Kapitel 6: "Wie gut bist du?"

Fassungslos starrte ich auf den Dolch, dessen Heft aus dem Kopf des Löwen herausschaute. Der Weißhaarige lächelte siegreich, weshalb ich ihn am liebsten meine Faust hätte spüren lassen. Das Publikum war geschockt, denn niemand hätte auch nur im Entferntesten an diesen Verlauf des Kampfes gedacht. Dass eines der Tiere schwer verletzt oder auch getötet wurde, konnte man zwar nie ganz ausschließen, aber das Risiko auf den Tod durch eine Waffe war gleich Null. Wo hatte er den Dolch überhaupt versteckt? Konnte er sich etwa so verwandeln, dass man weder die Halterung, noch die Klinge in Löwengestalt hatte sehen können? Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
Eine Hand riss mich grob nach oben, sodass ich gezwungen war aufstehen, als sich auch schon die ersten Leute an mir vorbeidrängten. "Ihr müsst jetzt gehen." Der bullige Mann, der noch immer meinen Arm gepackt hielt schaute mich eindringlich von oben an und ich setzte mich etwas widerwillig in Bewegung, nachdem er mich losgelassen hatte. Anscheinend wollten sie alle Leute hier so schnell es geht rausbringen, doch ich konnte noch einen letzten Blick auf den erschlafften Körper des braunen Löwen erhaschen, der bereits von mehreren Männern über den Boden des Kampfplatzes gezerrt wurde.
Mir drehte sich der Magen um, weshalb ich mich stolpernd durch die Masse drängte und schließlich davonrannte. Genau das tat ich. Davonrennen. Ich war so feige, doch das war mir im Moment egal. Ich wollte einfach nur weg, wollte die schrecklichen Bilder verdrängen, die mich langsam einholten und mich schonungslos begreifen ließen. Das blutbesudelte Fell, die im Sonnenlicht aufblitzende Klinge und das Grinsen des blassen Mannes mit seiner blutigen Fratze. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ich jemanden in der Arena sterben sah, doch noch nie auf eine solche Art und Weise.
Meine Füße trugen mich weiter und weiter ohne, dass ich wusste wohin. Es schien ihm gefallen zu haben. Er hatte sogar gelächelt. Ob das der Prinz wusste? Ob er wusste, welches Monster er für sich kämpfen lassen hat? Plötzlich überkam mich die Angst. Vielleicht war es auch seine Absicht gewesen und er hatte dem Hautwechsler befohlen diesen Dolch zu benutzen. Ich musste Vater warnen, keiner unserer Löwen durfte gegen den Hautwechsler des Prinzen antreten. Aber würde er auf mich hören? Keuchend blieb ich stehen. Es war meine Familie, ihr durfte nichts zustoßen. Aber es war nicht seine Familie... Für ihn waren sie nur ein Mittel zum Zweck, das waren sie schon immer.
Mein Blick hob sich vom Boden als sich mein Keuchen etwas beruhigt hatte und ich musste feststellen, dass mich meine Füße geradewegs zu unseren Raubtieren getragen hatten. Ich schien scheinbar zu wissen, wo ich hingehörte. Langsam ging ich unter dem hohen Torbogen hindurch und über das leise raschelnde Stroh, das vor kurzem auf dem Steinboden zwischen den einzelnen Käfigen ausgelegt worden war. Ich zählte fünfzehn Zellen, wie immer. Verteilt darin waren allerdings nur fünf Löwen. Die einen mehr, die anderen weniger prächtig. Es beruhigte mich jedes Mal, wenn ich hier war und die goldenen Könige an ihre Käfigtüren herantraten. Sanft strich ich mit den Fingern über Halĕs Nasenrücken, bevor ich mich umdrehte und geradewegs in Daryans stechend grüne Augen schaute. "Ist alles in Ordnung?", ertönte seine raue Stimme und ließ mich frösteln. "Wie gut bist du?" Angsterfüllt starrte ich ihn an. "Gut in was?", gab er leise lachend zurück. Ich musste schlucken, bevor ich meine nächsten Worte aussprach, die ich mir bereits seit etlichen Minuten im Kopf zurechtgelegt hatte und doch nicht wusste, wie ich sie über die Lippen bringen sollte. "Gut im Töten." Sobald es ausgesprochen war, bereute ich es. Wie konnte ich ihn das nur fragen? Wollte ich wissen, wie schnell er mich würde zerfleischen können, wenn er seinen Käfig verließ? Oder wollte ich wissen, ob er die Kämpfe überleben würde?
Sein Blick schien interessiert, als er sich der mit einem schweren eisernen Schloss verriegelten Tür näherte. "Faszinierende Frage." Er ließ sich gemütlich auf dem Boden nieder, ohne auch nur einmal den Blick von mir zu lösen. "Ich habe schon lange nicht mehr gekämpft und bin deshalb wahrscheinlich außer Übung, aber meinem früheren Herren habe ich sehr viel Geld eingebracht." Endlich entließ er mich aus seinem Blick und ich ließ mich an dem Käfig gegenüber von seinem hinabrutschen, um mich von Halĕs' Nähe und dessen sanftem Schnauben in meinem Nacken beruhigen zu lassen. "Und weshalb bist du dann nicht mehr bei ihm?"
"Ganz einfach: Er ist tot. Wurde wegen seines enormen Reichtums hinterhältig von der eigenen Dienerschaft ermordet." Ungläubig schaute ich ihn an. "Und warum haben seine Diener dich nicht behalten, um weiter Geld zu verdienen?" Das wäre doch die logischste Folge gewesen. Sie hätten ihn weiter kämpfen lassen und dafür das Geld kassiert. "Weil ich sie getötet habe." Ein schelmisches Lächeln umspielte seine markanten Züge. Das konnte er doch nicht Ernst meinen. "Und wenn du sie doch getötet hast, wie konntest du dann auf dem Sklavenmarkt landen?", konterte ich rasch um mir nichts anmerken zu lassen. "Tja, ich war stärker. Anderen dafür jedes Mittel recht. Und so haben mich Madox und seine Gefolgschaft durch einen Hinterhalt in ihre dreckigen Finger bekommen." Ich konnte sehen, wie die spitzen Krallen aus seinen Pranken hervortraten und kleine Kratzer auf dem Boden hinterließen. "Das war vor zwei Jahren. Seitdem habe ich nicht mehr gekämpft, weil sie es wider ihrer Erwartungen nicht geschafft haben mich zu verkaufen." Er sah mich an. "Bis du und dein Vater kamen und mich in einen neuen Käfig steckten."

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