Der schwarze See
Alles, was je in den schwarzen See gerät, verschwindet für immer unter der schwarzen Oberfläche. Sogar das Licht. Die Wasseroberfläche spiegelt nicht. Das Wasser ist vollkommen still. Niemand weiß, wie tief der See ist. Niemand weiß, was da unten ist. Und ob es überhaupt einen Grund gibt. Oder ob der See bis hinunter in die Hölle reicht.
Es ist immer Nebel rundherum. Es ist immer kalt. Dort leben keine Fische oder andere Wassertiere. Es ist überhaupt kein Leben dort. Das Wasser ist tot. Und es bringt Tod.
Sobald man in den schwarzen See hineingeht, ist man verdammt. Denn er lässt niemanden wieder gehen. Niemand entkommt seinem schwarzen Wasser. Nichts und niemand.
***
„Das wird die beste Gruppenarbeit aller Zeiten, das sag ich euch!"
Verena war gut in große Töne spucken. Ein Wunder, dass sie Geschichte studierte und nicht so etwas wie Rhetorik oder noch besser: Politik.
„Ich glaube kaum, dass so ein vergammeltes, altes Haus jemanden interessiert. Die anderen haben richtig coole Themen, wie Bunker aus dem Weltkrieg und..."
Weiter kam Jannik nicht, denn er kassierte einen Fußtritt von Verena.
„Spinnst du!"
„Dann labere nicht so 'nen Scheiß! Wir haben das coole Thema, weil ich es nämlich für euch Trottel gefunden habe! In diesem Haus wurden lauter Leute umgebracht und dann wurden ihre Leichen im See im Wald da drüben versenkt. Und jetzt sag mir mal einer, dass das nicht 'ne coole Gruppenarbeit wird!"
Susanne ließ ihren erschrockenen Blick von dem düsteren alten Haus zum noch düstereren Waldrand schweifen, auf den sich Verena bereits zielstrebig zubewegte.
„Moment mal! Du willst doch nicht...sollte Maik etwa deshalb seine Tauchausrüstung mitnehmen? Er soll für dich in dem See nach widerlichen Wasserleichen suchen?"
Verena blieb stehen und drehte sich mit einem demonstrativen Seufzer zu Susanne um.
„Für mich? Das ist eine Gruppenarbeit, Schätzchen! Wenn wir da wirklich Leichen finden sollten... das ist Geschichte zum Greifen! Dann ist uns die Eins sicher! Außerdem suchen wir in erster Linie den Schatz! Dann blüht uns auch noch ein Finderlohn! Das wird eine top Forschungsarbeit! Wenn ihr nur nicht solche Memmen wärt..."
Die Vierergruppe studierte gemeinsam Geschichte im Hauptfach an der Universität Stuttgart und besuchten gemeinsam ein Seminar, in dem sie ein selbst ausgesuchtes lokalhistorisches Thema erforschen sollten. Verena hatte sich bereitwillig dazu erklärt, ein perfektes Thema zu finden. Nur hätten die anderen wissen müssen, dass ihre nicht ganz gesunde Begeisterung für Morde, Leichen und dergleichen sie auf etwas Düsteres und gruseliges stoßen wird.
„Memmen? Ich werde doch tauchen und nicht du!", widersprach Maik Verena.
„Was für ein Schatz soll denn bitteschön da im See liegen?", versuchte Jannik den aufkeimenden Streit zu verhindern.
„Na wieso sollten die ganzen Leute einander sonst umbringen? Die Villa gehörte einer reichen Kaufmannsfamilie, die einen Familienschatz besaß. Und irgendwann entfachte ein Erbstreit um eben diesen und die Erben fingen an, einander umzubringen, bis der Schatz plötzlich verschwand. Der Legende nach war er angeblich verflucht und deswegen geschahen auch die ganzen Morde. Irgendwann beschloss dann wohl jemand aus der Familie, den Schatz im See zu versenken, um den Fluch zu brechen. Dort soll er bis heute liegen."
Verena hatte ihre Stimme zu einem unheilvollen Flüstern gesenkt und den anderen dreien lief bei ihren Worten ein Schauer über den Rücken.
Maik erholte sich als erster von der Schauergeschichte.
„Das ist doch Blödsinn! Was für ein Schatz soll das bitte sein? Das Bernsteinzimmer?", fragte er spöttisch.
„Na das werden wir ja bald herausfinden", entgegnete Verena und steuerte geradewegs auf den nebelumwobenen Wald zu.
„Man nennt diesen See den Schwarzen See, weil sich in seiner Oberfläche angeblich nichts spiegelt", wusste Verena eine halbe Stunde später zu erzählen.
Jannik beugte sich tief über die dunkle Wasseroberfläche.
„Hey! Das stimmt ja tatsächlich!"
Maik musste ihn an seinem Rucksack zurückzerren, damit er nicht kopfüber ins Wasser fiel.
„Quatsch! Das liegt nur an den Bäumen und an diesem verdammten Nebel!"
Der Nebel schien tatsächlich dichter geworden zu sein und obwohl es erst Nachmittag war und es inzwischen erst um acht Uhr abends dunkel wurde, war es im Wald stockfinster.
„Der Nebel verschwindet hier nie", wusste Verena es mal wieder besser.
Maik warf ihr einen wütenden Blick zu. „Das ist ja auch ein Moor, oder? Da ist immer Nebel."
„Willst du da wirklich runtertauchen?", wandte Susanne sich fröstelnd an Maik. Auch die Temperatur schien plötzlich um mehrere Grad gesunken zu sein.
„Natürlich will er! Schon vergessen, warum wir hier sind? Wir wollen den Schatz und die Leichen! Und natürlich unsere Eins im Seminar!"
Tatkräftig fing Verena an, Maiks Taucherausrüstung aus seinem Rucksack zu zerren.
„Hätten wir es nicht tagsüber machen können? Es ist so...finster hier", nörgelte Susanne weiter rum.
„Boah, kack dir doch nicht gleich so in die Hose! Oder hast du etwa Angst, dass dein Liebster auf Nimmerwiedersehen im See verschwindet und du keinen mehr zum bumsen hast?"
Verena wusste ja gar nicht, wie recht sie mit ihrer Aussage haben würde.
Eine Viertelstunde später hockten sie zu dritt am Rande des Sees und warteten angespannt darauf, dass Maik wiederauftauchte. Doch das tat er nicht.
„Da hast du's! Ich hab' es doch gesagt!", rief Susanne den Tränen nahe.
Verena fixierte sie mit zu Schlitzen zugekniffenen Augen.
„Mach jetzt bloß keinen Aufstand! Wenn was wäre, hätte er am Seil gezogen."
Sie blickten alle zu dem Sicherungsseil, dass sie um einen tiefhängenden Ast gebunden hatten. Es bewegte sich kaum.
„Nicht, wenn er schon längst ertrunken ist!", schluchzte Susanne zwischen ihren Fingern hindurch, die sie sich nun verzweifelt aufs Gesicht presste.
Verena stieß einen theatralischen Seufzer aus.
„Okay Jannik, zieh ihn wieder hoch. Der Scheißkerl machts wahrscheinlich extra, um uns zu ärgern!"
Das Seil ließ sich mühelos hochziehen. Weil an seinem Ende kein Maik war.
„Scheiße!", sagten Jannik und Verena gleichzeitig. Susanne brach in hemmungsloses Schluchzen aus.
„Wir müssen Hilfe holen!" Jannik holte sein Handy heraus.
„Mist! Kein Empfang!"
„Du bist mir ja ein Schlauer! Wir sind hier mitten im Wald!", blaffte Verena ihn an.
„Ich geh zurück ins Dorf und versuch es von dort. Du bleibst bei der Heulsuse da. Vielleicht taucht ihr Angebeteter doch noch wieder auf. Ihr rührt euch nicht vom Fleck, verstanden!"
Und bevor die anderen beiden widersprechen konnten, war sie schon in der Finsternis verschwunden.
Zwanzig Minuten später kam Verena keuchend bei der Villa am Waldrand an. Sie blickte auf ihr Handy. Kein Empfang. War ja klar. Sie sah sich hektisch um. Was jetzt? Was, wenn Maik tatsächlich abgesoffen war? War sie dann schuld? Ach was, sie hatte ihn schließlich zu nichts gezwungen!
Plötzlich erblickte sie schwaches Licht im Fenster des Hauses. Flackern, wie von einer Kerze. Angeblich war die Villa doch seit Jahrzehnten verlassen. Angeblich.
Verena zögerte kurz, ging dann aber entschlossen auf das finstere Gebäude zu. Sie war ja nicht Susanne, der Angsthase.
An der Tür angekommen, ließ sie den klobigen Türklopfer mehrmals gegen das massive Holz schlagen. Das Klopfen hallte hohl im inneren des Hauses wieder. Niemand öffnete. Gerade als Verena sich umgedreht hatte, um weiter ins Dorf zu laufen, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Das Quietschen der Türangeln. Sie schaffte es aber nicht mehr, sich vollständig umzudrehen, um zu sehen, wer da die Tür geöffnet hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie eine schwarze Gestalt auf sich zukommen. Etwas Schweres schlug mit voller Wucht gegen ihren Kopf und mit einem mal erlosch Verenas Welt.
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