ihn direkt an.

"Das Wasser", flüsterte sie. "Durch den Regen steigt es." Ihre Stimme klang düster durch die Tunnel.

Sie sah auf ihre Stiefel. Das Wasser stand ihr bereits bis zu den Knöcheln. Einige Momente starrten sich Louisa und Nick schweigend an.

"Wir müssen uns beeilen", meinte er dann, doch Louisa konnte die Angst in seiner Stimme hören.

Es dauerte nicht lange, als sie zu einer Gabelung kamen. Sie blieben stehen.

"John meinte, wir sollten uns links halten", erinnerte Louisa ihn und sah den finsteren Gang entlang. Nick schaute in den rechten Gang und atmete tief ein.

"Hier zieht frische Luft durch. Ich denke, wir sollten rechts gehen."

Louisa kniff die Augen zusammen und zögerte.

"John hat gesagt, dass wir links gehen sollen", wiederholte sie und begann, durch das kalte Wasser deslinken Ganges zu waten.

Nick seufzte kurz und folgte ihr dann, warf noch einen wehmütigen Blick in den rechten Tunnel. Louisa blieb nochmal stehen und lauschte kurz, ob ihnen jemand folgte. Aber es war nur das Tropfen des Wassers und das leise Trippeln von Rattenfüßen zu hören.

Es wurde immer kälter und Louisa hatte das Gefühl, dass der Tunnel bergab führte, während sie sich weiterhin bei jeder Gabelung links hielten. Finstere Gedanken zogen ihr durch den Kopf. Sie redeten nicht, damit ihr Echo sie nicht verriet, damit sie hörten, falls sie verfolgt wurden. Das Wasser stieg immer höher und ging Louisa bereits bis zu den Oberschenkeln. Gingen sie bergab? Sie hatte das Gefühl, als würde der Tunnel nur noch tiefer unter die Erde führen. Sie begann auch, darüber nachzudenken, ob John ihnen wirklich helfen wollte? Er gehörte zum Militär und hatte keinen Grund, ihnen eine Flucht zu ermöglichen. Was, wenn er sie in eine Falle lockte? Vielleicht hatte er sie angelogen.

Gerade als sie darüber nachdachte, hörte sie ein lautes Platschen und das leise Echo von Schritten. Es waren viele schwere Schritte, die gleichmäßig durch das Wasser stapften. Die Soldaten, die wohl die Verfolgung aufgenommen hatten, versuchten nicht, sich leise zu bewegen.

Louisa sah Nick an. "Was jetzt?", flüsterte sie.

"Komm, weiter. Leise", hauchte Nick. Sie gingen weiter durch das hüfthohe Wasser, versuchten, das Platschen ihrer Schritte zu verhindern. Die fremden Schritte schienen immer lauter zu werden und näherzukommen. Louisa konnte einzelne Worte wie "schießen", "wertvoll", "Mädchen" und "Schmerzen" heraushören.

Dann sahen sie einen blassen Lichtpunkt am Ende des Tunnels und sie begannen zu joggen. Louisa warf einen Blick zurück und konnte die grellen Lichter der Taschenlampen hinter ihnen erkennen.

"Komm, schneller", drängte Nick und watete durch das fast brusthohe Wasser. Er zog Louisa hinter sich her, als hinter ihnen ein unverkennbares, lautes Kommando erklang.

Keuchend liefen sie auf den Ausgang des Tunnels zu, hinaus in den strömenden Regen. Es dauerte nicht lange, bis der Suchtrupp hinter ihnen ebenfalls den Tunnel verlassen hatte.

Beinahe blind rannte sie hinter Nick her durch den Wald. Sie stolperten durch das Unterholz und wichen Büschen und Bäumen im letzten Moment aus. Louisas Herz schien ihr aus der Brust springen zu wollen und sie erinnerte sich an den Lauf durch den Wald, als sie aus St. Cloud heraus gekommen war. Ihre Beine brannten, sie wurde immer langsamer. Eisengeschmack stieg ihr in den Mund, sie bekam kaum noch Luft.

Sie rannte beinahe in Nick hinein, als er abrupt stehen blieb. Ein tiefer Abgrund breitete sich vor ihnen aus, durch den ein schwarzer Fluss rauschte.

"Wir müssen springen, sonst kriegen die uns." Nick sah panisch auf die näherkommenden Lichter im Wald hinter ihnen.

"Ich kann nicht schwimmen", keuchte Louisa und hustete. "Ich werde ertrinken. Ich kriege keine Luft." Ihre Beine gaben fast unter ihr nach.

"Ich halte dich fest!" Nick griff nach ihrer Hand. "Halt meine Hand fest. Wir müssen springen." Er übertönte gerade so den immer stärker werdenden Regen.

Plötzlich wurden sie von einem grellen Licht geblendet. Ihre Hand wurde nach hinten gerissen, sie stürzte die Klippe hinunter, immer noch die Hand von Nick umklammernd. Sie tauchten in das eiskalte Wasser ein und Louisa spürte, wie ihr Nicks Hand entglitt. Hektisch versuchte sie, sich über Wasser zu halten, doch die starke Strömung zog sie wieder hinunter in die Dunkelheit. Ihr Mund füllte sich mit kaltem Flusswasser und sie würgte. Als ihr Kopf wieder an die Oberfläche kam, schnappte sie panisch nach Luft, wurde aber wieder hinuntergezogen. In der finsteren Tiefe verlor sie jegliche Orientierung. Die Strömung schleuderte sie gegen Felsen, bis sie nachgab, aufhörte zu kämpfen und sich treiben ließ. Sie sah nur noch, wie die Lichter der Taschenlampen auf der Klippe in der Ferne verschwanden, bevor sie ein schmerzhafter Schlag auf den Kopf traf. Licht aus.

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