Kapitel 16: "Niemand wie du bereut."

Es schien, als falle ihm alle Last mit diesem erleichterten Seufzen von den Schultern. "Danke. Es war ein Fehler, was ich getan habe."
Langsam ließ ich die Hand von meinem Hals sinken und schaute mit gemischten Gefühlen zu ihm. Einerseits hatte ich das Gefühl das richtige getan und gesagt zu haben, andererseits hingegen wusste ich nicht ob ich ihm sobald wieder mein Vertrauen entgegenbringen konnte. Das war eine Wunde, die Zeit brauchen würde um zu verheilen. Doch ich wusste, dass sie aus unerklärlichen Gründen schneller heilte als sie sollte.

"Ich bringe dir etwas zu Essen." Mit schnellen Schritten verschwand ich und schlich mich in die Küche, nachdem ich meine Umhängetasche aus meinem Zimmer geholt hatte. In der Küche war es wie immer; warm und stickig. Die Küchenmädchen huschten umher von einer Aufgabe zur nächsten, die Köchinnen rührten in riesigen Töpfen und mehrere Jungen fegten den Boden. Ich erinnerte mich noch genau wie ich damals hier mithelfen musste, bevor Vater für mich Zeit fand und mich mit zu den Löwen nahm. An all den Schmutz, an all die Arbeit und an all die Strafen wenn man sich ungehorsam zeigte.
Diese Küche versorgte unser gesamtes Haus und lieferte auch das Futter für die Löwen in der angrenzenden Halle, in der sich die Käfige befanden, weshalb die Angestellten hier sehr viel Arbeit hatten und es nicht gerne sahen, wenn man, außerhalb der Essenszeiten im großen Raum, etwas mitgehen ließ. Doch momentan war mir das egal und ich schnappte mir eines der noch warmen Fladenbrote von einem Steintisch und verstaute es in ein Tuch gewickelt in meiner Tasche, wie ich es auch immer tat, wenn ich für Arvio und seine Familie etwas zu Essen holte.
Lautlos schlich ich mich wieder zur Tür heraus und hoffte wie jedes Mal, dass mich niemand gesehen hatte, denn das würde Konsequenzen haben. Da ich keinen Ärger gebrauchen konnte ging ich hastig weiter, wobei ich mit eng umschlungener Tasche auf dem Rückweg einen Abstecher zum Wasserfass machte um meinen Trinkbeutel mit frischem Wasser zu befüllen, bevor ich leichtfüßig wieder zurück zu den Löwenkäfigen ging, wo ich Daryan aufmerksam warten sah.

"Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen.", gab er lachend von sich und dem schiefen Grinsen auf seinen Lippen nach zu urteilen wusste ich, dass er keine Sekunde lang daran gezweifelt hatte, dass ich nicht zurückkommen könnte.
"Sei ruhig." Ich konnte nicht anders als zurückzulächeln, während ich den Schlüssel aus meiner Tasche zog, die Tür zu seinem Käfig aufschloss und sie öffnete, wobei das alte Metall leise knarzte. Ohne zu zögern ging ich hinein und kniete mich neben ihn, nachdem ich die Tür wieder von innen verschlossen hatte, sodass er nicht abhauen konnte. Mit einer raschen Bewegung legte ich die Tasche neben mir ab und streckte mich zu Daryan, um ihm die Fesseln um seine Handgelenke zu lösen. Doch plötzlich ließ mich etwas innehalten und ich biss die Zähne zusammen. Was war nur mit mir los? War ich vollkommen wahnsinnig geworden? Er könnte mich sofort wieder angreifen, wenn ich die Seile lösen würde. Dann wäre ich gefangen mit ihm in diesem Käfig.
Keine Chance zur Flucht.
Keine Chance zu Überleben.

"Pharanee..." Seine Stimme war ganz leise. Ganz sanft. "Ich schwöre dir bei allen Göttern, dass ich dir nichts tun werde." Sein Gesicht verzog sich schmerzerfüllt und seine Stimme wurde rauer. "Ich bereue es so sehr, was ich getan habe. Obwohl ich mir nichts sehnlicher als die Freiheit wünsche, hätte ich das nicht tun sollen."
"Wieso bereust du?" Entschlossen packte ich ihn mit den Fingern in den Haaren und drückte ihm den Kopf ein wenig in den Nacken, sodass ich ihm in die Augen schauen konnte. "Niemand wie du bereut. Deinesgleichen wird geboren um zu Töten. Was hätte da ein Leben mehr oder weniger ausgemacht?"
"Nein..." Unbeirrt sah er mir in die Augen und ich wusste, dass er die Wahrheit sprach. "Du hast mir geholfen, mich gerettet. Und ich danke dir, indem ich dich angreife. Das war nicht nur unehrenhaft. Das war vollkommen niederträchtig." 
Langsam löste ich die Finger aus seinem weichen, schwarzen Haar und ließ meine Hände erneut zu seinen Handgelenken wandern. Wie von selbst lösten meine Finger die Knoten des Seils, das sich mit roten Striemen auf seinen Handgelenken abzeichnete.
"Ja, das war es." Ich warf ihm einen letzten schuldzuweisenden Blick zu, bevor ich mich wieder zurücklehnte und meine Tasche zu mir zog, um den gefüllten Wasserbeutel herauszunehmen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie er sich die Handgelenke rieb und kurz die Schultern kreisen ließ. Diese Körperhaltung muss schrecklich schmerzhaft für ihn gewesen sein und ich konnte fühlen wie sich ein schlechtes Gewissen in mir breit machte.

Mit gesenktem Blick reichte ich ihm den Wasserbeutel, den er ohne zu Zögern entgegennahm und ihn sich nach dem Öffnen an die Lippen führte. Ich hörte nur sein gieriges Schlucken, bis mich etwas am Arm striff. Es war seine Hand, in der er mir den scheinbar leeren Behälter entgegenhielt.
"Danke." Ein Lächeln brachte sein Gesicht zum Leuchten und diesmal erschienen mir seine spitzen Reißzähne weitaus weniger gefährlich. Im Austausch gegen das frisch gebackene, noch warme Brot nahm ich den Wasserbeutel entgegen und verstaute diesen wieder, während Daryan begann sich immer wieder kleine Stücke des Fladenbrotes abzureißen. Sein gesamter Bewegungsablauf wirkte unbeholfen, beinahe kindlich. Und wie er aß. Wie als wäre er nicht in Menschen- , sondern in Tiergestalt.
"Wie lange warst du schon kein Mensch mehr?"
Kauend hielt er inne, bevor er antwortete: "Ich war noch nie ein Mensch." Das schiefe Lächeln auf seinen Lippen wandelte sich in ein leises Lachen, bevor er wieder ernst wurde. "Niemand hat mich leben lassen wie einen Menschen, selbst wenn ich in dieser Gestalt war."
"Ich meinte-"
"Ich weiß, was du meintest.", unterbrach er mich sacht und sah mich an, während er die Hand hob und sich das Haar aus der Stirn strich. "Ich war bereits mehrere Jahre nicht mehr in dieser Gestalt." Er sah an sich hinab und sah schließlich wieder zu mir. "Fällt das etwa so sehr auf?"
Ich betrachtete ihn kurz, bevor ich den Blick auf meine in meinem Schoß liegenden Hände senkte. "Ein wenig..."

Was waren mehrere Jahre wohl in seinem Leben? Nach allem, was man sich erzählte wurden Hautwechsler sehr, sehr alt. Und wenn man den Erzählungen wirklich Glauben schenkte, gab es sogar einen Gestaltwandler, der bereits seit drei Jahrhunderten auf dieser Welt weilte. Alle nannten ihn nur den Rächer, da er nach seiner Flucht all seine Besitzer heimgesucht und brutal ermordet haben soll. Doch ich denke, das ist nichts weiter als ein Ammenmärchen, um den Kindern Respekt zu lehren.
"Wie alt bist du Daryan?" Ich sah weiter hinab auf meine Hände, deren Finger nervös miteinander zu spielen begannen.
"Zweiundzwanzig." Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: "Ist das irgendwie von Bedeutung?"
Meine Finger verknoteten sich ineinander. Hatte er bereits jetzt durchschaut worauf ich hinaus wollte? Mit Bedacht hob ich den Kopf.
"Stimmt es, dass ihr so alt werden könnt, wie die Weisen es sich erzählen?"

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