Kapitel 27
Sesto
„Dann leg ma' los", sagte ich, während ich meinem (ehemals?) besten Freund in die Augen sah.
Er seufzte, scheinbar erleichtert, dass ich ihn anhörte. Wie konnte ich auch nicht? Er war wieder hierhergekommen, hat sich in die Burg geschlichen, nur um sich zu rechtfertigen. Was auch immer er zu sagen hatte, musste wichtig sein. Sonst hätte er es nicht riskiert hier erwischt zu werden.
Hatte er mich doch erkannt? Oder wollte er über etwas ganz anderes sprechen?
Ich musste es wissen.
„Okay... äh... ich weiß nich' ganz, wo ich anfangen soll", sagte er nervös, während er sich leicht an den Haaren zog. Ich hielt meine Arme weiterhin verschränkt vor der Brust.
Erast machte ein paar Versuche etwas zu erzählen, doch hörte immer auf halbem Weg auf.
Irgendwas stimmt hier nicht.
Er knurrte verzweifelt, bevor er in schnellen Schritten auf mich zukam und mich an den Oberarmen packte.
„Du... Du kennst mich", sagte er atemlos.
Mein Stirnrunzeln vertiefte sich. Ich konnte mir ganz gut vorstellen, wie mein Gesicht in diesem Moment aussehen musste – meine Augen, die in dünnen Schlitzen auf ihn herabblickten, Mundwinkel so weit nach unten gezogen, wie es nur ging. Nicht zu vergessen, wie ich meine Arme immer noch schützend vor meinem Körper hielt.
Ich machte keinen freundlichen Eindruck, aber das machte ich ja nie. Es war noch ein Grund, warum ich mir so sicher sein konnte, dass der Mann vor mir Erast war. Er war der Einzige, der sich in dieser Situation so nah an mich herantrauen würde.
„Allerdings", sagte ich kühl, „schön, dass dir das auch endlich ma' auffällt."
Er schüttelte nur den Kopf, so als könnte er es nicht fassen.
„Aber das war bestimmt nich' alles, was du sagen wolltest, oder?"
Langsam ließ er meine Arme los und sprach. „Was du heute gesagt hast, wegen meinem Namen..."
„Jetz' mal ehrlich, was hast du dir eigentlich dabei gedacht?!" knurrte ich förmlich.
Es war mir egal, ob ich ihn unterbrochen hatte. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass er seinen Namen einfach abgelegt hatte.
„Ich hab' mir gar nichts gedacht!" platzte es aus ihm heraus, bevor er in einem flüsternden Ton weitersprach, „ich hab' mir gar nichts dabei gedacht, weil ich ihn nich' kenne."
Mein Atem stockte und ich ließ meine Arme schlaff an meine Seiten fallen.
„Ich weiß nich' wie ich heiße oder wer ich überhaupt bin. Ich weiß nich' wo ich herkomme oder was vor sechs Jahren genau passiert is'."
Ich rang nach Luft, überfordert mit den Informationen, mit denen er mich bewarf.
„Ich weiß auch nich' wer du bist... Aber du bist der Einzige, der sich an mich erinnert, also bitte... bitte, sag mir wer ich bin."
Flehend beendete er seinen Monolog, doch ich brauchte noch Zeit, um alles zu verarbeiten. All die Jahre hatte ich gehofft, dass er irgendwie davongekommen war, doch ich hatte nie darüber nachgedacht, was das für ihn bedeuten würde oder was das für Auswirkungen haben würde.
Er ist nicht davongekommen.
Ich musste es mir wohl oder übel nochmal ins Gedächtnis rufen. Erast war damals nicht entkommen. Ihm war das gleiche passiert wie seinen Eltern und Vana. Ein eigentliches Tabu unter magischen Wesen... und auch noch so brutal. Ohne Grund. Ohne Sinn und Zweck.
Entgegen allen Erwartungen stand er jetzt allerdings vor mir – lebendig. Und doch fehlte ihm fast alles, was ihn ausmachte.
Es war mir nicht aufgefallen, als ich ihn heute Nachmittag gesehen hatte, aber jetzt? Die Art, wie er sich auf den Beinen hielt – so viel unsicherer, als ich es je an ihm gesehen hatte... fast ängstlich. Seine Schultern waren gekrümmt, als wäre er ein kleiner Schwächling, der hinter jeder Ecke eine Gefahr fürchtete.
Er hatte zwar überlebt, aber zu welchem Preis?
Mit einem Kopfschütteln scheuchte ich meine Gedanken fort. Jetzt war nicht die Zeit zum Herumgrübeln.
„Du-"
Ein lautes Klopfen erklang an meiner Zimmertür. Erschrocken fuhr ich herum.
„Moment", rief ich genervt.
Ich griff Erast am Handgelenk. Schnell zerrte ihn mit mir und platzierte ihn neben der Tür, sodass er, wenn ich sie öffnete, zwischen ihr und der Wand versteckt sein würde. Mit einem Finger vor den Lippen signalisierte ich ihm, dass er leise sein sollte. Nach einem Nicken seinerseits, setzte ich mir einen neutralen Gesichtsausdruck auf und öffnete die Tür.
Vor mir stand ein Gargoyle mit kurzen braunen Haaren. Er war etwas größer als ich, mit einer eher silbergrauen Hautfarbe im Gegensatz zu Loics Asche. Wie so viele hier, kannte ich den Kerl vom Sehen, aber hatte mir nie die Mühe gemacht nach seinem Namen zu fragen.
„Gut, du bist noch wach", murmelte er, bevor er in einem normalen Ton weitersprach, „ich soll dir Bescheid sagen, dass wir morgen aufbrechen."
Verwirrt hob ich eine Augenbraue. Ich war doch noch nicht einmal richtig Teil der Bruderschaft und sollte schon irgendwohin mitgehen? Was hatte Altair da nun wieder in die Wege geleitet?
„Äh, okay. Und wohin soll's gehen?" fragte ich ihn mit soviel Interesse, die ich gerade aufbringen konnte. Und das war nicht viel.
„Nord-westlich von hier. Da is' 'ne riesige Festung, die uns einige Probleme bereitet. Hauptsächlich Menschen, aber wir mussten uns letztens trotzdem zurückziehen. Diesmal sind wir allerdings besser vorbereitet."
Ich nickte ein paar Mal abwesend. Mit einem leisen ‚morgen früh geht's los' verschwand der Gargoyle wieder und ließ mich endlich allein. Oder so dachte er zumindest.
Mit einem tiefen Knarren fiel die Tür zu und ich sah zu Erast, damit wir unser Gespräch fortzuführen konnten. Doch anstatt mich neugierig anzugucken, starrte der Drakonier mit weit aufgerissenen Augen auf den Boden.
Ich öffnete meinen Mund, um ihn zu fragen was los war, doch er sprach schon los.
„Ihr wart das", flüsterte er ungläubig.
Sein Blick wanderte an mir hoch, bis er mir direkt in die Augen sah.
„Der Angriff auf Schloss Maera. Das wart ihr?"
„Anscheinend", antwortete ich automatisch.
Erast sah mich eine ganze Weile lang einfach nur an. Die Stille um uns herum war erdrückend. Wäre es jemand anders gewesen, hätte ich das leicht kleinspielen können, doch mit ihm war alles etwas schwieriger.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schob er sich von der Wand weg und lief wieder ans Fenster.
„Wo willst du hin?" knurrte ich fassungslos.
Der Drakonier stoppte mit einem Fuß auf der Fensterbank.
„Ich muss sie warnen", murmelte er undeutlich, ohne sich zu mir zurückzudrehen.
„Du hast dich extra hierher geschlichen, damit ich dir erzähle, wer zum Donnerwetter du bist und jetzt willst du verschwinden, ohne irgendwas erfahren zu haben?!"
Ich verstand es nicht. Vor ein paar Minuten war es ihm noch so wichtig gewesen, herauszufinden wer er war und jetzt wollte er schon wieder gehen? Was sollte das?!
Erast sah über seine Schulter. Seine grünen Augen leuchteten giftig.
„Ich werde sie vor eurem Angriff warnen. Du kannst mich nich' aufhalten."
Zum ersten Mal sah ich wieder den jungen Drakonier vor mir, mit dem ich meine halbe Kindheit verbracht hatte. Zum ersten Mal heute sah ich meinen besten Freund. Den gutherzigen Dickschädel, der immer alles von sich gab, um anderen zu helfen. Alles schön und gut, solange du ihm nicht im Weg standst...
Ugh... da hatte ich doch tatsächlich fast vergessen, was für ein riesen Stück Arbeit er damals war.
„Ich mache nich' gerade Anstalten dich aufzuhalten, oder?" sagte ich zu ihm, „außerdem bist du derjenige, der was von mir wollte."
„Ich weiß, aber ich darf keine Zeit verlieren."
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