Kapitel 10

Lorelei

Es war bereits Mittag, als ich aufwachte. Ich musste wirklich erschöpft gewesen sein, um so lange zu schlafen. Kein Wunder, es war schließlich auch ein ereignisreicher Tag gewesen. Ich stand auf und ging zu meiner Garderobe. Alles war so wie ich es hinterlassen hatte. Meine Klamotten waren ordentlich nach Farbe und Jahreszeit sortiert.

Für meinen ersten Tag zurück im Schloss, entschied ich mich für eines meiner Lieblingskleider. Es war ein langes, schulterfreies, marineblaues Kleid mit langen Ärmeln, welche mit Spitze bestickt waren. Ich schlüpfte schnell hinein und band mir meine schwarzen Locken zu einem Dutt zusammen.

Ich überlegte, ob ich etwas Schmuck anlegen sollte. Das tat ich immer, aber, so wie immer, entschied ich mich dagegen. Ich habe es nie besonders gemocht Schmuck zu tragen und doch gab es ein Schmuckstück, das ich niemals abnahm. Es war eine wunderschöne goldene Kette mit einem ovalen Anhänger, indem ein weißer Stein eingebettet war. Sie hatte einst meiner Mutter, Königin Diona, gehört. Ich hatte sie nie kennengelernt. Mein Vater sagte, dass sie kurz nach meiner Geburt gestorben war. Anscheinend war sie davor schon krank gewesen, aber meine Geburt hatte ihr wohl den Rest gegeben.

Es war schwierig mit diesem Gedanken aufzuwachsen. Ich hatte mich schuldig gefühlt. Oft hatte ich mich gefragt: 'Was wäre, wenn sie nicht mit mir schwanger geworden wäre? Wäre sie dann noch am Leben?'

Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass es keinen Sinn machte mich über etwas zu ärgern, das schon längst geschehen war. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Vergangenheit zu akzeptieren.

Dann, an meinem vierzehnten Geburtstag, schenkte mir mein Vater diese Kette. Natürlich hatte meine Mutter noch andere Sachen hinterlassen, aber ich erkannte diese Kette von all den Gemälden, die im ganzen Schloss verteilt waren. Meine Mutter hatte sie in jedem einzelnen getragen. Ich hatte nie ein Bild ohne diese Kette gesehen. Wenn ich sie nun trug, fühlte ich mich ihr näher, so als wären wir dadurch Verbunden. Dieses kleine Stück Schmuck hatte ihr anscheinend viel bedeutet, also bedeutete es mir alles.

Nachdem ich etwas gegessen hatte, ging ich in die Bibliothek, um nach Reno zu schauen. Ich fand ihn sofort. Er saß an einem der Tische, umgeben von Büchern. Leise setzte ich mich neben ihn und ließ meinen Blick über den Tisch schweifen.

„Was denkst du?"

Überrascht schreckte ich auf und sah ihn an. Sein Blick war auf das Buch in seiner Hand gerichtet.

„Was ich denke? Worüber denn?" fragte ich. Er sah zu mir auf und reichte mir das offene Buch. Ich staunte über das, was auf diesen Seiten gezeichnet war.

„Das ist es. Das habe ich in Aphillia gesehen. Was ist das für ein Buch?" fragte ich neugierig und drehte es um. ‚Die Enzyklopädie der Mythischen Kreaturen'

„Das dachte ich mir", sagte Reno, „der Text ist in einer alten Sprache geschrieben, aber ich war in der Lage das meiste davon zu übersetzen."

„Und? Was steht da?" fragte ich hastig, ohne vom Buch aufzusehen. Ich ließ meine Finger über die detailreiche Zeichnung wandern.

„Nun, diese Kreaturen nennen sich Drakonier, aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Drachen. Sie sind bekannt für ihre destruktive Feuermagie und anscheinend können sie die Gefühle von Anderen lesen und selbst fühlen."

„...Sie haben eindeutig Feuer aus dem Nichts erschaffen", sagte ich zögerlich. Rückblickend fühlte sich all das wie ein böser Traum an. „Mir fällt es schwer zu glauben, dass das real ist." Ich sah auf, als ich meine Gedanken laut aussprach. „Ich wusste überhaupt nicht, dass wir solche Bücher in unserer Bibliothek besitzen. Wo hast du die alle gefunden?"

Reno schnaufte und lächelte kurz auf. „Sieh genau hin. Ein paar solltest du wiedererkennen."

Stirnrunzelnd nahm ich mir ein paar Bücher vom Stapel.

Die Sage vom Ursprung.

Der Schatz des Drachens.

Eine Geschichte von Verlorenen Kindern.

„Ich erinnere mich. Du und Vater habt sie mir früher vorgelesen. Aber das sind alles... Märchen."

„Exakt. Weißt du wie solche Geschichten zustande kommen? Diese hier beispielsweise." Er nahm ‚Der Schatz des Drachens.' aus meiner Hand und hielt es hoch.

„Ja, ich erinnere mich an diese", erzählte ich ihm, „es geht um einen Abenteurer, der einen Berg entdeckt, der komplett aus Eis besteht. Im Berg lebte ein Drache, der einen Schatz bewachte und nachdem der Abenteurer diesen besiegt hatte, kehrte er mit dem Schatz nach Hause. Doch der Schatz war verflucht, also brachte er ihn zurück, um sein Dorf vor weiterem Unheil zu bewahren."

Reno nickte. „Genau. Es heißt der Schatz sei noch immer in dem Berg versteckt. Als ich gestern mit meinen Nachforschungen begonnen hatte, erinnerte ich mich an etwas interessantes. Hier, schau."

Er öffnete ein anderes Buch und blätterte darin herum, bis er die Seite gefunden hatte. Es war ein Buch über die Nördlichen Gebiete, das Land nördlich von Maera. Soweit ich weiß, war es eisig kalt dort und es lag das ganze Jahr über Schnee. Nur wenige Menschen wagten es unter diesen Bedingungen zu leben. Deshalb war der größte Teil unerforscht.

„Hier." Ich sah mir die Seite an, die Reno mir zeigte. Eine Zeichnung mit Text darunter.

„Es sieht aus wie eine Höhle."

„Richtig, und es ist auch eine."

„Aber... Ich verstehe den Zusammenhang mit der Geschichte nicht."

„Lorelei, diese Höhle besteht komplett aus Eis."

Ich schnappte nach Luft und meine Augen weiteten sich, als ich verstand worauf er hinauswollte.

„Du glaubst, dass der Berg aus Eis in der Geschichte in Wirklichkeit diese Höhle ist? Das ist verrückt!" platzte es aus mir heraus.

„Ist es das? Verrückter als die Existenz von Dämonen?" Damit hatte er wohl Recht. „Aber das ist nicht der Punkt", fuhr er fort, „der Punkt ist, dass all diese Geschichten nicht zu hundert Prozent der Fantasie entsprungen sind. In ihnen befindet sich immer ein Stückchen Wahrheit. Wenn diese Kreaturen real sind, ist es möglich, dass die beschriebenen Orte es auch sind."

„Aber wie können wir wissen was real ist und was nicht?"

Reno schmunzelte auf eine traurige Art und Weise.

„Das können wir nicht."

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