Kapitel 13 II - SIE

Sobald einige Bewohner der Siedlung mir verraten hatten, dass Viggo in den Wald gelaufen war, hatte ich ihn schnell gefunden. Es gab nur einen einzigen Ort, der so friedlich und abgelegen war, dass man dort in Ruhe nachdenken konnte. Der kleine See.

Und ich hatte mich nicht getäuscht, dass auch Viggo diesen Ort finden würde, ich hörte, noch bevor ich ihn sah, das unregelmäßige Plätschern von Steinen, die voller Frust ins Wasser geworfen wurden. Schnell verlangsamte ich meine Schritte und schob vorsichtig die letzten Äste beiseite. Aufreget hämmerte mein Herz an meine Rippen, ich war mir nicht sicher, wie er das aufnehmen würde.

Lautlos und unangekündigt stand ich am Rand der Lichtung, den Blick auf die einsame Person gerichtet, die am Ufer des schillernden Sees saß. Ein Arm auf das angezogene Bein gestützt warf er mit der andern kleine Kiesel in das türkise Wasser, wo sie mit einem dumpfen Ton untergingen und sich sanfte Wellen ausbreiteten. Das wenige Licht, welches es durch das dichte Blätterdach schaffte hing wie in Fäden in der Luft und spiegelte sich auf dem Wasser.

Doch achtete ich nicht auf alle diese äußeren Eindrücke, meine Aufmerksamkeit galt einzig und allein Viggo und der Überlegung, ob ich zu ihm gehen sollte. Jetzt wo ich hier stand, ihn gefunden hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn stören sollte.

"Laila, lass mich in Ruhe", murmelte er in eben diesem Moment und ich zuckte zusammen, als seine Worte die Stille durchbrachen. Es ähnelte eher einem Knurren, doch das hielt mich nicht davon ab, vorsichtig ein paar Schritte näher zu kommen, allerdings sah er nicht einmal auf.

"Laila!" seufzte er nun mit mehr Nachdruck, doch auch das beeindruckte mich nicht. Ich wollte ihm helfen, ich wollte für ihn da sein, doch wusste ich nicht wie. Unschlüssig blieb ich stehen und überlegte, was ich sagen sollte. Auf einmal kam ich mir furchtbar verloren vor. Wieder seufzte er und schmiss eine weitere Hand voll Kiesel ins Wasser, woraufhin er sich knirschend eine zweite nahm.

"Viggo?", fragte ich sanft, woraufhin sich seine Schultern hoben und senkten und mir dadurch signalisierten, dass er tief durchatmete. "Ich - Ich weiß, dass du das nicht annehmen willst, aber es tut mir wirklich leid für dich, wirklich. Niemand versteht das und trotzdem möchte ich dir helfen. Wenn du mir nur sagst wie..."

Meine Stimme war leise und etwas unsicher. Es war mehr eine Bitte, als ein Angebot, ich durfte ihn zu nichts zwingen, dass wusste ich. Aber ich durfte ihn auch nicht mit seiner Trauer alleine lassen, das wäre noch viel schlimmer.

"Das ist es ja..." seine Antwort war nur leise und kaum zu verstehen, doch konzentrierte ich mich nur darauf, in der Hoffnung, dass er mir entgegen kommen würde. Er erhob sich langsam, sah allerdings immer noch starr auf das Wasser hinaus. "Niemand versteht es, du hast es selbst gesagt. Und das einzige, was du für mich tun kannst, ist, mich in Ruhe zu lassen", wiederholte er sich und all meine Hoffnung schmolz dahin, wie der Schnee im Frühjahr. Ich seufzte leise, während ich fieberhaft nach einer zweiten Lösung suchte.

Schließlich fiel mein Blick auf einen großen Fels nahe am Wasser, der teils von Moos und Gräsern bewachsen war, jedoch stabil und trocken wirkte. Ich ging drauf zu, mit dem Ziel, einfach dort zu warten, falls er es sich anders überlegen würde, doch ballte er auch die zweite Hand zur Faust und zischte ein weiteres mal meinen Namen. Er war verletzt, - verletzt und wütend, weshalb er schließlich herumfuhr, als ich weiter auf den Felsen zulief. "Adeleila, ich sagte, lass mich in Frieden!" rief er aus und die kleinen Kiesel entglitten seinen Fingern, die sich wie ein Regenschauer über mich ergaben.

Meine Reflexe waren schnell genug, um meine Arme schützend vor mein Gesicht zu halten, doch spürte jeden einzelnen Aufschlag. Einer von ihnen erwischte meine Lippe, welche unter pochendem Schmerz aufplatzte. Ich biss die Zähne zusammen und verzog das Gesicht, bemüht nicht aufzukeuchen.

Sofort zuckte der Drachenjäger zurück, mir war klar, dass er das nicht gewollt hatte. "Laila, es -" er unterbrach sich, als ich keinerlei Reaktion zeigte, außer langsam meine Arme zu senken und mir das Blut vom Kinn zu wischen. Zögerlich sah ich hoch und realisierte seine roten Augen und zerzausten Haare. Er sah elendig aus, vollkommen fertig. Doch, als wäre das nicht genug, erkannte ich die Angst in seinem Gesichtsausdruck, die mir beinahe das Herz brach. Er hatte Angst, dass ich sauer war... dass er mich auch verlor. Aber ich hatte es so gewollt und damit keinerlei Recht wütend zu sein. Mein Herz zog sich erneut zusammen, so verunsichert war er. Bei all seinen Problemen, sollte er sich nicht auch um mich sorgen müssen.

Ohne weiter zu zögern lief ich auf ihn zu. Er musste wohl denken, dass ich mich nun doch zum gehen entschlossen hatte, doch zog ich ihn schweigend in eine Umarmung.

Dieses mal ließ er es zu und ich seufzte erleichtert. Er entspannte sich ebenfalls und irgendwann erwiderte er die Geste. "Ich lass dich nicht alleine, nicht mal wenn du etwas gefährliches nach mir werfen würdest", erklärte ich, worauf er zwar nicht antwortete, doch das musste er auch nicht, diese ganze Szene funktionierte ohne Worte. Sanft schaukelten wir hin und her und ich lächelte stumm, während er tief ein und ausatmete. Ich spürte wie seine Brust sich hob und senkte und sein Herz schlug.

Nach einer Weile, in der er seinen Kopf auf meine Schulter gelegt und sich etwas beruhigt hatte, zog ich ihn mit mir auf den Waldboden, lehnte meinen Kopf allerdings gleich wieder an seine Schulter, woraufhin er seinen Kopf auf meinen legte. Noch immer hatten wir kein Wort gesprochen, doch atmete er nun schon viel ruhiger und ich spürte, dass dieser stumme Beistand ihm gut tat, zumindest war es ein gutes Zeichen, dass er ihn annahm.

So saßen wir noch lange einfach dort, schweigend aneinander gelehnt, und sahen gedankenverloren auf den kleinen Waldsee hinaus. Beobachteten das Funkeln des Wassers und lauschten das Rascheln des Windes. Jeder Mensch hatte seine eigene Art eine derartige Nachricht aufzunehmen und ich war mehr als froh, dass ich etwas gefunden hatte, um Viggo zu unterstützen.

Irgendwann, ich hatte mein Zeitgefühl bereits verloren, drehte ich meinen Kopf und beobachtete seine nachdenklichen Gesichtszüge, bis er meinen Blick bemerkte und sacht zu mir hinunter lächelte. "Alles okay?" fragte ich und sein Lächeln flaute etwas ab, hielt sich jedoch. "Den Umständen entsprechend", antwortete er distanziert und hob den Kopf wieder. Seit einer Weile schon überlegte ich, warum er sich bei unserem ersten Treffen so seltsam verhalten hatte, danach allerdings nie wieder. Warum er manchmal so ausweichend und manchmal so direkt sprach.

"Ich bin froh, dass du hier bist", gestand er schließlich und ich sah überrascht auf, doch sein Blick war zum Himmel gerichtet. Eine plötzliche Wärme ergriff mich und ich wand meinen Blick wieder ab. Ich bin froh, dass du hier bist. Gedanklich wiederholte ich den Satz und lächelte, ganz von allein. Wenn er lachte, löste das ein ähnliches Gefühl bei mir aus und ich wusste nicht einmal wieso.

Auf einmal erstarb mein Lächeln und meine Augen weiteten sich. Viggo benahm sich immer so kontrolliert und gefasst, er zeigte kaum echte Gefühle. Er wirkte sogar oft ertappt oder gar unsicher, wenn man seinen wahren Gedankengang erkannte. Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht, so viel verstand ich nun, was mich vor einer Woche noch frustriert und schier wahnsinnig gemacht hatte.

Bei unserem ersten Treffen musste er gedacht haben, mich mit seiner selbstgefälligen Erscheinung beeindrucken zu können, doch hätte er das niemals nötig gehabt. Er beeindruckte mich, ohne das er aktiv etwas dafür tat, einfach seine Art, sein Wesen. Eine Person wie er müsste sich niemals hinter diesem offensiven, zweiten Ich verstecken, doch schien er selbst sich diesen Umstand beweisen zu müssen.

Noch nie hatte ich so intensiv über das Befinden und dessen Gründe, einer Person nachgedacht, doch es machte mir klar, warum ich so rapide an eine Wand gestoßen war, was die Einschätzung seiner Gedankengänge anbelangte. Warum er sich benahm, wie er sich benahm und auf einmal wurde ich von so einem tiefen Verständnis überrollt, dass es mir leidtat, wie ich ihm begegnet war und ihn behandelt hatte.

"Was?" - "Was?"

Viggo sah mich fragend an, ich sah genauso fragend zurück, jäh aus meinen Gedanken gerissen. "Was tut dir leid?" fragte er verwirrt und ich blinzelte, ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich meinen Gedanken ausgesprochen hatte.

"Es tut mir leid, dass ich dich so - so schlecht aufgenommen habe, als ihr hier ankamt", murmelte ich schließlich und er lächelte gedankenverloren, den Blick wieder nach oben gerichtet, sodass ich lediglich seine markante Gesichtsform beobachteten konnte.

"Woher der plötzliche Sinneswandel?" fragte er nach einer Weile und ich lächelte matt, während ich meinen Kopf wieder drehte, um ebenfalls nach vorne zu sehen. "Ich habe überlegt", ich merkte wie ich rot wurde und zögerte kurz, beschloss dann aber, die Wahrheit zu sagen. Ich war mir nicht sicher, ob das hier der richtige Moment war - nach allem, was passiert war, allerdings hatte ich bereits damit angefangen...

"Ich habe überlegt, woher deine Zweigesichtigkeit manchmal kommt. Wie damals, als wir uns zum ersten mal im Wald gesehen haben, da hast du dich ganz anders verhalten, als bereits wenige Stunden später in der Bibliothek", versuchte ich zu erklären, ohne, dass es sich nach einem Vorwurf anhörte, "Ich habe dass nicht verstanden und war so frustriert deswegen, da -" "dass du beschlossen hast mich zu hassen?", beendete er meinen Satz und zog amüsiert eine Augenbraue hoch.

"So habe ich das nicht sagen wollen!" wand ich entrüstet ein, aber er grinste schon. Es tat mir gut, ihn lächeln zu sehen, so wie es ihm auch gut tun musste.

"Das ist mir auch aufgefallen", sprach er weiter, zurück in seinem ernsten Ton, "Du hast versucht hinter jeder meiner Absichten eine schlechte Intension zu sehen und dir schlechte Laune aufgezwungen, weil du nicht wusstest, wie du - nun wie du reagieren solltest", endete er und sah zu mir hinunter, in seinen braunen Augen schimmerte immer noch der Schmerz, doch wusste ich in diesem Moment, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte ihm geholfen, nicht allein mit seiner Trauer zu sein, in etwas abzulenken.

Es war ein seltsamer, ungewohnter Augenblick in dem wir uns befanden, so ernst und doch vertraut. Ohne ein passendes Wort. Aber ich fühlte mich wohl, einfach hier mit ihm zu sitzen und zu reden. Noch immer lastete die Nachricht des Tages auf unseren Schultern, doch hielten wir diese Last nun gemeinsam.

"Nicht von dir ablenken, ich bin zu einem Schluss gekommen", erklärte ich und legte meinen Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Er zog interessiert eine Augenbraue hoch, als Aufforderung weiterzusprechen, "Diese Trauer, sowie alle anderen Gefühle, Wut und Frust, aber auch Freunde und Hoffnung, du darfst das alles nicht so in dich hineinfressen, es wird dir irgendwann schaden." Ich hatte es gesagt, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, wie ich es sagen sollte. Ich hatte es von selbst auf den Punkt gebracht.

Seine Augen verdunkelten sich für einen Moment, doch nickte er langsam, die Stirn gerunzelt und zum ersten Mal seit langem wusste ich nicht, was er in diesem Augenblick dachte. Allerdings musste es daran liegen, dass ich niemals mit so einer ernsten und tiefsinnigen Antwort gerechnet hätte.

"Und du musst aufhören, andere Menschen so voreilig zu begegnen. Von mir hattest du sofort das Bild, - nun, ich weiß nicht, was dein Bild war, aber du weißt es. Du hast mich auf Anhieb nicht gemocht! Du kannst nicht allen helfen und du kannst auch nicht dafür sorgen, dass jeder Mensch sich in deinen Augen perfekt verhält, das macht dich schwach und auf gewisse Weise auch blind - obwohl du das von Natur aus nicht bist. Wir beide haben Erfahrungen gemacht, die uns zu unserer Art und Weise des Handels getrieben haben", murmelte er und ich wollte schon den Mund öffnen, um zu protestieren, als mir die Wahrheit in seinen Worten bewusst wurde. Ich blinzelte, unwohl bei dem Gedanken, dass ich das nicht selbst erkannt hatte, doch sah ich Viggo an, dass es ihm ganz genauso ging.

Wir beide hatten uns gegenseitig vor den Kopf gestoßen und nun war es, als hätte sich ein Nebel in meinem Bewusstsein aufgelöst, er hatte mir auf irgendeine Weise die Augen geöffnet, auch wenn ich es noch nicht vollständig angenommen hatte. Langsam nickte ich, im Versuch diese Erkenntis zu verarbeiten.

"Es scheint, als wüssten wir beide mehr über den anderen, als über uns selbst", flüsterte ich schmunzelnd und er lächelte. "Es scheint, als müssten wir beide noch viel lernen", wiederholte er meine Satzstruktur und ich lächelte ebenfalls.

"Vielleicht, hast du damit Ausnahmsweise mal Recht, Grimborn."

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