11| Fressmops
„KFC?", fragte ich verwirrt, als Henry vor dem großen roten Gebäude anhielt und mit einem freudigen Funkeln in den Augen ebenfalls nach draußen schaute. Wieso zur Hölle waren wir bei KFC? Seit dem Anblick der Leiche war mir gehörig der Appetit vergangen, obwohl ich zu Fastfood normalerweise nie nein sagen würde. Aber was war an dieser ganzen Situation schon normal?
„Warte hier. Ich bin gleich wieder da", ordnete Henry an, rutschte aus seinem Sitz heraus und warf die Tür hinter sich zu. Verunsichert beobachtete ich, wie er auf den Eingang zurannte, an dem er kurz stehen blieb, sich umdrehte und freudig beide Arme in die Luft riss. Ein zaghaftes Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich fühlte mich schon ein wenig besser.
Das ewige Warten allein im Auto wirkte sich jedoch wieder negativ auf meinen Zustand aus, da ich meine Gedanken schweifen lassen konnte und nicht abgelenkt war. Wie ein Netz fingen die grausigen Bilder sie ein und hielten mich gefangen, sodass ich an gar nichts anderes denken konnte. Nervös begann ich, mit dem Saum meines T-Shirts zu spielen und wurde sogleich an den Song I want to break free von Queen erinnert, dessen Bandname mein Oberteil zierte. Er passte so ziemlich zu meiner jetzigen Situation, da ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mich von den Fängen der Erinnerungen zu lösen und frei zu sein. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen ständig mit dem Bild der Leiche im Hinterkopf zu leben. Aber vielleicht würde sich etwas ändern, wenn ich endlich eine Antwort auf meine Fragen hätte. Wenn ich wüsste, was wirklich passiert war. Die Ungewissheit fraß ein tiefes Loch in meine Seele und nistete sich in ihr ein wie ein Parasit.
Mir blieb beinahe das Herz stehen, als Henrys Gesicht direkt hinter der Scheibe auftauchte. Man schien mir meinen Schock angesehen zu haben, denn Henry begann zu lachen und begab sich auf den Weg zur Fahrertür, die er schwungvoll öffnete. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen", gluckste er und stellte mir einen Kartoneimer voller Hähnchenteile und drei weitere Tüten auf den Schoß, die einen angenehmen Duft und Wärme ausstrahlten. Meine Einstellung von vor ein paar Minuten überdenkend, fischte ich nach einem Stück aus dem Eimer und hob es heraus.
„Hey Fressmops, gedulde dich mal nen Sekündchen." Unvermittelt schlug mir Henry die frittierte Versuchung aus der Hand, sodass sie wieder in den Eimer plumpste. Empört und verwirrt zugleich, starrte ich ihn an und fragte mich, warum er mir das schmackhafte Essen direkt vor die Nase stellte, nur um mir dann zu verbieten es anzurühren. Das kam einer Folterprozedur gleich.
Ohne jegliche Erklärungsversuche zu unternehmen, startete er den Wagen und fuhr vom Parkplatz, während ich bei jeder noch so kleiner Unebenheit der Straße die Tüten und den Eimer ausbalancieren musste, damit sich deren Inhalt nicht auf dem Boden von Henrys Wagen ausbreitete. Wäre wirklich schade um das Essen.
Ich wurde sofort hellhörig, als ich eine leise, mir nur allzu bekannte Melodie im Radio vernahm. Ohne zu zögern, drehte ich die Lautstärke auf und ignorierte dabei, Henrys verdatterten Blick, der sich aber sofort in ein zufriedenes Grinsen verwandelte als er den Song erkannte: I want to break free von Queen. Auch ich musste ein wenig grinsen, da ich erst vor wenigen Minuten an diesen Song gedacht hatte.
„I want to break free. I want to break freee! I want to break free from your lies, you're so self satisfied I don't need you. I've got to break free!", grölte Henry und entlockte mir ein ehrliches Lachen, sodass er sich zu mir umdrehte und mich glücklich angrinste. Und ja, Freddy Mercury hatte sowas von Recht. Ich wollte den Lügen von Sheriff Rodgers nicht länger Beachtung schenken und brauchte ihn nicht. Sollte er doch behaupten, was er wollte, mich würde er damit nicht überzeugen. Egal wie oft man mir noch einzureden versuchen würde, dass ich Unrecht hatte und meine widersprüchlichen Erinnerungen als Ursache von meinem Trauma deklarierte, ich wusste, was ich gesehen hatte. Es würde nichts bringen mich selbst zu belügen – zu genau hatte ich die Leiche betrachtet. Ich hatte zwar nicht die geringste Ahnung, was diese Lügengeschichte zu bedeuten hatten, aber ich würde sie nicht auf mir sitzen lassen. Auch verdienten es ihre beiden Kinder nicht, ihr Leben lang mit einer solchen Lüge aufzuwachsen.
Henry trällerte inzwischen munter weiter und hatte es tatsächlich geschafft, mich ein wenig aufzuheitern. Die Bilder waren zwar nicht verschwunden, aber ich fühlte mich nicht mehr so allein und hilflos, da mir Henry ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte – und das, obwohl ich ihn erst seit gestern kannte.
„I want, I want, I want, I want to break freee!", ließen wir den Song gemeinsam ausklingen und lächelten uns an, als der letzte Ton verklang. „So gefällst du mir besser Nugget." Henrys Augen strahlten und ich musste über seinen neu gewonnenen Spitznamen leise kichern. „Nugget?" Er deutete auf den Eimer, der sich glücklicherweise immer noch auf meinem Schoß befand. „Du konntest es ja nicht lassen." Er zuckte grinsend mit den Schultern und blickte wieder auf die Straße. Das war vermutlich auch besser so. Einen Autounfall würde ich jetzt nicht auch noch verkraften.
Als Henry den Wagen vor der Universität parkte und ich vollbepackt die Beute aus dem Auto jonglierte, hatte sich der Campus bereits mit etlichen Schülern gefüllt. Glücklicherweise wurden mir zwei Tüten von einem gewissen netten Herren abgenommen, sodass sich das Laufen etwas weniger schwierig gestaltete. Plötzlich blieb Henry so unvermittelt vor mir stehen und drehte sich um, dass ich beinahe in ihn hinein gestolpert wäre. Fragend zog ich eine Augenbraue in die Höhe, während er mich schuldbewusst musterte. „Ich hab' doch komplett dein Bein vergessen. Kannst du überhaupt laufen?" Ich nickte ihm aufmunternd zu und humpelte in einem atemberaubenden Tempo an ihm vorbei.
Ich wusste es wirklich sehr zu schätzen, dass er mich nicht dazu drängte, ihm irgendwas von letzter Nacht zu erzählen. Er war einfach nur für mich da, heiterte mich ein wenig auf und das, obwohl wir uns erst seit gestern kannten. Henry war wirklich ein Schatz. Ich hätte mich aufgrund meiner stark aufgeprägten Neugier wahrscheinlich weniger geduldig gezeigt, wäre er in solch einer Situation gewesen. Manchmal konnte ich wirklich nervig sein.
Etwas skeptisch musterte er mich noch, ließ mich dann aber in Frieden den Campus entlang stolpern. Dennoch blieb er die ganze Zeit in meiner Nähe, wahrscheinlich um mich im Notfall auffangen zu können, wofür ich ihm wirklich dankbar war. „Wen hast du eigentlich noch alles zu unserem kleinen Seelsorgegespräch eingeladen?", fragte ich und sah zu ihm herüber. „Wie kommst du darauf, dass da noch jemand kommt?" Ihm war anzusehen, dass ihn meine Frage wirklich verwundert hatte, denn er schaute mich verständnislos an. „Na wegen den drei bis oben hin vollgestopften Tüten und dem Eimer voller Hähnchenteile?", sprach ich das Offensichtliche aus, was Henry gar nicht in den Sinn zu kommen schien. „Und warum sollen da andere kommen? Das ist alles für mich."
Ich blieb so abrupt stehen, dass ich beinahe die KFC-Tüte fallengelassen hätte. „Wie das ist alles für dich? Kein Mensch kann so viel essen." Fassungslos starrte ich ihn an. Er konnte das nicht ernst meinen. Er machte einen Scherz. Ja ganz sicher, das war nur ein Scherz. „Ja, kein Mensch, aber ein Henry schon!" Er grinste triumphierend und ich schüttelte nur ungläubig den Kopf, während ich mich wieder in Bewegung setzte. Das würde ich nicht glauben bis ich es mit eigenen Augen gesehen hatte.
***
Mit heruntergeklappter Kinnlade beobachtete ich, wie Henry den letzten Bissen seines sechsten Burgers in den Mund schob. Es war mir unerklärlich wie ein Mensch sechs Burger, 3 große Portionen Pommes, einen Wrap und 90 % eines fetten Eimers Hähnchenteile in solch einer kurzen Zeit verspeisen konnte. Aber wie er zuvor ja schon gesagt hatte: Er war kein Mensch, sondern ein Henry. Ah ja.
„Du bist unnormal", stellte ich fest, als er den Bissen herunterschluckte und sich zufrieden über die Finger schleckte. „Ich glaube das Wort, nach dem du gesucht hast war genial" Zur Bekräftigung seiner Aussage nickte er, während ich nur ungläubig den Kopf schüttelte. „Nein, ganz und gar unnormal", wiederholte ich und nickte abwesend.
Als Henry seinen Müll aufsammelte und den Berg zum Papierkorb trug, überlegte ich, wie ich ihm am besten von der letzten Nacht berichten konnte. Ich konnte ja schlecht mit der Tür ins Haus fallen und sagen „Hey ich habe eine Leiche gefunden!" Das musste ich irgendwie anders verpacken.
„DU HAST EINE LEICHE GEFUNDEN?!", schrie Henry plötzlich und schaute mich geschockt an. Hatte ich meine Gedanken laut ausgesprochen? Ups. So viel dazu, wie man es nicht machen sollte.
Ich konnte von Glück reden, dass wir etwas weiter abseits vom Campus auf dem Rasen saßen und kein Anderer in Hörweite war. Henry hatte den Becher, der sich eben noch in seiner Hand befand, fallen gelassen und starrte mich mit vor Schock geweiteten Augen an. Jaaa, deshalb wollte ich es ihm zaghaft beibringen.
„Setz dich doch", riet ich mit piepsiger Stimme und klopfte auf den Platz neben mir. Es dauerte einen Moment, ehe sich Henry aus seiner Starre löste und sich wie hypnotisiert auf dem Rasen niederließ. „Erzähl mir alles", forderte er nach einer Weile und blickte mich nun ernst an.
Also begann ich zu erzählen. Ich erzählte von meinen Erkundungsabsichten und davon wie ich mich im Wald verlaufen hatte. Von meinem Sturz und meinem... Fund. Es fiel mir wesentlich leichter jetzt mit Henry darüber zu sprechen, als heute Morgen, als ich die Geschichte im Krankenhaus aus mir rausgequält hatte – und dafür auch noch auf den Arm genommen wurde. Der Unterschied war, dass Henry mich ernst nahm und mir glaubte – Ich konnte es ihm ansehen. Er verfolgte jedes meiner Worte mit höchster Konzentration und unterbrach mich kein einziges Mal. Ich erzählte ihm auch von Sheriff Rodgers und seiner Version der Geschichte und sparte nicht daran, meinen Senf zu der Sache dazuzugeben. Bei der nächsten Sache zögerte ich einen Moment.
„Du darfst mich nicht für verrückt halten, okay? Ich habe das noch niemandem erzählt. Nicht mal der Polizei." Henry wurde hellhörig und setzte sich aufrecht hin. „Als ich im Wald war... Da habe ich Geräusche gehört." Ich stoppte und schaute nervös zu Boden, während sich mein Puls beschleunigte. „Es klang wie Plätschern von Wasser oder so. Ich bin den Geräuschen gefolgt und-" Ich musste schwer schlucken und spürte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. „und ich habe gesehen wie sich die Wasseroberfläche bewegt hat und es sah so aus... also ich meine... ich hätte schwören können-" Angespannt begann ich an dem Gras vor meinen Knien herumzuzupfen. Ausgesprochen klang es noch viel abgedrehter als in meinen Gedanken. Henry würde mich eindeutig für verrückt halten.
„Was hast du gesehen, Lou?" Ich spürte seinen Blick schwer auf mir lasten und hob den Kopf, sodass ich direkt in seine brauen Teddybäraugen blickte, die mich forschend ansahen. „Ich habe jemanden im Wasser gesehen. Er ist abgetaucht." Ich hatte gar nicht gemerkt wie ich die Luft angehalten hatte und stieß hörbar die Luft aus, nur um meine Lungen gleich darauf wieder zu füllen. „Es hätte natürlich auch sonst was sein können. Ein Blatt oder so. Oder ein Tier. Ja genau, ein Tier. Ich bin nur zu paranoid und hab mir das alles eingebildet", plapperte ich hektisch weiter, um von meinen paranoiden Wahnideen abzulenken.
„Und ich dachte, ich wäre nur zu betrunken gewesen", murmelte Henry und ich schaute ihn fragend an. „Was meinst du damit?" Ich konnte irgendwie den Zusammenhang zwischen meinen Erlebnissen und seinem Trunkenheitszustand nicht erkennen.
„Ich habe auch etwas gesehen."
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Und hier ist das neue Kapitel.
Wie fandet ihr den kleinen Ausflug von Henry und Lou? Und was könnte Henry wohl gesehen haben?
Wie immer freue ich mich über Feedback und konstruktive Kritik.
Lasst ein Sternchen da, wenn es euch gefallen hat.
LG JewelMind
PS: Ich habe ein neues Buch mit dem Namen "Golden Phoenix" gestartet. Schaut doch mal vorbei. Ich würde mich sehr freuen euch dort zu sehen.
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