Kapitel 2 - Schwarz und Weiß
Sonst weiß sie immer gleich zu Beginn, dass sie eine Vision hat. Normalerweise bekommt sie auch nur welche, wenn sie schläft. Und sie ist sich sicher, dass dies gerade nicht der Fall ist. Sie kam schließlich gerade aus der Schule. Für gewöhnlich verlaufen ihre Visionen auch immer nach demselben Muster: Wenn sie im Bett liegt und schläft, spürt sie, dass etwas anders ist. Sie schlägt dann ihre Augen auf und befindet sich schwebend in einer Art Zwischendimension. Hier ist sie umgeben von Nebeln, in denen sich nach und nach Bilder herauskristallisieren. Dann wird sie meistens von einem Bild irgendwie magisch angezogen. Sie schwebt immer näher zu diesem Bild, bis sie schließlich darin eintaucht. Dann durchläuft sie die Vision stets als unbeteiligte Beobachterin, so als würde sie sich einen Kinofilm anschauen. Doch diesmal ist sie von einem Augenblick auf den anderen wortwörtlich in die Vision hineingelaufen und hatte es noch nicht einmal mitbekommen.
Also eine normale Vision ist dies nicht. Dann bleibt ihr wohl nichts anderes übrig als abzuwarten, was weiter passiert. Vielleicht wird sie dann schlauer. Es muss schließlich einen Grund dafür geben, dass sie hier ist. Beim Schultern ihrer Tasche spürt sie, dass sich etwas verändert hat. Sie hat das Gefühl beobachtet zu werden. Einer Eingebung folgend schaut sie zu dem geheimnisvollen Schläfer hinab.
Doch er schläft nicht mehr. Im Gegenteil, er blickt sie sogar direkt an! Er kann sie sehen! Wie kann das sein?
Der nun wache Mann setzt sich auf, ohne Yumeko dabei auch nur einen Augenblick aus dem Blick zu lassen. Seine Haare fallen bei der Bewegung sanft um seine Schultern. Es sieht so aus, als würde er von einem schwarzen Wasserfall umgeben sein.
„Hallo...", ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen und seine tiefblauen Augen schauen sie freundlich an.
„Ha...Ha... Hallo...!" kann sie nur stottern.
Yumekos Gedanken sind mit einem Mal wie weggeblasen. Sie hat nicht gedacht, dass er wach noch besser aussehen würde, als er es während des Schlafens schon getan hat! Das Mädchen hat das Gefühl, diese blauen Augen würden ihr bis tief in die Seele blicken, sodass keines ihrer Geheimnisse vor ihm verborgen bliebe. Und seine Stimme ist so unglaublich sanft und freundlich, dass sie ihm auf Anhieb vertraut. Ihn scheint eine sanfte Aura des Lichts zu umgeben und sie fühlt sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise sicher und geborgen. Vielleicht wie sich ein Kind auf dem Schoss seiner Mutter fühlen mag. Ihr fällt es schwer, woanders hin zu schauen als in seine Augen, und sie muss das drängende Bedürfnis unterdrücken, sich ihm in die Arme zu werfen und ihn zu umarmen.
„Wer ist das nur?" denkt sie.
„Schleichst du dich immer so an wehrlos schlafende Männer heran?", fragt er sie.
„Ich äh, also, nun äh. Ich habe mich wohl verirrt und wollte nur nach dem Weg fragen. Ich hatte nicht vor mich anzuschleichen, sie haben geschlafen und... „, entgegnet sie mit hochrotem Kopf und traut sich nicht ihn weiterhin anzublicken.
Plötzlich hört sie ein klares warmes Lachen. Erstaunt schaut sie auf. Der Mann hatte nur Spaß gemacht! Yumeko sieht ein amüsiertes Glitzern in seinen Augen. Er hatte ihre Überraschung ausgenutzt. Ein bisschen ist sie jetzt beleidigt.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.", sagt er sanft, als er ihr empörtes Gesicht sieht. Er scheint tatsächlich ein schlechtes Gewissen zu haben, denn etwas zerknirscht lächelt er sie an. Als er mit einer eleganten und vollkommen leicht wirkenden Bewegung aufsteht, schießt ihr nur ein Gedanke durch den Kopf: Er ist groß!
Tatsächlich ist er zwei Köpfe größer als Yumeko. Seine Haare reichten tatsächlich bis zu den Knöcheln. Ungläubig schaut sie zu, wie die seidig glänzenden schwarzen Haare, belebt durch die Bewegung, leicht in Richtung Boden gleiten.
„Man nennt mich Seraph Asfahrel und wer bist du?", stellt er sich vor.
„Yumeko! Ich heiße Yumeko„ ,antwortet sie ganz verdutzt.
Seraph... dieser Begriff kommt ihr vage bekannt vor, wo hatte sie das nur schon mal gelesen?
Genau! In einem Manga war davon mal die Rede gewesen: Seraph ist eine Rangbezeichnung für Engel in der Bibel. Seraphim sind die schönsten und mächtigsten Wesen im Himmel und stehen in Gottes Gunst am höchsten. Sollte sie es tatsächlich mit so einem überirdischen Wesen zu tun haben? Das würde zumindest seine Ausstrahlung und die Anziehung, die er auf sie ausübt, erklären. Wenn er aber wirklich ein Engel sein sollte, müsste er dann nicht auch Flügel haben?
„Yumeko also, ein interessanter Name." unterbricht er ihren Gedankengang. „Nun, du wolltest wieder nach Hause, oder?"
Erstaunt sieht sie ihn wieder an. Hatte sie erwähnt, dass sie nach Hause wollte? Nein, sie hatte lediglich erklärt, dass sie sich verlaufen hatte. Woher weiß er das also? Oder hat er es nur erraten? Wie auch immer. Es hilft ihr jetzt nicht weiter darüber nachzugrübeln.
„Ja, ich möchte wieder nach Hause. Könnten Sie mir sagen, wie ich heimkomme?"
„Natürlich kann ich dir sagen, wie du wieder nach Hause kommst. Es ist ganz einfach."
Der Seraph lacht leise.
„Warum sollte es auch nicht einfach gehen? Es ist ja nicht so, dass du aus einer anderen Welt kommst."
Erschrocken schaut Yumeko auf. Was hatte er da gerade gesagt? Prüfend blickt sie ihn an, sollte er ahnen, wie sie hierher gekommen war? Wie kann das möglich sein, sie weiß es ja selbst nicht genau. Doch Asfahrel entgegnet ihrem Blick ganz freundlich – nicht ohne dieses umwerfende Lächeln auf den Lippen zu haben wohlgemerkt.
Yumeko schaut an sich herunter. Durchscheinend ist sie noch immer. Sieht er sie ebenfalls so? Das wäre ja dann eine Erklärung, oder?
„Wie bist du denn hierher gekommen?", fragt er sie mit sanfter Stimme.
„Lass mich raten...", sagt er langsam und sieht aus, als würde er nachdenken: „Du bist den Bach entlanggekommen, oder?" Mit einem Zwinkern in den Augen lächelt er sie wieder an.
Dieses Lächeln ist so überwältigend, dass ihr ganz schwindlig wird.
„Äh...." ist die einzige Antwort, die ihr in diesem Augenblick einfällt.
„Na, dass ist ja dann noch einfacher.", sagt er geheimnisvoll, „Du läufst das Stück einfach zurück, das du hierher zurückgelegt hast."
Ungläubig starrt ihn Yumeko an. Das sollte alles sein? Nur wieder auf denselben Weg zurücklaufen?
„Da...danke!" stammelt sie verwundert.
Der Seraph lächelt sie ermunternd an.
„Lauf einfach wieder zurück, dann kommst du wieder nach Hause."
„Okay."
„Also, Yumeko. Komm gut Heim!„ verabschiedet er sich, als ein Ruf hinter ihr ertönt.
„Asfahrel!", ruft jemand erneut.
Yumeko dreht sich herum, um zu sehen, wer da gerufen hat. Aber sie kann niemanden sehen. Von wem ist der Ruf denn aber dann gekommen?
Plötzlich hört sie ein Rauschen über sich. Es klingt, als würde ein riesiger Vogel angeflogen kommen. Verwirrt blickt sie auf und traut ihren Augen kaum.
„Ein junger Mann fällt vom Himmel!", denkt sie im ersten Moment.
Bis ihr klar wird, woher dieses Geräusch von schlagenden Federschwingen kommt. Als der Mann nach einer eleganten Ladung auf dem Boden steht, sieht sie, dass er in Höhe der Schulterblätter zwei wunderschöne riesige Schwingen hat, bei denen sie spontan an weiße Brieftauben denken muss. Fasziniert betrachtet das Mädchen den Engel. Er trägt eine weiße Robe, welche mit Goldfäden durchwirkt ist, die glitzern, sobald ein Sonnenstrahl darauf trifft. Yumeko sieht auf seiner Brust ebenfalls eine Brosche. Sie ähnelt der Asfahrels, nur dass die des weißen Engels aus nur zwei Flügelpaaren besteht. Sie sind ebenfalls durch einen blauen Edelstein in der Mitte verbunden.
Sein Gesicht ist ebenso schön wie das des Seraphs. Und auch ihn umgibt dieses unglaublich helle aber sanfte Licht, das in ihr dieses wohlige Gefühl auslöst. Seine kurzen schwarzen Haare fallen ihm frech ins Gesicht und er streicht sie mit einer geschmeidigen Bewegung aus seinen Augen, die eine sanftgoldene Farbe haben, so ähnlich wie Herbstlaub in der Sonne. Er ist ungefähr einen halben Kopf kleiner als Asfahrel und wirkt jünger, obwohl es Yumeko unmöglich ist, sein Alter zu schätzen.
„Ich habe geahnt, dass ich dich hier finden würde. Niemand hält sich lieber an der Grenze auf als du„ ,begrüßt der unbekannte Engel lachend den erstaunten Seraph.
„Darrien!", hört sie Asfahrel noch vor Freude rufen, bevor sie sich lachend gegenseitig in die Arme fallen. Nach einer herzlichen Umarmung lösen sich die beiden voneinander und Asfahrel ist sichtlich erfreut, den Anderen zu sehen.
„Du bist Anführer der Throne geworden!", spricht er sein Gegenüber an. „Seit wann?"
Yumeko horcht auf. Throne? Ein weiterer Engelsrang? Dann steht er tiefer als Asfahrel.
„Seit ungefähr einer Stunde. Aber der schwarze Engel pennt ja lieber unter den Bäumen, statt bei einer äußerst wichtigen Versammlung zu erscheinen!„ ,tadelt der Neuankömmling.
( Hä? Schwarzer Engel?)
„Oh?" Willst du damit etwa andeuten, dass ich meine Pflichten als oberster der Kriegerengel nicht ernst genug nehme? „ , entgegnet Asfahrel in gespieltem Zorn.
(Kriegerengel? – Was bedeutet das nun wieder?)
„Ich würde nie behaupten, dass du meiner Ernennung zum Anführer der Throne fernbleibst, nur um in der Sonne zu dösen!", wirft Darrien dem Anderen leicht beleidigt vor.
„Nun, ich gestehe. Du hast mich ertappt. Aber ich habe bis gerade eben noch mit einem hübschen Mädchen geplaudert. „ , erwidert der Schwarzgekleidete verschmitzt.
„Ein Mädchen? Ich habe aber keines gesehen.„ , wundert sich Darrien. Suchend schaut sich der weiße Engel um. „Bist du sicher, dass du nicht nur geträumt hast, mein Freund? Schließlich weißt du doch am Besten, dass es menschlichen Seelen nicht möglich ist aus eigener Kraft hierher zu gelangen."
Asfahrel lacht. „Ja, ich weiß. Sagen wir einfach, sie erschien mir im Traum„ ,entgegnet er geheimnisvoll lächelnd.
Der Jüngere sieht ihn nur verwirrt an.
„Aber bist du nur hier, um mir deine tolle neue Uniform zu zeigen?"
Darrien mit diesen Worten aufziehend, legt er ihm den Arm um die Schulter und strubbelt mit der Hand durch dessen kurzes schwarzes Haar.
„Ich bin zwar in der Rangfolge weit unter dir, aber glaube nicht, dass ich mich von dir schikanieren lasse!", bringt Darrien lachend hervor und schaut seinen Vorgesetzten herausfordernd an.
„Das willst du nicht wirklich, mein Freund. Du hast doch noch nie gegen mich gewonnen!„
„Da war ich auch noch kein Anführer der Throne. Diesmal besiege ich dich!„
Mit diesen Worten stürzt sich der Weiße auf den Schwarzen und ein spielerisches Raufen beginnt. Dabei weicht Asfahrel lachend den Angriffen Darriens aus und foppt diesen des Öfteren. Nach ein paar Minuten halten sich beide lachend den Bauch und schnappen erschöpft nach Luft.
„Ich sage dir doch, dass du das nicht schaffst!", keucht der Gewinner und klopft Darrien tröstend auf den Rücken.
„Jetzt habe ich dich beinahe ein Jahr nicht mehr gesehen und du erweist mir nicht mal die Gnade eines einzigen lächerlichen Treffers!", beschwert sich Darrien lachend.
Doch gerade als Asfahrel etwas antworten will, kommt etwas Großes in einen Affenzahn angeflogen. Es rast auf den großen Seraph zu und stoppt im letzten Moment. Es handelt sich um einen weiteren Engel. Er hat blondes Haar, orangene Flügel und trägt eine sonnengelbe Uniform. Er salutiert flott und überreicht Asfahrel etwas. Und dann ist er so schnell wie er gekommen ist, ist er auch schon wieder weg. Anscheinend war es so etwas wie ein Bote, denn Asfahrel entfaltet gerade einen Zettel. Während er es liest, verdunkelt sich sein Gesichtsausdruck unmerklich. Anschließend zerknüllt er den Zettel und seufzt traurig.
„Schlechte Nachrichten?"
„Sieht so aus. Der Herr verlangt nach mir. Sofort."
„Oh... Musst du etwa wieder einen Auftrag ausführen?"
„Wahrscheinlich.", murmelt er, „Dabei bin ich doch heute erst von der Erde zurückgekehrt. Ich habe mich so darauf gefreut, mit dir deine Beförderung zu feiern..... Kann er mich denn nicht einmal zur Ruhe kommen lassen?" Den letzten Satz hatte er geflüstert.
Mitfühlend legt ihm Darrien eine Hand auf die Schulter.
„Sie es mal positiv. Diesmal kann ich dich begleiten."
Verschmitzt lächelnd fügt er hinzu: „Eines der wenigen Privilegien, die mir meine neue Stellung einbringt."
Die Aufheiterung scheint zu wirken, denn Asfahrel kann sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen.
„Dann lass uns mal gehen!"
Kaum gesprochen wachsen aus Asfahrels Rücken Flügel. Überrascht zieht Yumeko die Luft ein. Also doch! Jetzt weiß sie auch, wieso Schwarzer Engel. Asfahrels Schwingen sind ebenfalls ein gefiederter Traum. Doch sind seine Flügel nicht so weiß wie die Darriens, sondern so schwarz wie die Nacht und glänzen als wären sie aus feinster Seide. Kaum ist der Vorgang des Flügelausbreitens abgeschlossen, schlagen beide auch schon mit den riesigen Schwingen und fliegen davon.
Augenblicke später sind sie aus Yumekos Sichtweite verschwunden und sie steht nun mutterseelenallein an dem kleinen Bachlauf.
„Äh....die haben mich doch glatt vergessen...."
Dann fällt ihr wieder ein, was Asfahrel ihr gesagt hat. Und so macht sie sich auf den Weg, um dorthin zurückzugehen, wo sie hergekommen ist. Ein wenig verwundert, dass sie von den beiden überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurde.
Und sie weiß immer noch nicht, wo sie hier eigentlich ist.
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