Kapitel 9
Ciel
Mein Zellenachbar hatte schon sehr viel Blut verloren und war nur noch halb bei Bewusstsein. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, oder was ich überhaupt tun konnte, hier unten, in einer Zelle angekettet. Mehr als auf ihn einreden konnte ich nicht.
"Er wird nich' mehr lang' durchhalt'n", sagte die Frau in der mir gegenüber liegenden Zelle.
Ich wusste nicht, wie sie das von dort hinten erkennen konnte, aber darüber konnte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Wenn er nicht schnell medizinische Hilfe bekam, würde er hier sterben. Und das meinetwegen.
Das hätte ich sein können.
Das hätte ich sein sollen.
Mein einziger Trost war, dass ich Vivi hier wenigstens nicht mit hineingezogen hatte. Sie war auf dem Weg nach Hause, in Sicherheit, weit weg von all dem hier.
Auf einmal hörte ich das laute Knarren der Kerkertür und sah hoch zum Eingang. Es waren mehrere Männer in Uniform, aber zum Glück kein Zeichen von diesem großen, aggressiven Mann. Dieser eiskalte Blick in seinen Augen würde mir noch wochenlang Albträume verschaffen.
Die Männer trugen alle einen Schlüssel und öffneten unsere Zellen. Als einer von ihnen in meine Zelle trat, senkte ich meinen Kopf wieder und sah auf den Boden. Ich spürte seine leicht zitternden Hände an meinen Handgelenken.
Mit einem lauten Klick entriegelte sich das Schloss und meine Hände fielen taub hinunter in meinen Schoß.
Ich wagte einen Blick nach oben. Wir wurden scheinbar alle aus den Zellen geholt, aber wieso? Was hatten diese Leute mit uns vor?
"Wir brauchen einen Arzt, schnell!", rief die Frau aus der Zelle neben mir. Daraufhin eilte ein anderer der Soldaten die Treppen hoch.
Ich traute mich einen etwas erleichterten Atemzug zu nehmen. Auch wenn ich nicht wusste wieso diese Leute uns scheinbar halfen, war ich ihnen dankbar dafür.
Langsam setzte ich mich etwas auf und sah zu meinen teilweise tauben Händen hinunter. Wie sich die Hände der anderen Häftlinge wohl anfühlten? Sie waren schließlich um einiges länger hier gewesen als ich.
Ich versuchte meine Hände zu bewegen, um die Durchblutung anzukurbeln, doch anfangs bekam ich nur ein leichtes Finger-Zucken hin. Es war beängstigend.
In meiner Konzentration hatte ich nicht gemerkt, dass jemand anderes in meine Zelle gestürmt war. Die Person fiel mir um den Hals und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was los war.
"Vivi?", flüsterte ich geschockt, aber schlung automatisch meine Arme um ihren schmalen Körper.
Sie drückte sich noch näher an mich, bevor sie ihren Kopf von meiner Schulter hob und mich mit Tränen gefüllten Augen ansah.
"Bist du verletzt?", fragte sie mich. Ich konnte nur sprachlos meinen Kopf schütteln.
"Was machst du hier?", fragte ich, als meine Stimme endlich wieder funktionierte.
Vivi lächelte und kämmte sanft ihre Finger durch meine Haarspitzen.
"Ich wollte dich einholen und habe gesehen, wie dich zwei Männer verschleppt haben."
"Du hättest einfach wieder nach Hause gehen sollen, zu deiner Familie. Warum bist du umgekehrt?"
Sie lächelte nur unbeschwert und vergrub ihre Hände in den kurzen, roten Locken meines Hinterkopfes. Dann lehnte sie sich vor und presste ihre Lippen auf Meine.
Ich schloss instinktiv meine Augen und hob eine noch halb taube Hand, die ich auf ihren Nacken legte, um sie noch näher an mich heranzuziehen. Immer wieder, fanden unsere Lippen zueinander. Und trotz der einzelnen, salzigen Tränen, die ihren Augen entwichen, war der Moment perfekt.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort auf dem kalten Boden des Kerkers saßen und uns küssten, doch irgendwann mussten sich unsere Lippen dann doch voneinander trennen.
Trotz meiner Bemühungen, zogen sich meine Mundwinkel direkt nach oben. Ich konnte mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen.
"Das...", begann ich so ernst wie nur möglich, "...war eine gute Antwort. "
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Ich folgte Vivi aus dem Kerker, die steinernen Treppen hoch. Einmal draußen angekommen, nahm ich einen tiefen Atemzug von der frischen Luft. Die Wärme, der späten Nachmittagssonne, tat wirklich gut und ich streckte mich einmal richtig. Dann bemerkte ich jedoch die ganzen Menschen in Uniform, die hier herumliefen und senkte sofort meinen Blick.
"Vivi", flüsterte ich lautstark, "das ist unmöglich. Ich kann mich nicht dort hinstellen und so tun, als wäre alles normal."
Als wäre ich normal...
"Diese Menschen sind anders", argumentierte sie mit einem Lächeln, "Du wirst schon sehen."
Sie hakte sich bei mir ein und versuchte mich mit sich zu ziehen, aber ich bewegte mich keinen Zentimeter. Seufzend wandte Vivi sich mir ganz zu.
"Vertrau mir."
"Das tue ich, wirklich. Aber... jedes Mal so angestarrt zu werden, als wäre ich ein Monster... Ich kann diese Blicke nicht mehr sehen."
Vivi sah mich mit ihren warmen, braunen Augen mitfühlend an. Sie legte eine Hand auf meine Wange und streichte mit ihrem Daumen ein paar mal hin und her.
"Ich weiß. Aber das sind keine gewöhnlichen Menschen. Sie wissen über alles bescheid und sind schon mit anderen magischen Wesen befreunded."
"Hast du ihnen erzählt, was ich bin?"
Vivi schüttelte nur den Kopf. Ich zerrte meine Augen langsam von ihr weg und sah zu der kleinen Gruppe von Menschen auf der Wiese. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug.
"Okay, bringen wir es hinter uns."
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