Kapitel 10: " Vielleicht säße ich dann auch hier mit ihr."

Sorgsam legte ich die Skizze in die reichlich verzierte Blechbox auf meinem Tisch und verschloss diese. Sie stammte noch von meiner Mutter und ich hütete sie wie einen Schatz. Schnell erhob ich mich von meinem Stuhl als mein Vater das Zimmer betrat. Sein Blick schweifte umher, bis er schließlich an mir hängen blieb und mich ausführlich betrachtete. "Geh baden und mach dich hübsch meine Kleine. Wir sind heute Abend zum Essen bei deinem Verlobten Kian und seiner Familie eingeladen." Bei Kian? Augenblicklich verzog ich das Gesicht. Das letzte Mal endete in einer Katastrophe, weil Kian mich küssen wollte und ich ihm daraufhin einen Schlag ins Gesicht verpasst habe. Seine Eltern haben mich angeschrien, Vater mich geschlagen.
Widerwillig setzte ich mich in Bewegung, ging an ihm vorbei aus meinem kleinen Zimmer und durch den langen Flur mit der hohen Decke, in dem meine Schritte, trotz dass ich flache Sandalen trug, laut widerhallten. Hier und dort ein "Guten Tag" zu einem der anderen Bewohner, bis ich schließlich das Haus durch die Tür verließ und mich auf den Weg zu den Badehäusern machte. Es dauerte nicht lange bis ich dort ankam, doch die sengende Hitze trieb mir sofort den Schweiß ins Gesicht. Sobald ich die Tür öffnete schlug mir ein starker Geruch nach Kräutern, altem Gemäuer und Schweiß entgegen, was mich dazu verleitete mich schnell auf den Weg zu einem der großen runden Becken zu machen, in dem die wenigsten Leute saßen. Die Badehäuser waren zwar in gesonderte Bereiche für Mann und Frau unterteilt, jedoch wollte ich mich genauso wenig vor alten Frauen entblößen müssen, die jeden Tag die Baderäume besetzten. Hastig trat ich mir die Schuhe von den Füßen und zog mir die Träger aus dicken Kordeln von den Schultern, die dafür sorgten, dass der lange Stoff meinen Körper bedeckt hielt. Mein Blick senkte sich und ich sah zu, wie das Kleid leise raschelnd von meinem von der Sonne gebräunten Körper hinab auf den Boden glitt und sich dort in einem unförmigen Haufen sammelte. Das Gerede der Frauen schwoll zu einem schier unerträglichen Lärm an, weshalb ich mir sofort wünschte wieder nach draußen gehen und durchatmen zu können. Jedoch würde das erst gehen, wenn ich mich gewaschen hätte, weshalb ich auch ohne große Umschweife in das Becken mit dem klaren Wasser stieg. Wie jedes Mal, wenn ich hier war fragte ich mich, wie das Wasser aus der großen unterirdischen Quelle so sauber sein konnte, doch anscheinend musste ich mich damit zufrieden geben, dass es schlichtweg so war. Schnell stieg ich die Treppe in das Becken hinab, bis mir das Wasser bereits bis zur Hüfte reichte und diese sacht umspielte, bis ich mich schließlich auf einer der ins Becken gemauerten Bänke niederließ, auf denen die anderen Badegäste bereits Platz genommen hatten und ausgelassen Konversation betrieben. Flüchtig ließ ich meinen Blick über eine Mutter mit ihren zwei Kindern gleiten, welche wahrscheinlich im gleichen Alter wie Arvio waren. Sie sahen glücklich aus, wie sie von ihrer Mutter gewaschen und gekämmt wurden. Hätte meine Mutter das auch getan, wäre sie nicht gestorben? Vielleicht säße ich dann auch hier mit ihr. Sie würde mich zwar nicht mehr waschen, aber wir würden uns unterhalten und sie würde mir das lange Haar zu einem Zopf flechten. Aber so etwas hatte ich nie und werde ich auch nie haben, das hat das Schicksal bereits besiegelt. Stattdessen begann ich mir selbst das Haar in dem klaren, nach Kräutern duftenden Wasser zu waschen und es mit meinen Finger sacht durchzukämmen. Ich ließ meine Finger immer und immer wieder durch das im Wasser weich fließende Haar gleiten, bevor ich von der Bank rutschte und komplett untertauchte. Hier unten konnte ich die aufgeregten Stimmen nur noch gedämpft murmeln hören, während das Wasser in meinen Ohren rauschte, wie als stünde ich mitten im Meer. Ich war noch nie am Meer, aber so stellte ich es mir vor. Sanft wiegend. Leise rauschend.
Ich konnte bereits spüren wie sich mir die Kehle zuschnürte, weshalb mein Verstand mir sagte, dass ich auftauchen musste. Doch ich wollte noch nicht. Stattdessen verweilte ich mit geschlossenen Augenlidern unter der Wasseroberfläche, bis ich nicht mehr anders konnte als aufzutauchen und gierig die Luft in meine Lungen zu saugen. Es war ein so befreiendes Gefühl.
Als ich alle Blicke auf mich gerichtet spürte, wandt ich mir hastig die Haare aus, die mir nun nass am Rücken klebten, als ich aus dem Becken stieg. Ohne Umschweife tapste ich über den steinernen Boden zu meiner Kleidung, wobei ich nasse Stellen auf meinem Weg hinterließ. Mein Kleid lag noch genau so, wie ich es zurückgelassen habe auf dem Boden, was hatte ich auch anderes erwartet? Zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein schlüpfte ich hinein und zog mir die Träger über die Schultern, wobei der Stoff sich sanft an meinen noch immer nassen Körper schmiegte. Mit den Füßen schlüpfte ich derweil in die Sandalen und schnürte die Bänder um meine Knöchel, sodass ich festen Halt in meinem Schuhwerk besaß.
Mittlerweile war die Luftfeuchtigkeit hier drinnen noch drückender geworden, weshalb ich mich sofort auf den Weg nach draußen machte, wo es zwar immer noch heiß, aber wenigstens trocken war. Im Moment beneidete ich die Frauen edlen Blutes, die unter Sonnensegeln durch die Straßen der Stadt getragen wurden und keinen Finger rühren mussten, sondern denen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wurde.

"Möchte die Dame frisches Obst kaufen? Beste Ware. Direkt importiert." Mein Blick senkte sich zu einem buckligen, alten Mann, der einen knarzenden Karren mit buntem Obst vor sich hinschob und nun vor mir stehen geblieben war. Fordernd schaute er mich aus seinen blassen Augen an und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. "Hm?" Hastig schüttelte ich den Kopf. "Vielen Dank, aber ich trage selten Geld bei mir. Ihr solltet es dort drüben einmal versuchen." Ich deutete zu einer Gruppe in durchscheinende Tücher gehüllte Frauen, die munter plaudernd im Schatten einer Palme saßen. Er nickte mir freundlich zu und machte sich mit kleinen Schritten auf den Weg zu den Frauen, während ich mich ebenfalls in Bewegung setzte und den großen Platz überquerte, auf dem an guten Tagen viele Stände mit den unterschiedlichsten Waren aufgebaut waren. Ich setzte meinen Weg durch die kleinen Gassen fort, bis ich unser Haus wieder erreichte. Es ragte als eines der vielen großen Gebäude kaum aus dem Bild der Stadt heraus, wie es zum Beispiel die reich verzierten Herrenhäuser taten. Die Flügeltüren knarrten leise, als ich den hohen und breiten Flur betrat, was mir einmal wieder vor Augen führte in welch armseligen Verhältnissen mein Vater und ich, genau wie alle anderen in diesem Haus lebten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top