2. Im Esoterikgeschäft des Grauens (2/2)

(Anmerkung: Ich hab wohl versehentlich fünf Tage lang vergessen, etwas hochzuladen, also gibt's heute zwei Kapitel ;)


Oma kam vom Abschminken der weißen Farbe im Bad erst wieder zurück, als Lara schon halb mit der Cola fertig war, die sie sich eingeschüttet hatte. Noch immer pochte ihr Herz nicht wenig, doch sie hatte sich innerlich schon viel mehr beruhigt. Ganz hatte sie diese außergewöhnliche Begrüßung noch immer nicht verarbeitet, da fing Oma, nun in einen dünnen, farbenfrohen Poncho gehüllt, die dunkelblonden, leicht grau melierten, teilweise mit Holzperlen bestückten Haare zu einen Dutt hochgesteckt, mit einer rundglasigen Brille und noch einigen Resten weißer Farbe im Gesicht auch schon ein Gespräch mit ihr an: „Tut mir leid Liebes, dass ich dich so erschrocken habe, aber ich konnte mir den Spaß einfach nicht verkneifen. Diesen Trick habe ich zuletzt vor einem halben Jahr angewandt, als ich die Putzfrau eingestellt habe. Die arme Seniora Toretti wäre fast in Ohnmacht gefallen! Aber nun erzähl mal, wie war die Anreise?"

Das darauffolgende Gespräch war etwas einseitig, was nur teilweise der Tatsache verschuldet war, dass Lara noch immer erschöpft war. Vielmehr war es so, dass sich Oma sehr über das Wiedersehen mit ihrem Lieblingsenkelkind freute, und dieser Freude mit Worten Ausdruck verleihen wollte. Mit vielen Worten.

Bald aber merkte sie es, und unterbrach ihre Ausschweifungen über die Geschichte, wie sie von der Stadt wegen der ungewöhnlichen Hausfarbe verklagt worden war, um Lara anzulächeln: „Ach, ich sehe schon, du willst dich lieber ausruhen, als dir von deiner senilen Großmutter Geschichten anzuhören. Na dann, husch husch, ab mit dir auf dein Zimmer!"

Erleichtert, nicht unhöflich sein zu müssen und das Gespräch abbrechen zu müssen, ging sie die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Auch hier wirkte alles viel wohnlicher als im Verkaufsraum, es gab ein weiteres Wohnzimmer, ein weiteres Bad und ein Gästezimmer, welches zu Laras Entsetzen in einem stechenden Neon türkis gehalten war. Na gut, dann müsste halt das Sofa im zweiten Wohnzimmer als Schlafplatz herhalten. Außerdem konnte man von hier auf den Balkon gehen. Doch bevor sie sich ans Auspacken machte, wollte sie noch kurz den Rest des Hauses erkunden, denn wie sie soeben bemerkt hatte, führte die Treppe weiter in einen dritten Stock, und damit anscheinend in einen Dachboden. Anders als der restliche Teil der Treppe, waren hier die Stufen aus einem dunkleren Holz, und staubiger als der Rest, so als ob sie lange niemand mehr benutzt hatte. Ein weiteres Mal ging sie um die Biegung, und gelangte an eine dunkle Tür, die einen kunstvollen Türknauf in Form eines Löwenkopfes besaß. Behutsam drehte sie ihn, und begleitet von einem Klacken schwang die Tür in den Raum auf. Es war recht dunkel, da die einzige Lichtquelle ein schmales Dachfenster war, welches so klein war, dass Lara gerade mal so ihren Kopf hätte hindurchstecken hätte können, ohne dass er stecken geblieben wäre. In der engen Dachkammer befand sich einiges an Gerümpel, welches auch teilweise die Aufgeräumtheit unten erklärte. Alles, was Oma gerade im Weg war, oder was sie nicht brauchte, wurde hierher geräumt. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Lara konnte unter anderem Bilderrahmen entdecken, schöne alte Schränkchen und Truhen, Porzellangeschirr, in Ecke lag ein matter goldener Kronleuchter, und über alledem eine dicke Schicht Staub.

An den Wänden hingen einige, in ein weißes Kleid aus Spinnweben gehüllte Teller, gepresste Blumen und Kräuter. Knapp darunter konnte Lara ein Loch in der Wand mit Form und Größe einer Birne ausmachen, und der abgetrennte Kopf einer Schaufensterpuppe starrte sie aus einem Haufen mottenzerfressener Unterwäsche an, und jagte ihr kurz einen Schauer über den Rücken.

Aus dem Guckloch in der Decke fiel ein Lichtstrahl, der die von ihr aufgewirbelten Staubpartikel in der Luft gemächlich tanzen ließ, und dem Ganzen ein gewisses Gefühl von Schwerelosigkeit verlieh. Als ob an diesem Ort die Zeit stehen geblieben wäre.

Da erweckte plötzlich ein seltsamer Gegenstand ihre Aufmerksamkeit. Er war von einem Bettlaken bedeckt, und in etwa so groß wie ein Mensch – nach der Begrüßung von Oma vorhin schauderte sie bei dem Gedanken daran, was sich wohl darunter befinden mochte. Sie steckte ihre Hand aus, und zog den Stoff mit einer schwungvollen Bewegung weg. Die Staubwolke, die sie dabei aufwirbelte, kam ihr fast wie ein Beschädigen dieser Ruhe vor, als ob sie im Grab eines antiken Pharaonen seinen ewigen Schlaf stören würde. Hatte sie nun seinen Sarkophag geöffnet? Mitnichten. Anstatt eines altägyptischen Toten erblickte sie einen purpurnen Ohrensessel. Lara wusste nicht, warum, doch ihr war danach, sich in ihn zu setzen.

Es war unglaublich. Sie versank förmlich in den weichen Sitzpolstern, so einem gemütlichen Sessel war sie noch nie begegnet. Warum stand so ein Prachtstück hier oben, ungenutzt? Oma war ihr eine Erklärung schuldig. So ein unfassbar komfortables Möbelstück zwar zu besitzen, aber nicht darauf zu sitzen glich einer Straftat! Sie wollte gleich wieder runtergehen, und sie darauf ansprechen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Wie dutzende von unsichtbaren Händen, oder ein magnetisches Kraftfeld, welches sie an den Sessel fesselte, und davon abhielt, aufzustehen. Sie wurde schwer. Auch ihre Augenlieder. Schwer. So schwer...

...

Der süße Geruch von frisch gebackenen Semmeln und Marmelade holte Lara wieder in die Gegenwart zurück. Verschlafen rieb sie sich die Augen, und öffnete sie. Und schloss sie sofort wieder. Sie wurde geblendet vom hellen Tageslicht, das durch das Dachfenster herein fiel. Warte...langsam realisierte sie es. Hatte sie wirklich? Anscheinend war sie gestern wirklich erschöpfter gewesen, als sie gedacht hatte, oder der Sessel war tatsächlich unglaublich bequem. Wahrscheinlich beides. So hatte sie tatsächlich den restlichen Tag und die ganze Nacht durchgepennt. Aufgeweckt und hungrig schritt sie gemächlich die Treppe hinunter in die Küche, wo Oma sie schon in einem hippiemäßig anmutenden Blümchenkleid mit passendem Stirnband und an einem, mit Semmeln und Schokocroissants gedeckten Frühstückstisch sitzend erwartete. „Guten Morgen, Schlafmütze!", grinste Oma sie an, „hast dich gestern ja gar nicht mehr blicken lassen."

Lara setzte sich hin, und stütze den Wuschelkopf auf beide Hände. „Kein Wunder bei dem irren Sessel, den du da oben versteckt hast!"

„Sessel? Was denn für ein...", erwiderte ihre Großmutter, während sie an ihrem Orangensaft schlürfte, „ach, jetzt weiß ich, was du meinst. Was ist mit dem alten Staubfänger?"

„Was mit ihm ist? Oma, hast du dich schonmal da rein gesessen? Warum steht dieser wahnsinnig bequeme Sessel nicht hier unten im Wohnzimmer?", sagte sie, nickend zu einer freien Stelle zwischen Couch und Wand, während sie sich Saft in ein Glas einschenkte.

Oma schnappte sich ein Croissant, und begann, die Schokostückchen heraus zu puhlen.
„Tja, tut mir leid, aber er steht aus gutem Grund dort oben. Es hat sich nämlich eine Rattenfamilie darin eingenistet."
Resigniert und bei dem Gedanken daran schauernd, gestern Nacht in einem Rattenverseuchten Sessel geschlafen zu haben, ließ sie sich nach hinten fallen und puhlte ein paar Schokostückchen aus dem Croissant. Natürlich hatte die Sache einen Haken. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Nachdem sie geduscht und die langen Haare geföhnt hatte, machten sich die beiden Haasmanns auf den Weg zur Promenade, wo sie, laut Oma, ein zweites Frühstück zu sich nehmen würden. Auch wenn Lara schon eigentlich recht satt war, freute sie sich darauf, etwas mehr von diesem kleinen, aber feinen Ort zu sehen.

Nachdem sie sich in ein, von der Touristenzone etwas Abseits gelegenes Café gesetzt hatten, und zwei Cappuccinos bestellt hatten, betrachtete Lara gedankenverloren den See, hinter dessen anderem Ufer entfernt die blassen Schemen der Alpen zu erkennen waren. „Oma?" fragte sie, das Kinn auf eine Hand gestützt, „wird dieser Anblick eigentlich je langweilig?" Die ältliche Frau drehte den Kopf, und das Glitzern der Wasseroberfläche schien sich in ihren grau-blauen Augen zu spiegeln. „Nein. Nie.", antwortete sie mit einem sonderlich zweideutigen Unterton, der Lara etwas merkwürdig vorkam. „Er ist einfach malerisch."

„Apropos malerisch", erinnerte sich Lara, die mit einem Grinsen auf den Lippen ihren Zeichenblock und einen Bleistift aus ihrer Handtasche holte, und, den Block auf ihr Knie gestützt anfing, die Konturen des Gebirges gegenüber nachzufahren. Nach etwa zehn Minuten war sie mit der Skizze fertig, blies noch ein paar Radiergummiefussel weg, und zeigte es Oma, die die Zeichnung fachmännisch beäugte. „Naja, ich find es nicht schlecht, aber die Quintessenz der Landschaft, finde ich, spiegelt sich darin jetzt nicht wirklich wieder."

Lara kannte solch offene Kritik eigentlich sonst nur von Herr Mehl, ihrem Kunstlehrer, und war deswegen etwas erstaunt über solch direkte Ehrlichkeit. Aber sie musste zugeben, dass Oma Recht hatte. So richtig nach Gardasee sah das Ganze nicht aus.

„Aber wie soll ich es dann machen?" 

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