Kapitel 26 - ER
Ich rannte. Immer schneller, nichts würde mich aufhalten. Mein Herz raste so voller Angst, dass ich hätte fürchten können, es würde zerreißen. Doch meine einzige Angst galt dem Gedanken, der mich rennen ließ. Dem Gedanken an sie.
Meine Lunge brannte unter der heißen Sommerluft, konnte mich allerdings nicht einmal daran denken lassen, langsamer zu laufen. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte mit jedem Fuß, den ich zurücklegte.
Mit der Hand umschloss ich den ledernen Beutel, des Medizinhändlers beinahe krampfhaft.
Irgendwann kam dann das große Gebäude am Ende des Hangs in Sicht, was mich nur motivierte noch schneller zu rennen. Meine Gedanken bereiteten mir beinahe Kopfschmerzen, schneller als mein Herz hämmerte, wirbelten sie in meinem Kopf herum. Doch diese Angst war so tief eingebrannt, dass sie jede Faser meines Körpers durchdrang...
Als ich dann endlich das Ende des Weges erreichte bremste ich nicht ab sondern stürzte direkt in das Haus, wobei ich an sämtliche Schränke und Regale stieß, allerdings nahm ich das nicht einmal wahr. Meine einzige Aufmerksamkeit galt dem Gedanken schneller zu sein, mein Ziel zu erreichen.
Ich bog um die letzte Ecke und stieß unerwartet mit Ruben zusammen. Alle Aufmerksamkeit war mir zugewandt, die Anspannung lag ganz deutlich in der Luft. "Alles okay? Hast du es bekommen?" Ich nickte nur gestresst und hob den Beutel in die Höhe, woraufhin er mich in eine kurze Umarmung zog und mir unterstützend auf die Schulter klopfte. "Unsere Gedanken sind mit euch." Ich lächelte dankbar und versuchte mir eilig einen Weg durch die Menge zu bahnen, die vor der letzten Tür stand.
Sobald ich den Raum betrat sprangen einige Frauen aus dem Dorf auf und kamen auf mich zu, wobei sie zuvor nur unschlüssig warten konnten. Sofort folgte ein Schwall Erklärungen, doch reichte ich ihnen nur die Kräuter und drängte mich zu dem Bett am anderen Ende des Raumes durch. Die Vorhänge waren zugezogen worden und somit gelangte nur wenig natürliches Licht nach drinnen. Auch wurde es schlagartig kalt, als ich das Zimmer betrat, als würde das Unheil bereits in den Ecken lauern.
Hinter mir begannen die Frauen aufgeregt die Kräuter zu verarbeiten, drei weitere standen nahe des Bettes, doch ignorierte ich sie vollkommen und stürzte augenblicklich an den Bettrand. Dort kniete ich mich hin und sprach, schwer atmend: "Ich bin zurück Sternchen, alles wird gut." Ich spürte mein Herz immer noch gegen meine Brust schlagen und rang nach Atem, lächelte allerdings wieder.
Laila drehte ihren Kopf zu mir und erwiderte mein Lächeln schwach, bevor sie ein weiteres mal erschauderte und das Gesicht verzog. Sie keuchte und hielt sie Augen geschlossen, woraufhin ich ihre Hand ergriff und sanft drückte. Seit einigen Stunden nun lag sie in den Wehen. Zunächst war zwar alles normal verlaufen, doch hatte sie bisher viel zu viel Energie verloren, obwohl die Geburt nicht einmal begonnen hatte. Diesen Umstand verdankte man natürlich dem Gift, welches zwar dem Kind keine ernsthafte Schäden zufügen konnte, sie allerdings durchaus beanspruchte...
Nach einer Weile brachte einer der Heilerinnen ihr einen Stärkungstrank, auch, damit sie keine extremen Schmerzen leiden musste. Ich währenddessen hielt einfach ihre Hand und so verging die Zeit, während Laila sich zum Glück wieder etwas entspannen konnte, sofern die Situation es zuließ. Meine Aufregung war nicht in Worte zu fassen, dennoch hatte ich Angst um sie.
Im Nachhinein erinnerte ich mich kaum an alles, was passierte. Doch irgendwann begannen dann die Geburtswehen und Laila verkrampfte sich voller Schmerzen. Immer wieder schrie sie auf und jedes mal brach es mir das Herz. Ich konnte es kaum ertragen sie so zu sehen, während die Heilerinnen sich kaum beeindrucken ließen und geschäftig durch den Raum eilten. Bald schon drängte die älteste von ihnen mich beiseite und murmelte irgendwas, dass ich hier nichts zu suchen hatte.
Ich wusste nicht woran es lag, dass Frauen Geburten ohne unsere Anwesenheit durchführen wollten, ich hätte es allerdings auch nicht gekonnt. Es fügte mir selbst ungeheure Schmerzen zu, Laila schreien zu hören, während ich nervös im Raum auf und ab lief. Auch kannte ich mich nicht genug aus, um etwas zu unternehmen, so reichte ich höchstens frische Tücher und Wasserschalen weiter.
Fast schon hatte ich mich etwas beruhigt, während die Geburt in üblicher Routine der Heilerinnen ihren Lauf nahm, doch machte sich irgendwann nervöses Geflüster breit. Die älteste Frau wich von Lailas Seite und wank mich wieder zurück, während sie selbst sich an ihren Kräutern zu schaffen machte.
Augenblicklich merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Lailas Blick war abwesend und sie zitterte, immer wieder drückte sie meine Hand und keuchte. Jedoch waren ihre Schreie verstummt und sie schloss immer wieder die Augen. "Halte sie wach!" sprach eine der Heilerinnen in einem östlichen Akzent. Ihre Stimme entsprang irgendwo hinter dem weißen Tuch, das Laila den Blick auf ihren Unterkörper verwehrte.
Jedoch schien sie nicht besonders viel von ihrer Umwelt mitzubekommen, Schweißperlen rannen über ihre Stirn und sie keuchte, ihr Blick allerdings nach wie vor abwesend. "Hey, alles okay, bald hast du es geschafft", sprach ich auf sie ein, versuchte sie etwas zu beruhigen. Ich bemerkte, dass meine Worte Einfluss auf sie hatten und redete einfach weiter.
Die alte Heilerin währenddessen rief Anweisungen durch den Raum. Überall herrschte hektisches Treiben und weitere Frauen eilten hin und her. Es war genau dieser Moment, indem die Tür erneut aufflog und Palma herein stolperte. "Wie geht es ihr?!" fragte sie ohne Umschweife, woraufhin ihr eine weitere junge Frau ein frisches Tuch in die Hand drückte. "Sie steht kurz vor einem Koma, das würde keiner der beiden überleben, hält sie aber noch eine Weile durch, ist das Kind draußen", erklärte sie ohne einmal mit der Wimper zu zucken, wenn auch besorgt.
Mir allerdings wurde schlagartig eiskalt und auch Palma wurde leichenblass, bevor sie eilig zu helfen begann.
"Hast du das gehört, Sternchen? Halte noch kurz durch, ich weiß, dass du das kannst", redete ich weiter auf sie ein und drückte ihre Hand. Verzweifelt wanderten meine Augen über ihr Gesicht, auf der Suche nach einem Zeichen, diese ganze Situation wirkte so unwirklich, selbst die Zeit schien stehen geblieben und den Atem angehalten zu haben.
Doch noch ehe ich es gänzlich realisierte, erfüllten hektische Stimmen den Raum und Laila schien meine Hand zu zerquetschen, bevor ein weiterer Schrei den Raum durchdrang. Der Schrei eines Kindes.
Mit einem mal brach Jubel aus und mir fiel ein riesen Gewicht von den Schultern. Selbst Laila lächelte, sie rang schwer um Atem, während ich nur erleichtert grinsen konnte. "Du hast es geschafft, es wird alles gut", erklärte ich überglücklich, ich wusste, dass sie mich gehört hatte. Tatsächlich öffnete sie kurz darauf die Augen, gerade als die alte Heilerin mir mein Kind auf den Arm gab. "Sie ist gänzlich gesund. - Junger Mann, das ist das letzte Kind, dass du dieser Frau antust!" erklärte sie mit einem tadelden, wenn auch erleichtertem Blick.
Glücklich grinsend sah ich zu dem Kind in meinem Arm, das immer noch schrie. Sie hatte blonde, fusselige Harre und ich sah grinsend zu Laila, deren honigfarbenen Harre sich auf den Kissen verteilt hatten. Sie lächelte glücklich, wenn auch erschöpft. "Ariana", murmelte sie, während sie sanft über die weichen Haare unsere Tochter strich.
In diesem Moment schlug die Kleine ihre Augen auf und wir beide keuchten überrascht. Sie waren genauso blau wie Lailas. Ariana hatte aufgehört zu weinen und musterte uns nun aus ihren großen Augen. Lachend ergriff ich ihre winzige Hand und sah zu Laila auf, die sich allerdings wieder in ihre Kissen sinken hatte lassen. Sie hatte die Augen geschlossen und verzog das Gesicht.
"Laila..." - "Mir geht es gut", murmelte sie, allerdings ohne mich anzusehen. Meine Freude sank drastisch und wich wieder dieser tiefsitzenden Angst, während ich ihr skeptisch eine Hand auf die Stirn legte. Sie war glühend heiß. Immer wieder erzitterte sie und sie kniff die Augen zusammen.
"Laila, alles okay, bleib ganz ruhig, wir schaffen das!" erklärte ich, doch meine Stimme zitterte. Ariana, welche ich immer noch mit einer Hand hielt fing an zu wimmern, wie als spürte sie, was los war.
Eilig wank ich eine Heilerin zu mir, bald schon hatte die nervöse Stimmung sich erneut im ganzen Raum ausgebreitet und hing bedrohlich in der Luft. "Sir, es gibt eine Möglichkeit, aber-" "Tun Sie's!" - "Es gibt Nebenwirkungen...", fügte sie besorgt hinzu, "Fieber, starke Kopfschmerzen, es können sogar zeitweise Lähmungen in den ersten Tagen auftreten. Wenn wir aber Glück haben ist es in ein bis zwei Wochen vorbei." Ich nickte nur. Solange es hieß, dass sie es überstand war mir alles recht.
"Nein!"
"Nein," wiederholte Laila sich leiser und ich sah sie verzweifelt an. "Sternchen..." - "Vig", sie öffnete die Augen und musterte mich liebevoll, "Das Gift - seit fast fünf Jahren kann ich meinem Schicksal schon entrinnen-" - "Nein... fang nicht damit an", meine Stimme erzitterte, "du weißt, dass das meine Schuld ist und ich werde nicht zulassen-" ich unterbrach mich und wandte mich an eine Heilerin, "Holt mir irgendeinen Arzt!" - "Wir schaffen das, Laila, keine Sorge! Das ist nur die Erschöpfung, du musst dich einfach nur ausruhen, wir überstehen das..."
Doch sie nahm nur meine Hand und lächelte mit einer traurigen Gewissheit, die mir Tränen in die Augen trieb. Erneut verzog sie das Gesicht, blieb allerdings stark. Ich aber schüttelte nur immer wieder den Kopf.
"Dank dir lebe ich noch. Und das war das schönste Leben, dass ich hätte haben können", ihre Stimme war leise und kaum zu verstehen. Nun fing auch Ariana an zu weinen, als spürte sie meinen Schmerz. Laila aber lächelte liebevoll und strich ihr mit der zweiten Hand über den Kopf. "Sie soll das auch haben, hörst du, Viggo. Ich liebe euch." Der Rest ihrer Worte ging unter, doch ich verstand es.
Wir waren schon oft getrennt und ich habe nicht eine Sekunde damit aufgehört dich zu lieben. Das werde ich auch nicht.
"Niemals", hauchte sie und atmete tief durch. "Ich liebe dich, Sternchen", konnte ich noch sagen, bevor das Licht in ihren Augen zu erlischen schien.
Ihre Hand erschlaffte und ihre Gesichtszüge entspannten sich.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, während nun ungehemmt Tränen über mein Gesicht rannen. Das konnte nicht wahr sein. Ein Stern konnte nicht erlischen. Wie ein Ertrinkender klammerte ich mich an die letzte Hoffnung, dass das nur die Erschöpfung war. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass es nicht so war.
Nach allem was wir durchgestanden hatten musste es sie treffen und das, gerade nachdem unsere Tochter geboren war. Tausende Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf und ich konnte spüren wie etwas in mir zerbrach und sein Licht verlor. Das konnte alles nicht real sein, wenn ich sie ansah konnte ich sie immer noch lächeln sehen.
"Es ist nicht der ihre Herzschlag, den du hörst", sprach die vertraute Stimme von Palma hinter mir. Sie zitterte und ein Schluchzen unterbrach ihre Worte, als sie mir eine Hand auf die Schulter legte. "Sie hat die Fackel des Lebens weitergegeben, es ist ihr Herzschlag, Viggo." Sie sah auf unsere Tochter hinab.
Voller Schmerz legte ich den Kopf auf unsere umschlossenen Hände, während ich Ariana an meine Brust drücke. Sie war fort. Wir waren alleine.
So war die Natur, die Schwächeren waren gezwungen sich zu fügen, wenn sie auf etwas Stärkeres trafen und den Kampf verloren.
Plötzlich waren diese Worte wieder in meinem Kopf und ich verzog das Gesicht. Nie war mir bewusst gewesen, wie wenig Wahrheit in diesem Leitsatz steckte. Laila hatte gekämpft. Und sie war die Stärkste, die Stärkste von allen. Sie hatte alles getan, für die Menschen, die sie liebte und Ariana das Leben zu schenken war das größte Opfer ihres Lebens gewesen, welches sie ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt hatte.
Gebrochen sah ich in die großen blauen Augen unter mir. Und in diesem Moment schwor ich mir, dass der Kleinen niemals etwas passieren würde. Lailas letzter Wunsch war es, dass sie glücklich war und ich würde alles dafür tun.
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