Kapitel 3 - Freundschaft


Die beiden Engel gleiten nebeneinander durch die Lüfte. Unter ihnen zeihen endlose weite Wiesen vorüber und andere Engel kreuzen des Öfteren ihre Flugbahn. Viele haben es eilig, andere fliegen ganz gelassen über die Grünflächen und pflücken Blumen, die dort in Hülle und Fülle wachsen.

Auf einem kleinen Hügel sehen sie eine größere Anzahl Engel in einem Halbkreis sitzen. Diese lauschen andächtig einem aufrecht stehenden Engel. Er unterrichtet die anderen über das Benehmen auf der Erde und erklärt ihnen gerade, dass es den Menschen auf der Erde nicht möglich ist, sie zu sehen. Deswegen müssen sie als Schutzengel lernen, mit welchen Methoden sie ihren Schützling am besten vor Unheil bewahren. Dabei sei jedoch immer zu beachten, dass ein Schutzengel niemals direkt eingreifen darf. Denn dies verstößt gegen das Gesetz der Balance, das von den zwei Seiten verfasst wurde und wird sehr hart geahndet. Es entsteht ein leiser Aufruhr unter den Schülern, die sich beschweren. Wie sollen sie denn die Menschen beschützen, ohne eingreifen zu dürfen? Doch die Antwort des Lehrers hören Asfahrel und Darrien nicht mehr, da sie bereits wieder außer Reichweite sind.

„Kannst du dich noch daran erinnern, als du deine Zeit als Schutzengel auf der Erde verbrachtest?", fragt der Schwarze den Weißen.

„Ja. Es war sehr anstrengend. Manchmal glaubte ich, dass mein Schützling das Unglück gerade so anzog„ ,lacht der Jüngere. „Einmal musste ich alle meine telepathischen Kräfte aufbieten, um den Jungen davon abzuhalten, von einer 15 m hohen Klippe zu hechten. Er wollte seinen Freunden beweisen, dass er den Mumm besitzt, von dort ins Wasser zu springen. Hätte er das getan, hätte er sich den Schädel an einem Riff zerschmettert."

Darrien schüttelt den Kopf über diese Unvernunft.

„Ich glaube, ich habe mindestens eine Viertelstunde damit zugebracht, an seine Vernunft zu appellieren und ihm Bilder gesandt. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig als ihm ein Gedankenbild seiner Leiche mit zertrümmertem Kopf zu senden. Erst dann wandte er sich von seinem Vorhaben ab."

Der Engel schaut seinem dunklen Freund direkt in die Augen.

„Aber wieso fragst du mich das? Kannst du dich noch an deine Lehrzeiten erinnern?"

„Nein," antwortet der Seraph traurig.

„Es ist schon zu viele Jahrhunderte her. Die einzige Erinnerung, die ich noch an meine Anfänge habe, ist meine Ernennung zum Kriegerengel...„ , flüstert er melancholisch.

„Warum so traurig? Es ist doch großartig, für die Verteidigung der himmlischen Grenzen zu kämpfen und dieses Dämongezücht zu vernichten!„ 

Der weiße Engel sieht Asfahrel mit glühenden Augen an. Dieser schüttelt jedoch nur unmerklich den Kopf. Mit rauer Stimme fragt er Darrien:

„Du findest es also toll, deine Kameraden zu töten?„

„Dass ich nicht lache! Ein gefallener Engel hat jedes Recht auf seine Existenz verwirkt. Er hat sich vom Herrn abgewandt und uns verraten! Wie kannst du da noch von Kameraden reden?„ ,entgegnet der Thron wütend.

Ein resignierter Seufzer entwindet sich dem Älteren. Er will gerade zu einer Antwort ansetzen, als ihn plötzlich etwas großes Gefiedertes mit voller Wucht direkt von vorne trifft. In einem Wirbel von schwarzen und weißen Federn stürzen die zwei ineinander verhedderten Engel zu Boden. Es ertönt ein gewaltiges „Rumms!" Der Seraph rappelt sich als erstes wieder auf, gerade als Darrien neben ihm landet. Hilfreich streckt der Freund ihm die Hand hin. Dankend nimmt sie Asfahrel an und steht etwas wackelig auf. Nachdem er Gras und Erde von seiner Kleidung und seinen Flügeln geklopft hat, wendet er sich verwirrt dem Dritten Engel zu. Dieser hat kurze weiße Haare, weiße Flügel und trägt eine unscheinbare graue Kutte. Eine Brosche aus lediglich einem schmucklosen roten Stein ziert seine Brust. Der junge Engel schaut völlig erschrocken auf und seine Augen weiten sich panikerfüllt, als er der Brosche seines Gegenübers gewahr wird.

„Oh... es tut mir leid, großer Seraph! Bitte verzeiht meine Tollpatschigkeit!" stottert der noch immer auf dem Boden sitzende verängstigte Engel.

„Wie kannst du es wagen? Hast du keine Augen im Kopf, Grigori? „ , herrscht der Angesprochene den in völliger Ehrfurcht erstarrten Jungen an. Dem Unfallverursacher entgeht dabei keineswegs das gefährliche Glitzern in den Augen des Schwarzen Engels.

„I...I... Ich bitte um Verzeihung, großer Seraph. Es war keine Absicht! Das müsst ihr mir glauben! Ich würde doch niemals...„ , antwortet der junge Engel jetzt äußerst eingeschüchtert.

Daraufhin muss Darrien unwillkürlich kichern. Erschrocken sieht ihn der Grigori an. Da brechen die beiden Freunde in schallendes Gelächter aus und können sich kaum noch auf den Beinen halten vor Lachen. Das vermeintlich gefährliche Glitzern in den Augen des mächtigen Engels war lediglich das Aufblitzen des Schalkes gewesen. Denn der Seraph hatte sich nur einen kleinen Scherz mit dem Engel in Ausbildung erlaubt. Asfahrel geht einen Schritt auf den nun total perplexen und verunsicherten Engel zu, geht vor ihm in die Hocke, legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter und schaut ihm lächelnd in die smaragdgrünen Augen.

„Es tut mir leid. Wir haben nur Spaß gemacht. Ich hoffe, du nimmst mir die Sache nicht allzu übel. Du hast so erschrocken ausgesehen, als du mein Rangabzeichen gesehen hast. Da konnte ich einfach nicht anders. Und schließlich musste eine kleine Lehre fürs Anrempeln auch sein." Und lächelt den jungen Engel schelmisch an.

„Ehrlich?" fragt der Grigori und streicht sich schüchtern seine weißen Haare aus dem Gesicht.

„Ganz ehrlich. Wie heißt du, Kleiner?"

„Ich bin Sorel. Ich bin erst seit heute morgen ein Liebesengel."

„Weißt du, den meisten Neuankömmlingen geht es so wie dir, wenn sie das erste Mal einen so hochrangigen Engel wie mich sehen. Sie erstarren in Ehrfurcht und haben Angst etwas falsch zu machen. Es war zwar deine Schuld, dass wir abgestürzt sind, aber deswegen brauchst du nicht gleich in Panik zu verfallen, Sorel. Ich mag vielleicht schon ein paar Jahrtausende mehr Erfahrung haben als du, dennoch bin auch ich nur ein Engel wie jeder andere."

„Nein! Nicht wie jeder andere. Ihr seid der legendäre Schwarze Engel, Seraph Asfahrel. Der beste Schwertkämpfer unter Gottes Gnaden und man sagt, dass es keinen Engel im Himmel wie auf Erden gibt, der sich mit euch auch nur annähernd messen kann. Wie könnte je irgendein Engel sich mit euch gleichstellen wollen? „ ,voller Ehrfurcht und Respekt sieht der unerfahrene Himmelsbote sein großes Vorbild an.

Erneut resigniert, seufzend steht der soeben Gehuldigte auf. Noch immer grinsend sagt Darrien zu ihm:

„Gib es auf, mein Freund. Du bist nun mal berühmt. Daran wirst du nichts ändern können."

„Da hast du wohl Recht." Murmelt der Schwarzgekleidete.

„Wie immer!", gibt der Weiße frech grinsend zurück.

Mit einem bösen Blick erwidert Asfahrel die Herausforderung seines Freundes. Doch dessen Grinsen wird dadurch nur noch breiter. Verwundert betrachtet Sorel diese kleine Auseinandersetzung zwischen den beiden so ungleichen Engeln. Er spürt die tiefe Freundschaft zwischen ihnen und ist stolz, den berühmten Seraph einmal persönlich angetroffen zu haben. Und er ist ebenso froh, dass die ganzen unheimlichen Geschichten über ihn nicht zu zutreffen scheinen. Denn der Asfahrel der nun vor ihm steht, ist ein komplett anderer als der, von dem seine Mitschüler zu berichten hatten. Er ist nicht der blutrünstige und rachsüchtige Dämonenjäger, den der ganze Himmel beschreit, sondern wie Sorel jetzt gerade eben herausgefunden hat, ein sehr warmherziger und humorvoller Engel, der sich nicht scheut, einem Neuling wie ihm die Hand zu reichen. Mit einem neuen glücklichen Lächeln unterbricht er die aufkeimende scherzhafte Rauferei der beiden Freunde.

„Es war mir eine Ehre Euch kennenlernen zu dürfen, Seraph Asfahrel."

Er verbeugt sich elegant vor dem Angesprochenen.

„Und Euch natürlich auch, Thron Darrien," gefolgt von einer erneuten Verbeugung, bei der die Flügel Sorels leise rascheln.

„Es war uns ebenso eine Freude, Sorel.", erwidern die beiden Freunde.

„Ich muss zu meinem Unterricht. Deswegen war ich so in Eile, bin viel zu spät dran." Mit einem schüchternen Lächeln breitet er seine Flügel aus, nickt den beiden noch mal zu und fliegt davon.

Asfahrel sieht ihm nachdenklich hinterher.

„Irgendwie erinnert er mich an einen gewissen anderen Engel mit weißen Flügeln...." Ein Lächeln huscht über die Lippen des Seraphs.

„Willst du damit etwa andeuten, dass ich früher auch so tollpatschig war?" empört sich Darrien.

Asfahrel lacht.

„Nein, das nicht. Aber als du mir das erste Mal begegnet bist, hast du ganz ähnlich reagiert."

„Ach das meinst du", lacht nun auch Darrien. „Stimmt. Du warst damals schon Seraph und ich bin erst ein paar Wochen dem Ei entschlüpft gewesen."

Darriens goldene Augen nehmen einen verträumten Blick an.

„Damals war ich auf dem Weg zum Wolkenpalast, um meinem ersten Schützling zugeteilt zu werden. Da sah ich dich alleine an der Grenze sitzen."

„Du hattest dich hoffnungslos verlaufen.", neckt Asfahrel.

„Stimmt." Und grinst.

Doch dann sieht der Thron seinen Freund ernst an.

„Du machtest damals einen sehr traurigen Eindruck, weißt du das eigentlich?"

Der schwarze Engel schüttelt den Kopf. Darrien fährt fort:

„Ich sah dich dort sitzen und das einzige, an das ich in dem Moment denken musste, war: Er braucht Hilfe! Also bin ich zu dir hin. Ich sprach dich an, aber du reagiertest überhaupt nicht. Also nahm ich deine Schulter und rüttelte daran. Erst dann erwachtest du aus deiner Starre und drehtest dich zu mir um."

„Du bist vor Schreck umgefallen, als du gesehen hast, wen du da eben so respektlos gestört hattest."

Beide lachen.

„Ja, ich konnte vorher dein Abzeichen schließlich nicht erkennen. Als ich dann die Brosche mit sechs Flügeln sah, hat es mich einfach umgehauen. Als Grigori hätte ich niemals damit gerechnet, einem Seraph persönlich gegenüber zu stehen. Und dann auch noch ausgerechnet dem Großen Seraph Asfahrel. Ich hatte schon Angst, dass du mich vor lauter Wut einen Kopf kürzer machst, wortwörtlich."

„Ehrlich? So was würde ich doch nie tun!„ ,sagt der erstaunte Krieger.

Darrien lacht.

„Das wusste ich doch aber nicht! Ich hatte jedenfalls mit einer Bestrafung gerechnet. Doch du hast mich nur sanft angesehen und mich gebeten, mich neben dich zu setzen. So wurden wir Freunde und ich kam zu spät in den Palast. „ ,tadelt Darrien.

„Hey, ich habe dich begleitet und dich entschuldigt, damit du nicht bestraft wurdest. Ein bisschen Dankbarkeit bitte!„ ,lächelt der Schwarze verschmitzt.

„Ist ja schon gut. Habt Dank, oh großer Seraph!"

„Ich geb dir gleich, du!" lacht Asfahrel auf, nimmt seinen Freund in den Schwitzkasten und verpasst ihm eine Kopfnuss. Als Darrien sich nach einer kurzen Rauferei befreit hat, sagt er plötzlich:

„Hey, hätten wir nicht eigentlich schon längst im Wolkenpalast sein sollen?"

Erschrocken sehen die beiden sich an und stürzen wie auf einen geheimen Ruf hin los.

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