1. Ankunft ins Ungewisse
Die Gassen von Bardolino waren nicht ganz so voll mit Leuten, wie Lara es sich vorgestellt hatte. Zwar musste sie immer noch ab und an aufpassen, nicht mit ihrem Trolley, welchen sie ratternd auf dem Kopfsteinpflaster hinter sich herzog, in einen Touristen zu rennen, und zweimal musste sie auch einem langsam herannahenden Auto ausweichen, doch alles in allem war das nicht der von Touris überfüllte Ferienort, den sie sich ausgemalt hatte. Die Spätnachmittagssonne schien warm an diesem Frühlingstag, und man konnte italienische und deutsche Stimmen an allen Ecken quatschen, lachen und über die etwas überteuerten Preise für Kühlschrankmagneten diskutieren hören. Der süßliche Geruch von verschiedenen Eissorten mischte sich mit dem gar nicht so fernen des Gardasees, dessen Küste sich gerade einmal um die zweihundert Meter entfernt von ihr befand, und dessen Seeluft ihr eine Strähne kastanienbraunen, lockigen Haares ins Gesicht blies.
Doch so schön all diese neuen Eindrücke auch waren, sie konnten Laras Laune nur minder verbessern. Die stundenlange Busfahrt von Regensburg bis nach Bardolino hatte sie alle Nerven gekostet, ihr Handyakku war nach kurzer Zeit aufgebraucht gewesen, die alte Frau neben ihr, welche ihr Vater dafür bezahlt hatte, sie mit nach Bardolino zu begleiten, und ein Auge auf sie zu haben, hatte mit ihrem Schnarchen dem Fahrzeugmotor ernsthafte Konkurrenz gemacht, und als sie dann nach sechs Stunden auch noch von der Polizei angehalten worden waren, und sie nach zehn Minuten immer noch nicht wieder auf der Autobahn gewesen waren, war sie wirklich kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden.
Wäre doch nur Mama mitgekommen.
Mama hätte nicht geschnarcht.
Mama hätte eine Powerbank mitsamt Ladekabel dabei gehabt.
Und sicher hätte sie auch noch was gegen die doofen Polizisten gemacht. Doch Mama konnte nicht mitkommen, sie war an der Ostsee auf Kur, und weil Papa mit seinen Arbeitskollegen nach Malta fliegen wollte, war die Wohnung der Haasmanns nun eine Woche lang unbewohnt. Alle Familienmitglieder in die vier Himmelsrichtung verstreut. Nun musste Lara bei ihrer Oma unterkommen. Gerne hätte sie jetzt verächtlich auf den Marmorboden gespuckt, doch wahrscheinlich würde das bei den Leuten hier nicht so gut ankommen.
Oma. Oma hatte sie lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war vor vier Jahren gewesen, an ihrem zehnten Geburtstag, was für ihre Großmutter ein gegebener Anlass gewesen war, ihr Domizil in Italien für zwei Tage zu verlassen, und zu Besuch zu kommen. Für ihre Eltern kein gern Gesehener, denn es war ein offenes Geheimnis in ihrer Familie, dass beide sie nicht sehr gut leiden konnten, was nicht verbessert wurde durch die Tatsache, dass die ältere Frau sehr esoterisch veranlagt war, und einen gerne mal stundenlang mit allen Bedeutungen seines Sternzeichens zutextete, dazu Wochenhoroskop, Kompatibilität mit anderen Wasserzeichen und dem Edelstein, der am besten zu einem passte. Sie hatte sogar, wie Papa es einmal erwähnt hatte, im Erdgeschoss einen Mystik und Zauberladen eröffnet, der schon regelrecht zu einer kleinen Touristenattraktion in der Stadt am See mutiert war.
Aus diesem Geschäft also hatte sie Lara zum zehnten Geburtstag eine kleine Halskette, pardon, einen Talisman, wie Oma es nannte, mitgebracht, welche aus einem länglich geschliffenem Amethyst bestand, der in eine silberne Haltung gefasst war, die von einem kunstvoll modellierten Drachen umschlungen war. Sie hatte sie oft getragen, und hatte sie immer wunderschön gefunden, trug sie sogar jetzt, wo sie in den schmalen Gassen in der Nachmittagssonne violett funkelte. Ob Oma sich wohl freuen würde, dass sie sie noch immer trug?
Während ihre Gedanken in vergangenen Tagen schweiften, suchte sie unterbewusst immer die Straßenschilder nach dem Namen der Gasse ab, in der sie für die nächsten sieben Tage residieren würde. Via Solverino, via solverino, via solverino......wo steckst du nur Via Solverino?
Kurz dachte sie schon, sie müsste eine Verzweiflungstat begehen müssen, und einen der vorbeigehenden Passanten nach dem Weg fragen, womöglich noch in Englisch, oder, Gott bewahre, in ihrem mehr als brüchigen Italienisch! Doch zum Glück hatte ihr Vater irgendeinen Telefon-Vertrag-Schnickschnack geregelt, damit sie schließlich auf Google Maps mit mobilen Daten die richtige Gasse finden konnte. Nun wissend, wohin es ging, schritt sie zielstrebig ihren Weg entlang, an Geranien in Blumenkästen, kleinen Plätzen, wo verschiedene Straßen in der Mitte zu einem Brunnen zusammenliefen, Olivenbäumen, schmiedeeisernen Geländern und bunten Häusern, welche sie mit ihrer verschrobenen Architektur leicht an die Winkelgasse aus Harry Potter erinnerten, vorbei. Teilweise brachen aus den, in pastellfarben verputzten Wänden noch alte Steinmauern und Türmchen hervor, welche an ein vergangene Zeit erinnerten, womöglich Mittelalter, oder doch vielleicht sogar antikes Rom?
Mit einem Mal fand sie sich inmitten eines großen, mit roten und weißen Marmorplatten getäfelten Platzes, welcher gesäumt war von Pizzerias, Tratterias und Gelaterias. Links von ihr erhob sich ein imposantes Gebäude, welches mit seinen vier riesigen Säulen und dem griechischen Baustil eher wie ein antiker Tempel denn eine Kirche anmutete. Noch mehr jedoch staunte Lara, blieb sogar kurz stehen, und fast klappte ihr die Kinnlade runter, als sie zur rechten schaute. Dort erstreckte sich, die Straße hinunter, der Gardasee. Jeder aus ihrer Klasse hätte sie wahrscheinlich für ihre viel zu große Begeisterung angesichts einer so simplen Begebenheit wie der eines Sees ausgelacht, doch für Lara war es das erste Mal, dass sie ein so großes Gewässer sah, und die in der Sonne glitzernde Oberfläche, die im endlosen Blau des Himmels verschwamm, hatte für sie fast etwas magisches. Das würde noch tolles Material zum Zeichnen geben, dachte sie, und ihre Gedanken huschten zum Zeichenblock in ihrem vollgestopften Wanderrucksack.
Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, ging sie weiter, und es überraschte sie, wie schnell der Trubel in der nächsten Gasse aufgehört hatte, hier war es viel stiller. Und wie dunkel es auch hier plötzlich war, das Sonnenlicht schien den Ort nicht zu erreichen. Fast wie in der Nokturngasse... Lara schalt sich für ihre ständigen Harry-Potter-Anspielungen, als nächstes würde sie noch ihre Oma mit der Wahrsagerin Professor Trewlany vergleichen. „Obwohl schon Parallelen da sind!", kicherte sie zu sich selbst.
Nur noch ein paar Schritte, und sie hatte ihr Ziel erreicht. Da lag es. Das dunkelgrüne Haus stach aus den anderen, eher ungesättigten, hellen Gebäuden hervor, und spiegelte höchstwahrscheinlich somit auch die Persönlichkeit der darin lebenden Frau wieder. Auf einem schmiedeeisernem Balkon im zweiten Stock standen ein paar verdorrte, dunkle Blumen, die Lara nicht mehr zuordnen konnte. Waren es Tulpen gewesen? Begonien? Offenbar hatte es ihre Großmutter nicht so mit Gießen. Oder Aufräumen.
Als letzte Bestätigung, dass es sich hierbei wirklich um die Wohnung von Oma handelte, fungierte das Schild an der milchigen Scheibe der hölzernen Eingangstür: MISTICISMO E MAGIA, was sie dank ihres geringen Wortschatzes der italienischen Sprache in „Mystik und Magie" übersetzen konnte. Sie sah sich das Haus, in dem sie die nächsten sieben Tage leben würde, noch ein letztes Mal von außen an, dann atmete sie tief ein, trat einen Schritt nach vorne und drückte die Klingel.
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