Kapitel 15
Lorelei
„Drakonier?" fragte Dorean erstaunt, „nich' mehr Dämonen?""
Ich nickte. „Ja, laut eines Buchs in unserer Bibliothek werden sie so genannt. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Drachen."
„Drachen", murmelte er.
„Ja, die mythischen Kreaturen, wie aus der Geschichte ‚Der Schatz des Drachen'. Der Abenteurer, der gegen eine gigantische, feuerspeiende Kreatur kämpft?"
Dorean runzelte die Stirn. Es sah so aus, als kannte er diese Geschichte nicht. Eigenartig...
„Ich dachte jeder würde diese Geschichte kennen. Sie ist schließlich eine der meist erzählten Kindergeschichten. Es ist schlicht unmöglich, dass du sie nicht kennst."
Doreans Blick war auf den Boden fixiert und sein Körper wie eingefroren. Ich hatte nicht gedacht, dass es ihn dermaßen stören würde. Vielleicht hätte ich Letzteres nicht sagen sollen.
„Es tut mir leid", sagte ich schnell, in der Hoffnung, dass das ausreichen würde. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Es waren allerdings seine nächsten Worte, die mich vollkommen sprachlos machten.
„Ich..." Seine Stimme überschlug sich. Dann schloss er seine Augen und atmete einmal tief ein und aus. „Ich kann mich an nichts aus meiner Kindheit erinnern. Selbst wenn ich sie früher gehört hätte, wüsst' ich's jetz' nich' mehr."
Wenn ich mich vorhin schon schlecht gefühlt hatte, fühlte ich mich jetzt noch viel schlimmer. Ich wusste, ich hätte mich davon abhalten sollen „Nichts?" zu fragen, doch es kam zu schnell aus mir heraus. Meine Angewohnheit zu viele Fragen zu stellen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich davon abzuhalten noch mehr Fragen zu stellen, wie beispielsweise ‚Wie kommt das?', ‚Was ist das erste, an das du dich erinnerst?', ‚Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt?' und die eine Frage, die ich wirklich stellen wollte. ‚Was ist mit deiner Familie?'
„Nichts", bestätigte er und sah zu mir herüber. Dann lachte er kurz auf. „Guck nich' so traurig. Das is' schon okay."
„Das ist schon okay?" wiederholte ich überrascht.
Dorean lächelte und die Trauer, die ich gerade noch gesehen hatte, verschwand fast komplett aus seinem Gesicht. „Ja, ich hab' meine Erinnerungen schon längst aufgegeben. Und ich kann nich' wirklich traurig über etwas sein, an das ich mich nich' erinnern kann."
Das alles ließ mich an meine Gefühle für meine Mutter denken. Ich hatte sie nie kennengelernt, also konnte ich sie nicht vermissen. Da ist nur diese Sehnsucht nach dem was gewesen sein könnte. Dorean musste sich ähnlich gefühlt haben.
„Nun gut", sagte ich energetisch und stand auf, „Wie wäre es, wenn wir in die Bibliothek gehen und ich dir das Buch zeige?"
„Okay."
In der Bibliothek herrschte das reinste Durcheinander. Bücher lagen kreuz und quer verteilt und Reno saß im Zentrum des Ganzen.
„Es ist üblicherweise nicht so... chaotisch", sagte ich schnell zu Dorean und ging auf Reno zu. Er war in ein Buch vertieft aber sah auf, als ich mich ihm näherte.
„Oh, Hallo", grüßte er und sah Dorean mit großen Augen an, „was für eine Überraschung. Dorean, nicht wahr? Ich bin Reno. Entschuldigt, wenn ich unhöflich bin, aber ich habe viel zu recherchieren."
„Wir wollen dich gar nicht von deiner Arbeit abbringen. Ich wollte nur noch einmal einen Blick in das Buch ‚Der Schatz des Drachens' werfen. Weißt du wo es liegt?" Ich habe den Grund bewusst weggelassen. Dorean wollte bestimmt nicht, dass jeder von seinen fehlenden Erinnerungen erfährt. So würde ich mich jedenfalls fühlen.
„Hmm... Ja, es müsste da auf dem Tisch liegen, wo wir es letztens gelesen haben."
„Dankeschön."
Ich sah zu Dorean und bat ihn mir zu folgen. Zum Glück musste ich nicht lange suchen. „Hier ist es." Dorean setzte sich neben mich an den Tisch und sah sich den Einband an. Ich legte das Buch vor ihm auf dem Tisch ab und ließ ihn in Ruhe lesen. Währenddessen nahm ich die Gelegenheit, um mir sein Gesicht mal etwas genauer anzusehen. Ich bemerkte ganz leichte Sommersprossen auf seiner Nase, die man sehr leicht übersehen konnte. Er besaß außerdem ungewöhnlich lange Wimpern für einen Mann. Dann dachte ich mir, wenn man ihn etwas herausputzen würde und ihm einen Haarschnitt verpassen würde, sähe er... Nein, auf keinen Fall. Diesen Gedanken verbannte ich ganz schnell aus meinem Kopf.
Als er fertig war, schloss er das Buch und sah mich an.
„Naja, is' 'ne nette Geschichte. Vielleicht 'n bisschen weit hergeholt."
„Ja, das glaube ich auch." Ich schmunzelte. „Weißt du, Reno denkt, dass diese Höhle wirklich existiert."
„Echt?"
Ich nickte. „Ja, er hat mir Bilder von einer Höhle aus Eis gezeigt, die es in den Nördlichen Gebieten geben soll. Es mag ja sein, dass sie tatsächlich real ist, aber, dass ein Drache darin leben soll ist absurd. Jemand muss die Höhle gesehen haben und dann seiner Fantasie freien Lauf gelassen haben." Ich lachte leise vor mich hin.
Dorean antwortete nicht. Er starrte nur stur das Buch an.
„Was ist denn?"
Er blieb erst still, aber fing dann an langsam zu sprechen. „Die Geschichte muss alt sein."
„Ja, sie wurde aus einer der alten Sprachen übersetzt, aber selbst das muss schon lange her sein."
Darauf murmelte Dorean etwas vor sich hin. Ich hatte nicht verstanden was, also fragte ich nach.
„Was wär'", wiederholte er etwas lauter, „wenn der Drache da drin' kein Drache sein sollte."
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Du meinst, dass es einen Fehler bei der Übersetzung gegeben haben könnte?"
Er nickte. Ich wusste nun worauf er hinauswollte, aber ich wartete dennoch, bis er es in Worte fasste.
„Waswär', wenn's im Original nich' Drache hieß, sondern Drakonier?"
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