Kapitel 10
Lorelei
Tressa und ich standen noch immer vor dem Anwesen und besprachen, wie wir weiter vorgehen sollten.
"Es wird spät. Wir sollten für heute hier bleiben und im Anwesen übernachten", schlug Tressa vor und ich stimmte ihr mit einem Nicken zu.
Aus meinem Augenwinkel sah ich, dass Vivi aus dem Anwesen gekommen war. Neben ihr stand ein kräftiger Mann mit kurzen, roten Locken, welche jetzt in der Nachmittagssonne kupfern glänzten. Seine Statur glich stark der von Barl – groß und muskulös. Es musste schwer gewesen sein, ihn festzunehmen.
Die zwei tuschelten intensiv untereinander. Vivi hatte ihm eine Hand auf die Wange gelegt, worauf er sich scheinbar etwas beruhigte. Sie standen noch kurz dort, kamen dann aber endlich zu uns herübergelaufen und ich wandte mich ihnen ganz zu.
"Prinzessin", sagte Vivi, als die zwei bei uns angekommen waren, "Ich würde Euch gerne meinen Freund vorstellen. Ciel Lauces."
Er war fast zwei Köpfe größer als ich, stellte ich fest.
Lächelnd sah zu ihm herauf, um ihn zu grüßen, doch mein Atem stockte plötzlich und ich riss überrascht meine Augen auf.
Seine Augen. Sie waren,... um es mild auszudrücken, äußerst ungewöhnlich.
Anstatt Pupillen und Iriden besaß dieses magische Wesen ein, sich bewegendes, tiefrotes Wirbeln. Noch nie hatte ich etwas vergleichbares gesehen. Meine Haare sträubten sich von dem erschaudernden Anblick.
Langsam zerrte ich meinen Blick von seinen Augen weg und sah zu Dorean hinüber, der mit ein paar der anderen Soldaten plauderte. Die meisten kannten Dorean aus dem Schloss und schienen jetzt recht neugierig zu sein. Ich nahm das als einen Fortschritt – ein gutes Zeichen.
"Dorean", rief ich, laut genug, sodass er mich auch hören würde. Als er sich zu mir umdrehte winkte ich ihn her, woraufhin er, ohne jemand anderem Beachtung zu schenken, zu mir herüber lief. Er stellte sich neben mich und legte fragend den Kopf schief.
"Was is' denn?"
Schweigend zeigte ich auf das mir unbekannte magische Wesen und beobachtete, wie Doreans grüne Augen von meinem Finger zu Ciel aufsahen.
Dorean schnappte nach Luft und riss ebenfalls überrascht die Augen auf. Dann, ohne ein Wort, drehte er sich um und lief davon.
Ich war mir nicht sicher, was ich aus seiner Reaktion schließen konnte. Wenige Moment später, kam er jedoch mit Nuras Brüdern wieder.
Sie reagierten genau wie Dorean, schnappten nach Luft und sahen den Rotschopf mit großen Augen an. Aber wo in den Gesichtern der Menschen sicherlich Furcht geschrieben war, las ich bei ihnen so etwas wie Staunen.
"Man", stieß der mittlere Bruder, Casat, aus, "Wer hätte das gedacht."
Sowohl seine zwei Artgenossen, als auch Dorean nickten. Ich sah nur zwischen den Vieren hin und her. Irgendwann fing Dorean dann doch endlich meinen Blick wieder ein.
"'N Seher", war alles, was er sagte und ehrlich gesagt, brauchte er da auch nichts hinzuzufügen.
"Hammer!", rief Lyen plötzlich und riss alle aus ihrer Starre. Der jüngste Bruder der Nixen ging ein paar Schritte auf den Seher zu und griff nach seiner Hand. "Krass! Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals 'nen Seher seh'n würde."
Der Seher sagte nichts. Nun schien er in einer Art Starre zu sein. Wie eingefroren, stand er da und sah zu dem Jungen herunter, der ihn mit einem Grinsen ansah und kicherte.
"Das muss Nura sehen", meinte Lyen aufgeregt und lief sofort los, um seine große Schwester zu holen.
Ich schluckte ein paar mal. "Ich bin ehrlich gesagt etwas sprachlos", sagte ich endlich und sah dann lächelnd zu Vivi, welche ein nervöses Lächeln auf den Lippen trug, "Nun verstehe ich, warum du es uns nicht verraten wolltest."
Dann sah ich wieder zu dem Seher. "Bitte entschuldige unser unhöfliches Starren."
Er schüttelte schnell den Kopf. "Nicht doch", meinte er. Seine Stimme war bei weitem nicht so tief wie die brummende Stimme von Barl. Es stellte einen schönen Kontrast zu seinem Körper her.
"Ich habe Schlimmeres erwartet", fügte er hinzu und ich sah ihn fragend an, "Alle meine... ersten Begegnungen sind nicht besonders gut ausgegangen."
Er sagte nichts weiter dazu und ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt lieber nicht nachhaken sollte... Auch wenn ich das unbedingt wollte.
Endlich gesellten sich Lyen und Nura zu uns. Nura musterte Ciel eine Weile und stieß dann einen langen Pfiff aus.
"Na, das ging schnell", sagte sie mit ihrer kratzigen Stimme.
"Was ging schnell?", fragte der Seher stirnrunzelnd.
Die Nixe gab ihm ein schiefes Lächeln. "Dich zu finden."
Ciel und Vivi sahen jetzt nur noch verwirrter aus, deshalb fing ich an zu erklären.
"Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, dabei zu helfen, dass die Prophezeiung erf-"
Ich wurde von einem lauten Knall unterbrochen. Die Eingangstür war wieder mit voller Kraft aufgerissen und an die Hauswand geprallt worden. Cait stand aufgewühlt in der Tür. Aus ihrem blonden Zopf fielen ein paar kürzere Strähnen auf ihre Schulter und sie hatte ihre Augen weit aufgerissen.
"Der Verletzte ist fort!", rief sie zu uns herüber.
"WAS?!", knurrte Nura und raufte sich die Haare, "Argh, das kann doch nich' wahr sein."
"Geht es ihm denn schon so viel besser? Ist das nicht gut?", fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. "Ne, das is' gar nich' gut. Ja, ich hab' das meiste geheilt, aber darum geht's nich'."
"Warum wolltest du ihn denn dann hier behalten? Die zwei Strix haben wir doch auch gleich gehen lassen."
"Weil er 'n Naja is'. Deshalb!"
"Naja?", wiederholte Ciel und Nura nickte knapp.
Ich musste kurz überlegen, verstand dann aber genau, was sie meinte und sprach den Teil der Prophezeiung laut aus.
"Wilde Schlange, gefangen und gebrochen..."
Nura nickte. Ciel und Vivi tauschten ein paar verwirrte Blicke aus, bis sich Vivi letztendlich räusperte.
"Ähm", fing sie an, "ich komme nicht ganz mit. Was ist denn ein Naja und was hat er mit der Schlange in der Prophezeiung zu tun?"
Ich seufzte. Es sah so aus, als hätten wir vieles zu besprechen.
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