Kapitel 6

Lorelei

Der Bürgermeister wartete vor dem Rathaus. Als wir endlich dort ankamen schenkte er mir ein nervöses Lächeln.

"Ich muss jetzt los", sagte Rita und begann wegzulaufen, aber dann hielt sie abrupt an und drehte sich zu mir um. "Komm zu mir bevor du gehst!"
Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte mir wieder den Rücken zu und lief davon.
Gehen? Was meint sie? 

Ich sah ihr hinterher, bis sie komplett aus meinem Blickfeld verschwunden war. Dann wandte ich mich dem Bürgermeister zu.

"Ich bin ja so erleichtert, dass Ihr wohlauf seid, Prinzessin", sagte er seufzend. Er sah müde aus. Zusammen mit seinen vielen grauen Haaren, lies ihn das recht alt aussehen. Es gab keinen Zweifel daran, dass er mit der Situation überfordert war. Das war ich ebenfalls. "Ich weiß gar nicht was geschehen ist", fuhr er fort, "erst fingen alle an zu schreien und dann brach das Feuer aus... Als käme es aus dem Nichts." Er seuftzte erneut und legte dabei eine Handfläche gegen seine Stirn.

Ich überlegte, ob ich ihm erzählen sollte was geschehen war, aber da er die Dämonen selbst nicht gesehen hatte... Es wäre wohl besser, wenn ich nichts weiter dazu sagen würde. Ehrlich gesagt, war ich mir selbst nicht sicher, ob ich verstand was wirklich vorgefallen war.

"Wissen Sie..." Ich zögerte die Frage zu stellen, aber ich musste es tun. "Wie viele Menschen... gestorben sind?"

Traurig schüttelte er den Kopf. "Nein, noch nicht. Das wird eine Weile dauern. Ich muss jedoch sagen, dass ich etwas recht eigenartig finde."

"Was meinen Sie?"

"Mit der großen Menge an verletzter Menschen, müsste der Schaden an den Straßen und Häusern nicht größer sein?"

"Ich verstehe." Vielleicht, weil die Dämonen gezielt die Leute angegriffen haben. "Wie kann ich helfen?"

"Ach Prinzessin, ich hatte gedacht, dass Ihr... wie soll ich sagen, die Nachricht dem König überliefern könntet? Man hat vielleicht etwas Rauch vom Schloss aus sehen können aber jemand sollte trotzdem Bericht erstatten."

Er sah mich, mit großen, grauen Augen, bettelnd an. Jetzt machten Ritas Worte Sinn.

Ich wollte Aphillia nun wirklich nicht verlassen aber ich wusste, dass es das Beste war, was ich tun konnte. Jemand musste gehen und den König wissen lassen, was passiert war. Am besten jemand, der auch alles gesehen hatte. Außerdem würde mein Vater erleichtert sein, mich wohlauf zu sehen und es nicht von irgendjemanden zu erfahren. Er machte sich schnell Sorgen. Schließlich war ich sein einziges Kind und somit sein einziger Thronerbe. Ich nickte dem Bürgermeister zu und sagte ihm, dass ich noch am selben Tag aufbrechen würde.

Nachdem ich mich schnell von ihm verabschiedet hatte, lief ich zur Gaststätte und hoch in mein Zimmer. Ich packte etwas Proviant ein, aber entschied das meiste meiner Sachen dort zu lassen. Dann warf ich mir die Tasche über die Schultern. Bevor ich ging, schrieb ich Madeleine eine kleine Nachricht, um sie wissen zu lassen, dass ich für eine Weile die Stadt verlassen würde. Ich bat sie außerdem auf den Rest meiner Sachen aufzupassen.

Ich lief in der Stadt umher und suchte Rita. Normalerweise konnte man sie entweder in der Bäckerei ihrer Eltern oder in der Nähe des Stadtplatzes finden. Als ich sie an beiden Orten nicht fand, fiel mir ein, dass sie bestimmt den anderen Bürgern half.

Sie trug gerade eine Kiste mit Heilmitteln, als ich sie endlich fand.

"Rita!" rief ich und sie drehte sich zu mir um.

"Ah, Lori", sagte sie überrascht. Dann fiel ihr meine Tasche auf. "Also, machst du dich jetzt auf den Weg?"

"Ja. Ich muss mit meinem Vater sprechen, aber das wusstest du bestimmt schon, oder?"

"Ich hatte so ein Gefühl", antwortete sie und legte die Kiste auf dem Boden ab. "Ich hatte gehofft, dass wir mehr Zeit miteinander haben würden."

"Das hatte ich auch." Ich überlegte kurz und sprach dann in einem fröhlicheren Ton weiter. "Ich verlass euch aber nicht für immer. Schließlich habe ich noch das meiste meiner Sachen bei Madeleine."

Rita runzelte die Stirn. Sie glaubte mir offensichtlich nicht. Um ehrlich zu sein, war ich mir da selbst auch nicht mehr sicher. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr musste ich ihr zustimmen.

Ich war auf dem Weg meinem Vater, dem König, zu sagen, dass nach dem Erdbeben auch noch Dämonen Aphillia angegriffen hatten. Selbst wenn ich nicht für verrückt erklärt werden würde, dann würde ich das Schloss erstmal nicht verlassen dürfen. Nicht wenn die Gefahr bestand, dass sie wieder kommen könnten.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Rita etwas über ihre Schulter rief. Dann sah sie mich mit einem zaghaften Lächeln an.

"Ich muss los. Sie brauchen die Heilmittel", sagte sie, trat etwas näher und umarmte mich. Ich schlang meine Arme um ihren Rücken und drückte sie an mich. Es war eine normale Geste zwischen Freunden, aber als Prinzessin hatte ich mit so etwas nur wenig Erfahrung. Es fühlte sich schön an. Nein, mehr als das. Es fühlte sich fantastisch an. Am liebsten, hätte ich nie wieder losgelassen, aber leider musste ich das irgendwann.

"Pass auf dich auf", flüsterte Rita mir zu bevor sie mich losließ. Sie lächelte, aber ich konnte sehen wie sich Tränen in ihren Augen bildeten. Ich lachte und versuchte meine eigenen Tränen zu verbergen.

"Das werde ich. Pass du auch auf dich auf."

Und damit machte ich mich auf den Weg zum Schloss.

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