Kapitel 17 - ER

Ich trat nach draußen und beobachtete die Jäger auf dem Deck unter mir, wie sie im Schein der Fackeln herumliefen und die nächtlichen Abläufe des Schiffes regelten. Vor wenigen Stunden erst waren wir aufgebrochen, doch war ich mir sicher, dass sich die Mitte der Nacht bereits dem Ende neigte. Dennoch hatte ich kein Auge zugemacht, mein schlechtes Gewissen hielt mich davon ab.

Immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Hatte sie mit ihrem Vater gesprochen, wusste sie von den genauen Formulierungen im Vertrag? Wir hatten unsere Planungen nie beendet, nichts davon war in die Verhandlungen mit aufgenommen worden, warum sollte sie sie lesen?

Seufzend lief ich an die Reling und fuhr mit der Hand über die, bereits heilende, Wunde an meinem Hals. Ich würde den Tag, an dem ich gleich zwei Personen verlor, die mir wichtig waren, nie vergessen. Für einen Moment schloss ich die Augen, doch als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf die flatternden Segel und ich musste mir unwillkürlich Lailas honigfarbenen Haare vorstellen, wie sie vom Wind herumgewirbelt wurden.

Gereizt schüttelte ich den Kopf, gewillt den Gedanken zu verdrängen und ich richtete meinen Blick stur hinaus auf das Meer. Die Sterne glitzerten am Himmelszelt und auch die Mondsichel hob sich strahlend von der Dunkelheit ab. Hier draußen, abseits der Lichter der Inseln wirkten sie viel heller, viel zahlreicher.

"Viggo?" riss die Stimme meiner Cousine mich aus meinen Gedanken und ich drehte mich zu ihr um. Ihre sonst zusammengebundenen, dunklen Haare umgaben sie wie ein Schleier und ihre grünen Augen schimmerten im schwachen Licht, als sie sich zu mir gesellte. "Du vermisst sie, oder?" fragte sie vorsichtig und lehnte sich ebenfalls an die Rehling und sah zu den Sternen hinauf.

Ich biss die Zähne zusammen, doch lachte sie leise, ohne, dass ich antwortete. "Das ist doch schön, nichts wofür du dich verurteilen müsstest", lächelte sie und ich musste mich unwillkürlich an Lailas Worte erinnern, woraufhin ich erneut diesen Druck in meiner Brust verspürte.

Sie schüttelte seufzend den Kopf und ein ernster Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. "Hier, ich - ich dachte, es wäre nur richtig, dir das zu geben", erklärte sie und reichte mir einen Zettel. Verwirrt sah ich sie in, doch sie nickte nur und ich faltete ihn auseinander. Ein Brief.

"Wa-" "Das", unterbrach sie mich und biss sich auf die Lippe, voller Hass sah sie auf das Stück Papier hinab und machte eine kurze Pause. "Das war der Grund für den Streit zwischen Großvater und Onk- deinen Vater", erklärte sie und meine Augen verengten sich. "Welcher Streit?"

Sie holte tief Luft und seufzte. "Ich wollte es dir gestern Abend schon erzählen, allerdings - du weißt ja, wie seltsam gestern alles war." Ich nickte langsam, ich wusste nicht, ob ich bereit für die ganze Geschichte war. Auf der anderen Seite würde es mir vielleicht früher oder später dabei helfen, damit klar zu kommen. So nickte ich erneut und Palma sprach weiter.

"Wie bereits erwähnt wissen wir nicht, wie das alles möglich sein kann, aber das da", sie nickte auf den Zettel in meiner Hand, "hat dafür gesorgt, dass es überhaupt soweit kommen konnte." Ein ungutes Gefühl überkam mich und ich verspürte den plötzlichen Drang den Brief zu lesen.

"Wenn du ihn ließt", erklärte sie weiter, "wirst du verstehen, warum die beiden sich gestritten haben. Es war nichts ungewöhnliches, wie bei den meisten ihrer Streite ist einer der beiden, in diesem Fall dein Vater, nach einer Weile aus dem Zimmer gestürmt." Wieder nickte ich, es war nichts neues, dass die beiden auf diese Art und Weise aneinander gerieten, das war schon häufig vorgekommen. Allerdings hatte ich bereits eine Vermutung, wohin das führte und mein Hals wurde trocken.

"Somit war Großvater allein als der Angriff stattfand, wir wissen nicht, was passierte, doch wurde er tot aufgefunden, gemeinsam mit zwei Angreifern", krächzte sie, ihre Stimme erzitterte, doch sprach sie weiter, lächelte sogar, "von ihrer eigener Waffe erschlagen. Er hat im Kampf sein Ende gefunden, das wollte er schließlich immer", endete sie und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen, doch lächelten wir beide stumm. Sie hatte recht, er hatte nie darauf warten wollen, bis ihn sein Leben verließ. Vielleicht war es besser so. Für ihn selbst zumindest.

Ich atmete tief durch, doch in diesem Moment wurde mir das Papier in meiner Hand wieder bewusst und Palma verzog das Gesicht, als ich es auffaltete und zu lesen begann. Mit jedem Wort verdüsterte sich mein Gesichtsausdruck.

Doch erst, als ich die Unterschrift am Blattende erkannte brauste die Wut in mir auf und ich war drauf und dran, genau dieser Person den Kopf abzureißen. Hier und Jetzt. Ich wollte mich schon umdrehen, doch hielt Palma mich zurück und begann auf mich einzureden. Allerdings hörte ich ihr nicht einmal zu, mein ganzer Zorn galt dem Absender dieses Briefes. Meinem Bruder.

"Viggo!" schrie sie und ich schnaubte widerwillig, zögerte jedoch, "Ich weiß, ich weiß, es war vielleicht nicht besonders klug, dir das zu sagen, immerhin war deine Reaktion vorherzusehen, aber erinnere dich an deine Freundin, sie konnte dich auch beruhigen, das hat Ruben mir erzählt." Für einen kurzen Moment hielt ich inne. Ruben? Doch da begriff ich der eigentliche Sinn ihrer Worte und nickte, mein Zorn minderte sich dadurch trotzdem kein bisschen.

"Gut, jetzt sieh dir den Brief nochmal an", forderte sie mich auf und ließ mich los, jedoch nur, um ihre Arme vor der Brust zu verschränken. "Wieso, ich habe alles was ich brauche, um diesem Idioten über Bord zuwerfen!" - "Also erstens", sie überlegte kurz, "das wäre weit unter deiner Würde. Wenn - und nur wenn - dann, setzten wir ihn auf einer einsamen Insel aus. Und zweitens, hier wird niemand ausgesetzt, über Bord geworfen oder ähnliches, sonst wärst du ein noch größerer Idiot als er es jemals sein könnte!" rief sie aufgebracht und sah mich böse an.

Da ich nicht reagierte schnappte sie mir einfach den Brief aus der Hand.

"Wir befinden uns seit nunmehr einer Woche ... plant er mit der Tochter der Riggoths, Laila, auf den Wunsch ihres Vaters ... den sie in den Vertrag mit aufzunehmen wünschen", ihre Augen huschten über den Text und sie las immer wieder einen paar Worte vor, bis sie schließlich aufsah. "Klingt das nach Ryker?" Sie sah mich erwartungsvoll an und ich runzelte die Stirn. Ich schien wirklich voreilig reagiert zu haben.

So schüttelte ich den Kopf und fuhr mir gestresst durch die Haare. Großvater hatte mir immer erklärt, das ein kühler Kopf und die Fähigkeit Emotionen hinten anstellen zu können, einen schneller ans Zeil führen konnte, als diese Emotionen selbst. Allerdings war das viel schwerer, als es sich anhörte.

"Tut mir leid, das hört sich wirklich nicht nach ihm an." - "Eben", sie grinste belustigt, "also, was denkst du?" Seufzend nahm ich ihr den Brief wieder ab und begann erneut zu lesen. Noch immer war ich unkonzentriert und meine Gedanken waren nicht bei der Sache, doch sprang ein Name mir sofort ins Auge. Lars.

Niemand hätte diesen Brief mit so viel internem Wissen schreiben könnte, außer er. Ich hätte mir vor den Kopf schlagen können, das nicht sofort erkannt zu haben, doch konnte ich ihn nicht beschuldigen. Ich vertraute ihm, wieso sollte er zur Heimatinsel schreiben, wenn nicht einmal Ryker das tun würde, selbst wenn es seine Aufgabe wäre?

Verwirrt runzelte ich die Stirn, verschob den Gedanken allerdings und lief eilig in mein Zimmer unter Deck zurück, Palma dicht hinter mir. Ich erklärte ihr im Laufen meine Theorie und bat sie Ryker für mich zu wecken, während ich selbst mir das genauer ansah.

So stand ich vor allerlei Karten und einem großen Spielbrett voller Figuren, als die beiden zu mir stießen. Kurz sah ich auf und erkannte den missbilligenden Blick meines Bruders, ignorierte es aber. Unter den Notizen suchte ich hektisch die neuste Zeichnung von Laila und mir und überflog die Punkte der Angriffe. Zähneknirschend setzte ich ein weiteres Kreuz, direkt auf meine Heimatinsel und sah auf.

"Ryker, bist du für den Angriff auf unsere Insel verantwortlich?" fragte ich direkt und musterte meinen Bruder, der unter dem kritischen Blick unserer Cousine geschwiegen hatte. Doch nun explodierte er regelrecht angesichts meiner Anschuldigung, woraufhin ich ihm wortlos den Brief zuwarf. "Warst du das?" fragte ich nachdrücklich und er senkte widerwillig den Blick, um zu lesen.

"Nein", antwortete er schließlich und hob stolz das Kinn. "Du hattest Meldedienst, wieso sollte ich diesen Brief schreiben?" hackte er nach und ich schnaubte. "Wenn ich mich recht erinnere hast du mich desöfteren auf Laila angesprochen, es würde dir durchaus ähnlich sehen, das an unseren Vater weiterzugeben."

Sofort setzte er zu einer Rechtfertigung an und ballte die Hand zur Faust, doch Palma schnitt ihm scharf das Wort ab. "Also war es doch Lars. - Ryker, hast du mit ihm über diese Themen gesprochen?" fragte sie, deutlich sanfter als ich.

Einige Minuten der Diskussion später starrte ich immer noch ungläubig auf das Spielbrett hinab, ich konnte immer noch nicht fassen, was wir da gerade vermuteten. Lars? Der immer fröhliche, zu Scherzen aufgelegte Verlobte meiner Cousine, die er nahezu anbetete. Es klang mehr als merkwürdig, doch erkannte ich auf der Insel, die er vor den Verhandlungen besucht hatte, kein Kreuz. Konnte es also wirklich sein, dass er die Schuld an all dem trug? Dass er uns so schmerzhaft verraten hatte?

"Dort hat Lydias Familie sich getroffen", sagte Palma in diesem Moment und ich sah auf. Sie war meinem Blick gefolgt und deutete auf die kleine Nebeninsel. "Dort gab es wohl auch einen Angriff, doch haben die Dorfbewohner sie vertreiben. Und ich glaube das gefällt uns nicht, aber sie sprach von Blondie und seine Freunde", fügte sie hinzu und verzog das Gesicht, während ich die Augen aufriss. Das war doch nicht möglich Panik ergriff mich.

"Nein!"

"Was?!" fragten beide zeitgleich, doch beachtete ich sie kaum, meine Aufmerksamkeit galt der Insel, von der Palma gesprochen hatte. "Viggo, was meinst du?" fragte sie eindringlich und ich zeichnete schwungvoll einen Kreis, der all die Orte miteinander verband, die zuerst betroffen waren.

"Hier, das war die erste Angriffslinie, ein Kreis, wenn man diese Lücke im System hinzufügt und die Symmetrie ignoriert", erklärte ich und deutete auf Lars' Insel. Als wäre ich zuvor blind gewesen fiel mir nun das runde Muster auf, der sich um unsere Insel gezogen hatte. Es war kein symmetrischer Kreis, doch zu erkennen, wenn man den Mittelpunkt kannte. Laila und ich hatten diesen Ansatz eine Zeit lang verfolgt, es war der aller erste gewesen, allerdings unrealistisch, angesichts der folgenden Angriffe. All die komplizierten Nachforschungen bezüglich der Zeitabstände und Reihenfolge waren nebensächlich, die Richtung war das Entscheidende. Und die zweite Angriffswelle, das war eine Ablenkung gewesen.

"Danach war es zufällig", erklärte ich auch den anderen, "beinahe willkürlich, innerhalb und außerhalb dieses Bereiches. Das hat uns beide verwirrt. Wir dachten, sie suchten nach bestimmen Rohstoffen oder ähnlichem, aber sie haben systematisch das Land für sich gewonnen. Wir haben versucht ein Prinzip zu finden, dieser Kreis schien irgendwann unnötig zu sein. Aber das ist er nicht! Und wir haben das nicht gesehen, wegen dieser einen Insel! Verstehst du?" sprach ich weiter, doch Palma runzelte nur die Stirn. "Nein, wieso... - oh nein", wurde auch ihr die Lage bewusst und sie verzog das Gesicht.

"Hier, und hier, knicken die Linien nach innen, die erste hat ihr Ziel, unsere Insel, erreicht, aber die zweite -" "Wir müssen sofort umkehren! Wo ist Lars?!" - "Dort, er hat mir gebeten zu bleiben", knirschte ich und Palma sah mich ungläubig an. "Dann müssen wir uns beeilen!" und damit war sie auch schon aus dem Zimmer gestürmt und ich fuhr mir durch die Haare, mein Herz raste.

"Also werden wir umkehren. Jetzt, sofort, ohne irgendeine Erlaubnis?" fragte Ryker zynisch und ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Viggo, ich sage das nur einmal, es liegt nicht in unserer Verantwortung! Wenn du dieses Weib retten willst, tu das, aber ohne mich. Mein Sohn, dein Neffe, könnte jeden Moment zur Welt kommen und ich werde nicht umkehren!" stellte er stur fest und ich holte tief Luft. Ich würde nicht zulassen, dass er erneut aufgrund seines Alters über etwas entschied, dass er nicht verstand.

"Ryker, ich will es nicht mehr hören! Ich bin jünger und du bist der Lieblingssohn, ja. Es ist mir egal! Dass mein Neffe bald das Licht der Welt erblickt ist ungünstig, aber würdest du nur einmal weiter als einen Steinwurf weit schauen, würdest du die Gefahr erkennen! Und wenn ich dich an den Mast fesseln muss, wir werden umkehren, ob du das missbilligst, oder Vater das missbilligt, oder auch die Götter. Ich werde das durchziehen, wenn du nicht die nötige Stärke dazu besitzt", erklärte ich nachdrücklich und stellte mich stur, die Arme vor der Brust verschränkt in seinen Weg.

"Wer bist du, dich deinem Bruder in den Weg zustellen?" fragte er kalt, doch ich erwiderte seinen Blick genauso kühl. "Wenn der Mond zum nächsten mal am Himmel steht kannst du urteilen, wer hier wem im Weg steht, Bruder" - "Solltest du versagen, sind wir keine Brüder mehr", zischte er bedingungslos, die Anspannung in der Luft knisterte förmlich, doch dann trat ich beiseite und er stapfte aus dem Raum.

Es war meine einzige Chance. Wenn Lars nächstes Ziel die Handelsinseln waren, so war sein Zug mehr als brillant. Er hatte uns weggelockt und damit die stärkte Kampfeinheit des Inselreiches von seinen Opfern getrennt. Ich setze mich, schloss die Augen, versuchte mich zu beruhigen, doch blitzten weitere Erinnerungen vor meinem geistigen Auge auf und ich wurde mir meiner Schuld immer mehr bewusst.

Wir hatten sie allein gelassen, vor lauter eigener Sorgen nichts bemerkt. Wir hatten sie verraten, Lars war einer unserer Leute. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Sogar zum Anwesen habe ich ihn geschickt! Oswald würde uns die Schuld an allem geben! Ich dachte an die Worte meines Vaters zurück, die er vor so langer Zeit an mich gerichtet hat. Die der Grund für diese ganze Reise waren. Er denkt wir würden uns von unsere alten Sitten lösen und ihr beide, als meine Söhne und Erben der Familie werdet ihn vom Gegenteil überzeugen. Schlagartig wurde mir auch bewusst wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte und zischte gereizt.

Dennoch reichte meine Wut nicht, um den womöglich größten Grund für meine Angst zu verdrängen.

Egal was Lars zum Ziel hatte, die beste Möglichkeit einen Mann wie Oswald zu brechen war seine Schwachstelle, seine Familie. Und damit kämen nur noch Eistla und Laila in Frage.

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