Kapitel 36 - Finale
Lorelei
Mein Blick wanderte über die Trümmer, die mich umgaben – von den teilweise zerstörten Schlossmauern, zu den ehemals hohen, stabilen Stahltoren, die nun nutzlos auf dem Boden lagen.
Noch immer kniete ich neben dem regungslosen Körper meines Vaters und spürte wie der helle Stoff meiner Hosenbeine die tiefrote Farbe seines Blutes annahm.
Meine Aufmerksamkeit war nun jedoch auf meine Hände gerichtet, welche immer noch auf die tiefe Wunde drückten. Getränkt in der noch warmen Körperflüssigkeit, konnte ich sie kaum erkennen. Ich sah nur Blut. Viel zu viel Blut.
So sehr, wollte ich glauben, dass das alles nur ein böser Traum war. Dass das Schloss nicht angegriffen und zerstört worden war. Dass mein Vater noch am Leben war.
Doch egal wie sehr ich es mir auch wünschte, der Schmerz, den ich spürte, war viel zu groß, um nur Einbildung zu sein. Wäre das ein Traum gewesen, wäre ich nämlich schon längst schreiend aufgewacht.
Ich wusste nicht, wann meine Tränen wieder begonnen hatten zu fallen, oder ob sie überhaupt jemals aufgehört hatten.
Verschiedene Personen kamen und sprachen auf mich ein. Zuerst Tressa, die mich bat aufzustehen und mir sagte, dass wir nicht länger hier verweilen sollten.
Nicht länger? Wie lange waren wir denn schon hier?
Ich tat was sie sagte, aber gab weder Antwort, noch sprach ich die Frage in meinem Kopf aus.
„Prinzessin!" rief mich jemand, „Prinzessin, wo seid Ihr?"
„Hier!" antwortete ich automatisch. Ich war natürlich im Garten. Wenn ich nicht in der Bibliothek, oder in meinen Gemächern war, war ich doch immer hier.
Eine der neuen Soldaten kam auf mich zugelaufen. Tessa... Nein, Tressa. Genau, so hieß sie.
„Prinzessin, das ganze Schloss sucht nach Euch."
Ich sah überrascht zu ihr hoch. „Ich war die ganze Zeit hier."
„Vielleicht solltet Ihr wenigstens jemandem Bescheid geben, wo ihr euch aufhaltet. Euer Vater sucht Euch."
Sie sah zu mir herunter, wo ich vor einem kleinen Beet kniete. Ich sah zu der Blume herunter, die ich vor ein paar Wochen dort eingepflanzt hatte.
„Sie fühlt sich hier nicht wohl", erzählte ich Tressa, „ich muss sie umpflanzen, aber ich weiß nicht wohin."
Wir waren beide kurz still, bis Tressa sagte: „Hier bekommt sie den ganzen Tag lang Sonne, vielleicht würde sie sich im Schatten wohler fühlen."
Ich ließ mir ihre Worte kurz durch den Kopf gehen und wie es der Zufall wollte, fiel mir dann auch gleich der richtige Platz ein.
Tressa half mir tatkräftig beim Umpflanzen. Als wir endlich fertig waren, brauchten wir beide dringend ein Bad, doch Tressa brachte mich erst zu meinem Vater. Er war böse, dass ich für so lange Zeit verschwunden war.
„Aber es war wichtig, die Blume umzupflanzen", versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Lorelei, es ist so ein großer Garten, mit so vielen Pflanzen. Warum machst du dir, um eine einzige, so viele Sorgen?" fragte er.
„Weil es die ist, die du mir geschenkt hast, Vater."
Irgendwann hörte ich Renos Stimme, die mich aufforderte, mich zusammenzureißen.
Aber wie? Das Schloss, mein Zuhause, war größtenteils zerstört und mein Vater tot, wohin sollte ich gehen? Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Wie sollte das Volk von Maera an eine Königin glauben, die nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie tat? Wie sollte ich das alles nur bewältigen?
„Der Junge... ähm... masch-, nein... mar-schier-te davon und der... Klang seiner Trom-mel, ha-l-te... hallte durch das ganze Ko-... Königreich."
„Sehr gut Lorelei", lobte Reno mich. Ich grinste ihn glücklich an. Das war das erste Mal, dass ich eine Geschichte alleine, ohne Renos Hilfe, gelesen hatte. Ich war so stolz.
Kurz darauf, kam mein Vater schon in die Bibliothek.
„Lorelei, komm, es wird Zeit ins Bett zu gehen."
„Vater!" rief ich, während ich ihm, mit meinem kleinen Körper, in die Arme sprang, „ich habe ganz allein eine Geschichte gelesen."
Reno stand von seinem Platz auf und reichte meinem Vater das dünne Büchlein.
„Oh, ist das eine der neuen Geschichten?" fragte er und Reno nickte. Daraufhin bekam ich eine super Idee.
„Vater, du brauchst mir heute keine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen", begann ich. Als mein Vater mich perplex ansah, fuhr ich fort. „Heute möchte ich dir eine vorlesen."
„Lorelei."
Es war Doreans Stimme, die mich erstmals wirklich erreichte. Sie erklang leise, irgendwie schwach, als wäre sie weit von mir entfernt. Doch so unsicher sie auch war, sie nahm mir einen kleinen Teil meiner Verzweiflung.
Dorean. Die Person, die mich allein mit den neuen Ereignissen verband und nicht mit den Vergangenen... Nicht mit meinem Vater.
Der Gedanke an Dorean zerrte mich aus der entfernten Vergangenheit und gab mir die Möglichkeit, meine Konzentration erneut auf das Jetzt und Hier zu lenken.
Ich sah zu ihm hoch. Scheinbar war er von meiner Reaktion sehr überrascht, denn er sah mich mit weit aufgerissenen, grünen Augen an.
Auf den ersten Blick sah ich, dass wir in einem Zimmer waren, jedoch nicht im Schloss, dafür war es zu klein und einfach gestaltet.
Auf den zweiten Blick verstand ich jedoch sofort, wo wir waren. Wir waren im Gasthaus von Madeleine, in Aphillia.
Wie waren wir denn hierhergekommen? War ich so tief in meinen Erinnerungen versunken gewesen, dass ich das alles wirklich nicht mitbekommen hatte?
Genug! Jetzt reiß dich zusammen, Lorelei!
Ich stand ruckartig auf.
„Die andern sind unten", sagte Dorean, während er mir aus dem Zimmer folgte. Aber mein gewonnener Mut verließ mich schnell wieder und ich stoppte schon vor den Treppen.
Wie viele Menschen sind diesmal umgekommen? In welchem Zustand ist das Schloss?
Ich hatte Angst vor den Antworten.
Dorean nahm eine meiner zitternden Hände und führte mich sacht die Treppe hinunter. Mein Blick huschte kurz zur Rezeption, von wo aus mir Madeleine ein kleines, aufmunterndes Lächeln entgegenwarf.
Wir gingen weiter ins Gemeinschaftszimmer der Hausgäste, wo die anderen auf dem Sofa und Sesseln saßen. Alle drehten sich zu uns um, als Dorean die leicht knarrende Holztür öffnete und mich hinter sich hereinzog.
„Lorelei!" rief Reno erleichtert. Er trug, wie so oft, seine cremefarbene Robe, der man nun aber ansah, dass sie einiges durchgemacht hatte. Aus seinem blonden Zopf fielen ein paar dünne Strähnen in sein Gesicht und er schob sie sich mit einer Hand wieder hinter die Ohren.
„Ihr müsst besorgt um mich gewesen sein, Entschuldigung."
Reno schüttelte den Kopf. Danach meldete sich Tressa zu Wort.
„Ich möchte nicht drängeln, aber es gibt vieles zu besprechen."
Ich nickte widerwillig. Dann setzten Dorean und ich uns zu den anderen in die Runde.
Reno, Tressa, Mark, Lucas, Cait, Milo und eine Hand voll anderer Soldaten, die ich aus dem Schloss erkannte, waren hier versammelt. Sie alle trugen ein kleines Lächeln auf den Lippen, doch schienen auch äußerst angespannt zu sein.
„Das Schloss..." begann ich.
„Ist zum Teil zerstört. Es wird eine Weile dauern, aber die Reparaturarbeiten haben schon begonnen", erzählte Reno. Anschließend begann Tressa, mir über alles andere zu berichten.
„Bei dem Kampf sind einige unserer Leute gefallen, aber dank eines..." sie warf Dorean einen kurzen Blick zu, „glücklichen Vorfalls, haben sich unsere Gegner zurückgezogen."
Ich sah Dorean an, der ein nervöses Lächeln auf den Lippen trug. Später würde ich ihn fragen müssen, was wohl mit diesem ‚glücklichen Zufall' gemeint war.
„Aber das ist nicht der Punkt", meinte Tressa und tauschte mit Reno einen besorgniserregenden Blick aus.
„Was ist denn das Problem?" fragte ich die zwei.
Während meiner Frage, bemerkte ich jedoch erst, dass hier noch jemand fehlte. „Und was ist mit Barl?"
Tressa fuhr sich mit den Händen durch ihre braunen, kurzen Haare und Reno presste seine Lippen zusammen, mit seinem Blick stur auf den Boden gerichtet.
Es war Dorean, der mir antwortete.
„Er is' das Problem."
------ ENDE VON GESPALTENE WELTEN ------
------ Fortsetzung folgt in "Der Strom des Lebens II: Waffenbrüder" ------
HIMMEL! Ich hätte nie gedacht, dass ich hier jemals ankomme. Ihr, die dieses Buch gelesen und unterstützt habt, vielen Dank an euch alle! 😘❤️
Ich hoffe, ihr schaut auch mal im nächsten Buch vorbei. (Es wird nämlich nur noch besser 😉)
Würde mich, auf jeden Fall, unheimlich freuen.
Danke nochmal und bis denn,
Eure MarSuu 💋
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