#10 - Stärker als du

LOUISA

Der Schlag traf sie an der Schläfe und sie taumelte benommen zurück. Kaum stand sie wieder fester und hob die Arme um ihr Gesicht zu schützen, bekam sie einen Tritt in die Magengegend. Das schrille Geräusch der Trillerpfeife beendete den Kampf und Louisa blieb benommen liegen. Sie sah noch verschwommen wie sich ihre Gegnerin mit einem provozierenden Lachen von ihr abwandte und der Rest der Auszubildenden die Halle verließen. Sie hustete und hielt sich den schmerzenden Kopf, während sie spürte wie warmes Blut zwischen ihren Fingern hervorquoll.

"Das war ein schrecklicher Kampf", John kniete sich neben sie.

"Ich trainiere erst seit zwei Wochen, sie seit fast einem Jahr. Das war ein unfairer Kampf", schnaubte Louisa und wischte sich das Blut aus dem Auge. "Und ja mir geht es gut, danke der Nachfrage", fügte sie zischend hinzu.

"Es ist nur eine Platzwunde, aber du solltest sie trotzdem nähen lassen. Weißt du wie du von hier aus zum Krankenflügel kommst?", fragte er und sah sich die Wunde über Louisas Auge näher an. Sie schüttelte als Antwort den Kopf und er seufzte tief. Mit einem Ruck zog er Louisa auf die Beine und begleitete sie zum Krankenflügel.

"Die meisten Gegner da draußen werden stärker sein als du. Gegen einen Skrim kannst du zum Beispiel nur gewinnen, wenn du klüger bist. Du bist klein und wendig, nutze das als deine Stärke. Sei schneller als dein Gegner", erklärte John und sah Louisa sanft an, während eine ältere Frau sich um ihre Wunder kümmerte. "Außerdem bist du gescheit. Finde heraus wie dein Gegner kämpft und welche Angewohnheiten er hat. Du musst immer einen Schritt voraus sein."

"Oder man hat eine Waffe", fügte Louisa hinzu und deutete auf die Pistole an Johns Gürtel.

"Es wird genug Situationen geben, in denen du ohne Schusswaffe auskommen musst. Dann musst du dich nur mit einem Stock oder einem Messer wehren. Vielleicht auch nur mit deinen Händen."

Louisa lächelte kurz und zischte auf, als die Ärztin den letzten Stich setzte. "Sei die nächsten Tage vorsichtiger, hört ihr?", sagte sie streng und sah vor allem John an. Dieser neigte höflich den Kopf und Louisa folgte ihm aus dem Gebäude. Es war ein regnerischer Tag, grau und kalt. Der Wind säuselte laut durch die Kaserne und peitschte Louisa die Haare ins Gesicht. Sie wagte einen Blick in Richtung Zaun, wo die Wachen im Nieselregen standen und sich nicht rührten. Ein Schauder rannte ihr über den Rücken. Sie fand die Wachen irgendwie gruselig. Sie bewegten sich nicht, starrten hinaus in den Wald und schienen nicht mal zu blinzeln.

Ein lauter Gong kündigte das Abendessen an und sie machten sich auf den Weg in den Speisesaal. Louisa setzte sich zur Nick und William auf die linke Seite des Saals an den Tisch, an dem sie die letzten Tage immer saßen.

"Was ist denn mit dir passiert?", fragte Nick und schob ihr den Teller zu, den er ihr mitgebracht hatte. Das machte Nick in letzter Zeit immer, da er und William normalerweise früher mit ihrem Training fertig waren als sie.

"Danke", murmelte Louisa, während sie begann die Spaghetti auf die Gabel zu rollen. "Wir haben trainiert und ich habe verloren, wie man sieht."

"Wer?", fragte Nick und Louisa deutete mit einem leichten Kopfnicken in Richtung der jungen Frau zwei Tische weiter, die sich gerade durch die blonden, fast weißen schulterlangen Haare fuhr. "Das ist Clea, die Schwester von Ryker. Sie macht seit sie klein ist Ärger. Der würde ich an deiner Stelle aus dem Weg gehen", warf William ein und nahm den letzten Schluck von seinem Wasser. Nick nickte einsichtig. "Siehst du den da?", er deutete unauffällig auf einen Mann, etwa 50 Jahre alt mit schwarzem Schnurrbart. "Das ist Leutnant Travis Blackstone, quasi die rechte Hand des Colonels. Er ist Cleas Ausbilder. Dem gehst du am Besten auch aus dem Weg. Er ist zwar nicht besonders intelligent, aber scheut nicht vor Gewalt zurück."

Nach dem Essen gingen Nick und Louisa in die Bibliothek. William hatte noch etwas zu erledigen, wie jeden Abend. Wenn man ihn fragte wohin er denn ging wich er der Frage aus.

Die Bibliothek war der einzige Ort, an dem man entspannen konnte, denn draußen war es noch zu kalt und ihre Zimmer waren klein und ungemütlich. Die Bibliothek war ein altes großes Gebäude, das vom Stil gar nicht zum Rest der Kaserne passte. Auch im Inneren war es anders als in allen anderen Gebäuden. Die Bibliothek war riesig und besaß zwei Etagen, die durch zwei dicke Holztreppen verbunden waren. Am Eingang der Bibliothek zog jeder seine Schuhe aus, damit der rote Teppichboden nicht schmutzig wurde. Dicke Vorhänge verdeckten die Fenster und die großen Kronleuchter strahlten warmes gelbliches Licht aus.

Louisa folgte Nick auf die zweite Etage der Bibliothek und staunte erneut über die hohen Regale mit den unzähligen Büchern. Sie rannte beinahe einen kleinen alten Mann um, der sie durch seine große Brille böse anfunkelte, aber nichts sagte. In der hintersten Ecke ließ sie sich in den grünen samtigen Sessel fallen und seufzte.

"Was hat William eigentlich jeden Abend zu tun?", fragte Louisa, während sie ihre Haare in einen unordentlichen Dutt band.

"Er meinte er geht Abends zu irgendeinem Kurs, aber er wollte mir nicht sagen welchen", Nick zuckte mit den Schultern. "Ich weiß auch gar nicht welcher Kurs so spät noch stattfindet."

"Es gibt Kurse? Wieso wusste ich davon nichts?", sie lachte kurz auf.

"Wir brauchen schließlich auch Soldaten die gärtnern, jagen, angeln, Spuren lesen, kochen, backen, sich um die Tiere kümmern", listete er auf. "Durch die Teilnahme an Kursen verdienst du Loyalitätspunkte. Und es gibt noch verschiedene Freizeitaktivitäten und Sportarten."

"Und du findest es nicht komisch, dass William dir nicht sagt zu welchem Kurs er geht?", hackte Louisa mit einem misstrauischen Ton in der Stimme nach.

"Meinst du er lügt? Wieso sollte er?", fragte Nick und sah sie besorgt an.

"Ich weiß nicht", meinte Louisa und bediente sich an einem der Äpfel, die in der Schale auf dem kleinen Tisch lagen. "Seltsam finde ich das schon."

"Was ist seltsam?", eine neue Stimme erklang direkt hinter ihr. Als Louisa sich umdrehte schaute sie in blaugraue Augen. "Ach, du bist die Auszubildende von John! Ich bin Zoe", stellte sich die Fremde mit einem übertriebenen Lächeln vor. Louisa und Nick wechselten einen verunsicherten Blick, dann nannten auch die beiden ihre Namen. Zoe beugte sich zu Louisa vor und begutachtete die genähte Wunde an ihrer Augenbraue. "Das Training scheint hart zu sein, wie ich sehe. Ich hoffe du stellst dich gut an", meinte Zoe und zwinkerte. "Du hast einen wirklich guten Mentor."

"Ich gebe mein Bestes", antwortete Louisa knapp. Was wollte diese Zoe von ihr? Wieso spielte sie sich so auf?

"Aber vielleicht ist das Kämpfen auch nichts für dich. Ich habe von dem Kampf mit Clea heute gehört. Wir brauchen auch immer wieder Leute die kochen und putzen oder die Bücher hier in der Bibliothek sortieren. Du hängst doch gerne hier in der Bibliothek herum. Vielleicht ist das der richtige Job für dich? Nicht jeder ist zum Kämpfen geboren."

"Sie schafft das Training und die folgende Prüfung schon, mach dir da keine Sorgen", erklärte Nick und nahm Louisa in Schutz.

"Ich denke Louisa kann für sich selber sprechen", zischte Zoe und zupfte einer der Blumen auf dem Tisch ein Blatt ab.

"Ich gebe mein Bestes", wiederholte Louisa so laut, dass jemand vom vorderen Bereich des Raumes genervt zischte.

"Das ist auch gut so", meinte Zoe zuckersüß und wickelte einer ihrer dunklen Locken um ihren Zeigefinger. "Es kommt nämlich vor, dass Leute, die nicht gut genug sind auf mysteriöse Weise verschwinden." Verärgert und verwirrt sah sie Zoe hinterher. Was meinte Zoe damit? Wohin verschwanden die Menschen? Oder hatte sie gelogen?

"Sag mal", setzte Nick nach einiger Zeit vorsichtig an. "Wieso genau wurdest du aus St Cloud verbannt?"

Louisa dachte kurz nach. Sollte sie ihm die Wahrheit erzählen? Sie waren doch inzwischen Freunde, oder nicht? Sie sah ihm in die blauen Augen, konnte aber nur Sorge in ihnen sehen.

"Ich war zu neugierig", begann Louisa und erzählte ihm alles was sie an dem Tag gesehen und gehört hatte.
"Deine eigene Mutter hat dich verklagt?", fragte Nick ungläubig. "Das muss schrecklich für dich sein..."
"Das ist jetzt egal", winkte Louisa ab. "Ich habe ein schlechtes Gefühl. Meine Mutter hat von einer Lieferung aus Minneapolis gesprochen", erinnerte sie sich. "Ich denke, dass das Militär mit St Cloud zusammen arbeitet."

"Vielleicht...", setzte Nick an und erinnerte sich an das Gespräch mit Harrison. "Vielleicht beliefert das Militär St Cloud mit Menschen für die Experimente?"

Louisas Augen weiteten sich und sie klopfte nachdenklich mit dem Fuß auf den Boden. Daran hatte sie gar nicht gedacht, da der Gedanke einfach zu schrecklich war. Aber es würde Sinn ergeben. Zoe hatte gesagt, dass Menschen hier in der Kaserne manchmal auf mysteriöse Weise verschwanden. Hatte sie damit die Lieferungen angesprochen? Hatte sie Louisa gedroht? Handelten St Cloud und das Militär etwa mit Menschen?

"Harrison meinte, sie hätten Probleme mit ihren Händlern. Er sagte, dass sie nicht genug zahlen wollen. Er ist meinen Fragen ausgewichen und wollte mir nichts sagen. Ich kann mir gut vorstellen, dass da faule Geschäfte zwischen St Cloud und Minneapolis laufen", dachte Nick laut nach.

"Das würde Sinn ergeben; Minneapolis beliefert St Cloud mit Menschen für die Experimente. Hier beim Militär verschwinden manchmal Leute. Bestimmt liefert der Colonel auch gefangene Überlebende mit", fasste Louisa zusammen.

"Und was sind wir dann?" Nicks Stimme war nur ein nachdenkliches Flüstern, als hätte er Angst, jemand würde sie belauschen.

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