Prolog
27. November, 2016
Der kalte Wind wehte um die Ecken der Häuser, unter Brücken hindurch, erzeugte ein hohes Pfeifen und wirbelte so das letzte liegengebliebene Laub auf. Die Menschen, die sich bei dieser regnerischen Jahreszeit einen Schritt aus ihrem warmen Haus trauten, zogen sogleich die Kragen ihrer Jacken höher, während sie schnell zur nächsten U-Bahn oder ihrem Auto hasteten.
Sie wussten gar nicht, wie gut sie es hatten. Jeden Tag wurden sie mit offenen Armen von ihren Arbeitskollegen und der Familie begrüßt, mit denen sie ein einfaches oder auch schwieriges Gespräch führen konnten. Einfach zu reden, jemandem seine Sorgen und Gedanken mitteilen, das wurde nicht jedem gewährt.
Vier Wände und ein Dach über den Kopf schützten sie vor Nässe, Kälte und üblen Gerüchen, die es draußen im Überfluss gab.
All das hatte er innerhalb kürzester Zeit verloren. Er gab sein Leben für dieses Land und wurde dafür zum Dank auf die Straße gesetzt.
Seine Würde wurde zerschmettert und der Lebenswille ging innerlich von fünf Jahren zugrunde, da er sich Tag für Tag die Dinge erbetteln musste, die er zum Überleben brauchte.
Doch es war nicht der Hunger oder der Durst, der ihm wie die Hölle auf Erden vorkam. Es war die eisige Kälte und die dazukommenden Schmerzen, die er bereits jahrelang ertragen musste.
Die Feuerkörbe, die in der Nähe der Brücke und den Docks standen, waren zumindest ein kleiner Trost. Hier trafen sich nicht nur die Menschen, die ihr Zuhause auf unterschiedliche Weisen verloren hatten, sondern auch die Drogenabhängigen und herumstreunende Katzen und Hunde.
Seine Augen hatten ihren Glanz verloren, schienen trüb und leblos, als er in die lodernden Flammen blickte. Er sah schon lange keinen Sinn mehr darin, weiterzukämpfen. Sein Körper war ein einziges Schlachtfeld, das ihn tagtäglich an den grausamen Krieg erinnerte. Jeder Schritt war unerträglich. Das lag an seiner zertrümmerten Hüfte, obwohl er damals eine neue, künstliche eingesetzt bekommen hatte. Und an seinem rechten, amputierten Bein. Die beschädigte Prothese drückte, scheuerte ihn wund, weshalb er sie meist frustriert an die graue Betonmauer unter der Brücke warf.
Heute war ihm aber nicht danach, sich die Geschichten der anderen anzuhören. Es deprimierte ihn viel zu sehr, nicht, dass dies jetzt noch einen Unterschied machen würde. Er konnte sowieso nie schlafen. Sei es der Hunger, die Schmerzen oder die Kälte, die ihn davon abhielten.
Er wollte einfach nur weg von hier, damit er sich nicht jeden Tag quälen musste. Und wo konnte man denn am besten allein sein und sich seinem Schicksal überlassen, wenn nicht in einer abgelegenen Gasse, an der sowieso kein Mensch vorbeikam?
Mit entschlossener Miene kehrte er den anderen seinen Rücken zu und verschwand von diesem Ort, der seit Jahren sein Zuhause gewesen war.
"Weston? Wes!", riefen sie ihm nach, doch er wusste, dass sie selbst kaum die Kraft hatten, um ihn aufzuhalten.
Das machte es ihm leichter, stillschweigend fortzugehen. Er presste seine trockenen und aufgesprungenen Lippen aufeinander, als er die Londoner Brücke am späten Abend überquerte. Seine dünne Jacke hielt ihn dabei nicht warm, aber das musste sie auch nicht, denn es würde sowieso gleich vorbei sein.
Er bahnte sich einen Weg über die Brücke, ging in Richtung des Big Ben und an den Menschen vorbei, die ihn aufgrund seines Vollbarts und den zerzausten Haaren schräg anstarrten. Die anderen meinten, er würde damit wie ein Hipster aussehen, doch er mochte keine Hipsters.
In der Gasse kam ihm unmittelbar ein beißender, verfaulter Geruch nach Verwesung entgehen. Er wollte nicht wissen, was sich alles hierin befand.
Seinen Kopf langsam schüttelnd, ließ er sich mit dem Rücken an der kalten Mauer hinabrutschen, bis er den feuchten Boden unter sich spürte. Hier würde er so warten, bis er endlich einschlief und dadurch von seinem Leid erlöst werde. Hoffentlich würde es nicht lange dauern, dachte er sich immer wieder.
Als er kurz davor war, friedlich einzuschlafen, wurde sein Zittern stärker, das er lange ignoriert hatte. Auch sein Husten machte sich wieder bemerkbar und die Schmerzen in seiner Kehle und seinem Brustkorb kamen zurück. Eine Hand presste sich an seinen Oberkörper, mit der anderen krallte er sich in das, was von seinem rechten Oberschenkel noch übrig war. Wenn die Kälte ihn nicht bald umbrachte, dann mit Sicherheit die höllischen Schmerzen, die sich dadurch nur verschlimmerten.
"Eh- Hallo?", ertönte eine leise Stimme am anderen Ende der Gasse, weshalb er seinen Kopf nach oben schnellen ließ. Er konnte kaum etwas erkennen, dafür reichte das Licht der Laterne nicht aus. Doch er war sich anhand der Helligkeit der Stimme sicher, dass es sich um eine junge Frau handeln musste, die langsam näher kam. Wie viel Mut musste sie bitte besitzen, um sich so etwas zu trauen?
Fassungslosigkeit zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als sie schließlich vor ihm zum Stehen kam. Sie zitterte und er wusste nicht, ob es an den tiefen Temperaturen lag oder an ihrer Angst. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn es die Kälte gewesen wäre, denn die Frau hatte sich offensichtlich bei der Kleiderwahl vergriffen.
"Hallo", wiederholte sie sich vorsichtig, während sie ihre kleine, schwarze Handtasche fest umklammerte, an der ein kleiner Anhänger hin- und herbaumelte. Wahrscheinlich hatte sie darin irgendein Pfefferspray.
"W-was willst du?" Seine Stimme klang rau und brüchig, da er schon lange nicht mehr geredet hatte.
"Ich- Naja, ich finde ... Sie sollten nicht hier draußen sein. Bei diesem Wetter-", sprach sie und ging dabei langsam in die Hocke. Deren Blicke trafen sich, wobei ihrer ihn traurig musterte.
"Und?" Er konnte und würde daran nichts ändern. Auch ein dahergelaufenes Mädchen nicht.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Sie wollte nicht locker lassen.
"Nein, verschwinden Sie einfach." Merkte sie denn nicht, in was für eine Gefahr sie sich brachte? Hier befanden sich nicht nur harmlose Leute, wie er, sondern auch andere, die schreckliche Dinge mit ihr anstellen konnten und auch würden, wenn sie sie in die Finger bekämen.
"Aber-", setzte sie verzweifelt an. Sie wusste nicht, was sie noch sagen könnte. Es war doch eine völlige Schnapsidee einen Obdachlosen und zudem Fremden anzusprechen.
"Gehen Sie einfach, jetzt." Selbst wenn er sich von ihr helfen ließe, würde es sinnlos sein und nichts bringen, da er früher oder später sowieso wieder dort landete, wo er sich gerade befand. Oder noch schlimmer; er wäre gar nicht mehr da. Vielleicht wäre das auch das Beste, dachte er.
"Na, los. Machen Sie schon, hauen Sie ab", drängte er sie mit einem plötzlichen Zittern in der Stimme. Sie sollte nichts von seinen Gedanken ahnen. Warum interessierte es sie überhaupt, was mit ihm geschah?
Die junge Frau gab ein leises Seufzen von sich und stand schließlich mit einem leichten Kopfschütteln auf.
"Wie Sie wollen", meinte sie resigniert. "Aber ... Ich lasse Ihnen meinen Schal hier."
Und das tat sie auch. Dann drehte sie ihm ihren Rücken zu, lief mit schnellen Schritten und einem schlechten Gewissen davon, als die ersten Schneeflocken zu fallen begannen.
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