Whisky mit Jonathan
„Hätte ja fast nicht mehr mit dir gerechnet", begrüßte Mark sie an der Tür, die zum Backstage-Bereich führte. Unbeeindruckt hob Johanna eine Augenbraue: „Die Herren mögen es wohl nicht, auf ihre Gäste zu warten?"
Er prustete bloß: „Ach, die achten nie darauf, wer wann kommt. Meistens wissen sie selbst nicht mehr, wie viele sie eingeladen haben. Aber ich dachte halt, du kneifst vielleicht doch."
Johannas Augen blitzten: „Ich kneife niemals."
Mark nickte: „Ich weiß. Du bist die erste Frau, die John sprachlos gemacht hat. Und sehr, sehr würdevoll dabei gewirkt hat. Ich freue mich jedenfalls darauf, euch beide heute Abend zu beobachten. Und glaub mir, ich werde euch nicht aus den Augen lassen. Es passiert viel zu selten, dass dem hohen Herrn mal jemand zeigt, wo der Hammer hängt."
Irritiert schaute Johanna ihn an, während er die Tür für sie öffnete und sie durch bat: „Wieso gewinne ich bloß mehr und mehr den Eindruck, dass du ihn nicht magst?"
Lachend kam er ihr hinterher: „Der Eindruck ist falsch. Er hat nur manchmal Starallüren und außerdem kriegt er immer alle halbwegs interessanten Frauen ab. Nervt halt manchmal."
An Marks Seite trat Johanna in den großen Aufenthaltsraum ein, der für die Party mit gemütlicheren Möbeln, passendem Licht und einer anständigen Musikanlage ausgestattet worden war. Gierig wanderte ihr Blick zu dem Buffet, bei dessen Anblick ihr einfiel, dass sie seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Doch das musste warten, sie würde sich nicht völlig undamenhaft auf das Essen stürzen.
Ohne sich ihre Nervosität anmerken lassen zu wollen, ließ sie ihren Blick über die Anwesenden gleiten. Neben den fünf Bandmitgliedern waren noch einige von der Crew anwesend und insgesamt zehn Frauen unterschiedlichen Alters, die jedoch eines gemeinsam hatten: Sie alle waren schwarz oder mittelalterlich gekleidet oder beides zugleich. Sie mit ihrem roten, eleganten Kleid, der Hochsteckfrisur und teuren Handtasche stach augenblicklich heraus.
Wie sie es erwartet hatte, richteten sich auch sofort alle Blicke im Raum auf sie. Angestrengt bemühte Johanna sich darum, nicht zu Jonathan hinüber zu starren, sondern stattdessen unbestimmt allen zuzulächeln.
„So, Leute, wir sind jetzt vollzählig", verkündete Mark mit lauter Stimme: „Diese junge Dame ist Johanna und sie ist heute das erste Mal mit dabei. Seid nett zu ihr."
Aus dem Mundwinkel flüsterte Johanna ihm zu: „Bin ich die einzige, die zum ersten Mal hier ist?"
Mark nickte: „Ja. Köln steht jedes Jahr auf dem Programm, und die anderen sind treue Fans, die teilweise schon seit fünf Jahren immer hier sind."
Das half ihr nicht mit ihrer Nervosität. Zu allem Überfluss war auch direkt Arne aufgestanden, der, gar nicht so bescheiden, es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatte, sie in die Runde einzuführen: „Einen wunderschönen guten Abend, meine Dame. Ich bin Arne, der Bescheidene, und stehe heute ganz zu Ihren Diensten."
Aus der Nähe war er tatsächlich noch attraktiver als auf der Bühne. Gott, es gehörte verboten, dass ein einzelner Mensch so perfekt aussehen konnte. Diese strahlend blauen Augen, die deutlich sagten, dass er wusste, wie gut er aussah, ließen ihr die Knie weich werden. Entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, hielt sie ihm ihre Hand hin: „Guten Abend. Wenn der Herr so freundlich wäre, mir einen Platz zuzuweisen, der lange Abend im Publikum hat meine Füße doch sehr erschöpft."
Kurz starrte Arne ob ihrer gestelzten Sprechweise, dann brach er in schallendes Gelächter aus: „Oh, wunderbar, ganz wunderbar. Du wirst eine echte Bereicherung sein für uns. Komm nur mit, komm, setz dich zu mir!"
Aus den Augenwinkeln bemerkte Johanna, dass Jonathan sie offen anstarrte. Sie konnte nicht glauben, dass er so unverhohlen sein Interesse bekunden würde. Doch sie zwang sich, seinen Blick zu ignorieren, und sich ganz auf Arne zu konzentrieren. Sie wusste, dass ihm nachgesagt wurde, eine Silberzunge zu besitzen, und es würde vermutlich all ihren Verstand brauchen, um nicht seinen süßen Verführungen zu erliegen.
„Erzähl mir", fing Arne an, nachdem er ihr ein Glas mit Wein angeboten hatte: „Was bringt ein Täubchen wie dich hierher?"
Johanna nahm das Glas mit einem kurzen Dank an, ehe sie es auf dem Couchtisch vor sich abstellte, ohne auch nur einen Schluck zu nehmen: „Mir gefällt eure Musik."
Wieder dauerte es einen Augenblick, ehe Arne darauf eine Antwort einfiel: „Ja, gut. War vermutlich eine blöde Frage, mh?"
Schelmisch grinsend nickte sie: „Könnte man so sagen."
Sie schaute ihm direkt in die Augen und so entging ihr nicht, dass da kurz etwas aufblitzte. Fühlte er sich herausgefordert? Gut. Sollte er nur gleich zu Beginn verstehen, dass sie nicht so leicht um den Finger zu wickeln war wie andere.
„Du siehst aus wie eine richtige Dame", versuchte er es erneut, und amüsiert bemerkte Johanna, wie er ihr dabei näher kam, bis schließlich seine rechte Seite sich fest an ihre linke presste: „Weiß eine Dame wie du denn auch, wie man mit einem richtigen Mann umgeht?"
Sie konnte nicht verhindern, dass ein leichter Rotschimmer auf ihren Wangen erschien. Touché. Sie hatte ihn mit ihrer Offenheit aus der Bahn geworfen und nun versuchte er mit ebensolcher Direktheit dasselbe bei ihr. Ohne ihren Blick von seinen Augen abzuwenden, leckte sie sich betont langsam über die Lippen, dann erwiderte sie leise: „Wenn ich einen echten Mann vor mir habe, weiß ich das durchaus."
Für einen Bruchteil einer Sekunde, so kurz, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätte, fiel sein Blick auf ihre Lippen, dann jedoch erwiderte er ihr intensives Starren. Der Zeigefinger seiner linken Hand wanderte langsam ihren nackten Oberarm auf und ab, während sein rechter Arm wie zufällig direkt auf der Sofalehne hinter ihr zu liegen kam.
„Und was", hakte er mit rauer Stimme nach, „macht einen echten Mann in deinen Augen aus?"
Sein Gesicht war ihrem so nah, sie konnte den Atem auf ihren Wangen spüren. Johanna war sich sicher, dass die übrigen Partygäste nicht blind waren und durchaus bemerkt hatten, wie schnell sich die Stimmung zwischen ihnen beiden geändert hatte, doch es war ihr egal. Wer hätte gedacht, dass dieser Schönling sich tatsächlich darauf verstand, eine so erotische Spannung aufzubauen? Sie fragte sich, ob er tatsächlich Interesse an ihr hatte, oder ob er einfach nur das Spiel der Verführung so sehr liebte.
„Ich bezweifle jedenfalls, dass du in ihren Augen ein echter Mann bist."
Erschrocken fuhr Johanna zurück und blickte auf. Sie hatte ihre Umgebung derart ausgeblendet, dass ihr nicht aufgefallen war, dass sich Jonathan ihnen genähert hatte. Da stand er vor ihnen, das Gesicht unlesbar, in beiden Händen ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit, die den deutlichen Geruch von Whisky mit sich trug. Unbewusst leckte sie sich über die Lippen.
„John", kam es offensichtlich genervt von Arne: „Siehst du nicht, dass du störst?"
Unbeeindruckt hielt Jonathan ihr eines der beiden Gläser hin: „Ich sehe, der Wein ist unberührt. Vielleicht etwas Stärkeres?"
Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie unendlich aufgeregt sie innerlich war. Es war mehr als offensichtlich, dass Jonathan nicht bereit war, sie weiter mit Arne reden zu lassen – und dafür konnte es nur einen Grund geben. Er wollte tatsächlich nachholen, was sie ihm in Hamburg verwehrt hatte. Sie durfte das Atmen nicht vergessen. Und bloß nicht mit offenem Mund starren. Vor allem aber sollte sie etwas erwidern. Irgendetwas. Hauptsache, sie schwieg nicht weiterhin wie ein dummes Blondchen.
Mit einer langsamen Bewegung, die hoffentlich elegant wirkte, streckte Johanna ihre Hand aus: „Gerne."
Lächelnd nahm sie Jonathan das Glas mit Whisky ab, dann wandte sie ihren Blick wieder zu Arne: „Ein echter Mann ist sich seiner selbst so sicher, dass er eine starke Frau an seiner Seite aushalten kann."
Für einen Moment schaute Arne sie verwirrt an, ehe ihm aufging, dass sie seine Frage von vorher beantwortet hatte. Ein schelmisches Grinsen spielte um seine Mundwinkel, als er begriff, dass sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zugewandt hatte, statt ihn für John sitzen zu lassen: „Jeder Mann wünscht sich doch eine Frau, die nicht an ihm hängt wie eine Eisenkugel."
Eine raue Hand schloss sich um jene von Johanna, die das Whiskyglas hielt: „Wenn du den Whisky trinken willst, musst du schon mit mir mitkommen. Ich lasse nicht zu, dass jemand meinen teuersten Tropfen in Gegenwart dieses Verächters trinkt."
Die dunkle Stimme von John jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und das Feuer, das seine schlichte Berührung in ihr auslöste, war auch nicht hilfreich. Oh ja, die Fackel wollte definitiv nachholen, was in der Woche zuvor nicht geschehen war. Und sie war immer weniger bereit, ihm das zu verwehren.
„Verschwinde, John", zischte Arne, der langsam ernsthaft wütend wurde. Eisige Härte lag in seinen blauen Augen, während er seinen Bandkollegen unnachgiebig anstarrte.
„Du benimmst dich rüde in der Gegenwart einer Dame", erwiderte John schlicht, während er auf Johannas Antwort wartete.
Dieser Sommer war für sie, diese Nacht war für sie. Sie hatte sich geschworen, ihren eigenen Träumen und Wünschen zu folgen und sich nicht um das Urteil anderer Menschen zu kümmern. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, rückfällig zu werden. Mit einer aufreizend langsamen Bewegung legte sie eine Hand auf Arnes Wange: „Ich gehe schnell mit diesem ungehobelten Burschen einen Whisky trinken. Sei mir nicht böse, ja?"
Damit hauchte sie Arne einen Kuss auf die Lippen, dann stand sie auf, deutete einen Knicks vor Jonathan an, und folgte ihm.
„Fick dich, John!", rief Arne ihnen wütend nach: „Ehrlich, du bist so ein Arschloch!"
Unwohl warf Johanna einen Blick zurück: „Hätte ich das besser nicht machen sollen?"
Doch Jonathan machte nur eine wegwerfende Handbewegung: „Ach, mach dir keine Sorgen. Arne hat nur ein Problem damit, dass ich immer alle interessanten Frauen abkriege, aber er ist nicht ernsthaft wütend. Wart's nur ab, in einer halben Stunde hat irgendeine andere ihn um ihren Finger gewickelt, dann ist alles vergessen."
Halbwegs beruhigt folgte Johanna ihm an einen Tisch auf der anderen Seite des Raumes, wo er ihr einen Stuhl zurechtrückte und sie zum Setzen aufforderte. Kurz überlegte sie, ihm einen kessen Spruch entgegen zu schleudern, doch sie verkniff es sich. Sie musste ihren Feminismus nun wirklich nicht in jeder Situation herausholen.
„Einen guten Whisky trinkt man nicht einfach so, meine Liebe", erklärte John ernst, nachdem auch er Platz genommen hat: „Dazu braucht man Gesellschaft und die Muße, den Genuss wirklich anerkennen zu können."
Lächelnd ließ Johanna die goldene Flüssigkeit im Glas kreisen. Der typische beißende Geruch von Whisky stieg ihr in die Nase, doch sie roch auch sofort, dass es eine sehr liebliche Sorte war. Schmunzelnd fragte sie: „Irisch?"
Es amüsierte sie mehr als es sollte, dass er überrascht die Augenbrauen hob: „In der Tat. War das ein Schuss ins Blaue oder kennst du dich tatsächlich aus?"
„Weder noch", erwiderte sie, während sie erneut tief den Geruch des Alkohols einatmete: „Ich selbst bevorzuge Schottischen, der ist härter und rauer. Alles, was so wie das hier riecht, ist für mich automatisch Irisch. Und ich gehe einfach mal davon aus, dass du mir einen Single Malt vorsetzt und keine gemischte Pampe."
Mit diesen Worten hob sie ihr Glas, er tat es ihr nach und nach einem kurzen Augenblick, in dem sie sich gegenseitig ansahen, einfachen nur ansahen, offen und ohne Hintergedanken, nahmen beide einen Schluck. Johanna hatte sich angewöhnt, erst einzuatmen, dann zu trinken, und dann auszuatmen, um das Brennen des starken Alkohols zu minimieren. Mit einer routinierten Bewegung ihrer Zunge kostete sie jeden Tropfen der Flüssigkeit aus.
Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen – so leicht und lieblich dieser Whisky auch über ihre Zunge rollte, so scharf biss er doch auch zu. Mit zusammengezogenen Augenbrauen fragte sie: „Der hat über vierzig Umdrehungen, ja?"
Ein Grinsen erschien auf Johns Gesicht: „Sechundvierzig, um genau zu sein. Zu stark für dich?"
Sie schnaubte: „Nein, nur überraschend."
Schweigen breitete sich aus, während John mit nachdenklicher Miene in sein Glas schaute. Johanna war sich nur zu bewusst, dass zwischen ihnen plötzlich eine beinahe mit Händen zu greifende Spannung stand. Nervös nahm sie einen weiteren Schluck, und sei es nur, um ihren nervösen Magen zu beruhigen. Sie wusste genau, was sie wollte, doch sie wusste nicht, wie sie das bekommen sollte, ohne ihren Selbstrespekt zu verlieren.
„Also, sag mir, Johanna", brach John schließlich als Erster das Schweigen: „Wirst du mich heute Abend wieder abweisen?"
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