120 - Erinnerungen - MI. 2.5.1571
Der nächste Morgen ist frisch und klar. Vom Regen ist keine Spur mehr, die Sonne strahlt vom Maihimmel herab. Jakob weckt mich mit einem Jubelschrei – und alle anderen auch. Er freut sich so sehr aufs Reiten. Und ich weiß ihn bei Hannes in sicheren Händen. Jakob wird Hannes sicher gut folgen, und Hannes würde Jakob niemals gefährden. Nachdem also alle im Hause angekleidet sind und gefrühstückt haben, kommt Hannes in Reitkleidung zu uns ins Spielzimmer und holt meinen großen Sohn ab. Wir müssen noch mit zum Stall kommen, weil es Jakob so wichtig ist, dass wir ihn mit Hannes auf Hurtig sehen. Also lenkt Hannes sein Pferd ein paarmal im Wirtschaftshof auf und ab, erklärt Jakob dabei, an welche Regeln er sich unbedingt halten muss, damit sich Hurtig mit ihm auf dem Rücken wohlfühlen kann, und dann verabschieden sich die beiden mit einem Winken. Hannes will mit Jakob aus der Stadt reiten, damit Hurtig auch mal richtig ausgreifen kann. Wir sind uns sehr sicher, dass ihm das gefallen wird.
Anschließend überantworte ich Susanna und Peter den beiden Mädchen, die inzwischen so viel Übung mit den Kindern haben, dass ich beruhigt alleine losziehen kann. Ich werde lange im Christophorushaus bleiben, darum verabreden wir, dass die Mädchen mit den beiden Kleinen nach dem Mittagsschlaf auch hinüber kommen werden. Und dann laufe ich einfach los, genieße die frische Morgenluft und die vertrauten Wege in der Stadt.
In der Gerbergasse folge ich einer spontanen Eingebung und betrete den Laden der Schneiderin Frau Bünte. Klaas und Jasper haben ja recht. Ich habe doch jetzt das Geld, um mich besser einzukleiden. Ich will von meinem Vater ernst genommen werden und sollte ihm entsprechend entgegentreten. Und ich sollte darauf achten, dass ich selbst entscheide, worin ich mich wohlfühle.
Am Fenster sitzen zwei Mädchen und nähen fleißig. Eine ältere, schlicht aber elegant gekleidete Dame kommt aus einem Hinterraum und wendet sich mir zu. Ich stelle mich vor, bitte sie, mich mit ihr zur Beratung zusammensetzen zu dürfen und bringe ihr mein Anliegen vor. Am Anfang sieht sie mich sehr zweifelnd an. Aber da ich mich darauf berufen kann, Gast des neuen Lehnsherrn zu sein, hört sie mir dennoch aufmerksam zu. Ich frage sie ganz viel, versuche zu verstehen, wie denn eine Dame von Stand normalerweise gekleidet ist, damit ich entscheiden kann, welche Kleidung ich für mich in Auftrag geben soll. Dann skizziere ich ihr ein paar Vorstellungen von mir, bespreche mit ihr Stoffe, Farben und Schnitte.
Die ganze Zeit muss ich mir das Schmunzeln verkneifen. Ich frage mich, wann sie mich wohl erkennen wird. Als ich ihr mitteile, dass ich ein paar Stickereien selbst anbringen will, schaut sie mich einen Moment lang stumm an, und dann geht plötzlich ein Verstehen über ihr Gesicht.
„Anna! Nein, sowas. Anna. Verzeih, dass ich dich, ... verzeiht, dass ..."
Ich lächele und beruhige sie gleich. Ich habe gute Erinnerungen an meine Lehrzeit hier, als ich als junges Mädchen jeden Tag zum Sticken zu ihr gekommen bin. Es wundert mich nicht, dass sie mich nun nicht gleich wiedererkannt hat.
„Mit der Anrede – ich freue mich immer, wenn mich nach sechs Jahren noch jemand erkennt. Ich bin niemand böse, der mich beim Vornamen nennt. Ich hab mich selbst noch nicht dran gewöhnt, dass mein Leben nun in so anderen Bahnen verläuft."
Ich habe meine Lebensgeschichte nur angedeutet und ignoriere ihre neugierigen Blicke. Ich bitte sie nur, mir eine ungefähre Summe zu nennen, damit ich ihr einiges Geld schon im Voraus schicken kann als Sicherheit für sie. Die genannte Summe raubt mir den Atem, obwohl ich weiß, das ich bestimmt viel mehr in dem Beutel haben werde als das. Aber ich habe eben in meinem ganzen Leben noch nie so viel Geld auf einmal ausgegeben.
„Ich werde das Geld noch heute oder spätestens morgen früh schicken, Frau Bünte."
Nun kann ich mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel machen. Als ich am Christophorushaus ankomme, sehe ich ein paar Jungs mit dem Knecht am Gemüsebeet. Im Haus selbst empfängt mich fröhliches Kindergeschnatter aus allen Ecken. Aus der Küche höre ich es singen, und einige Kinder scheinen im Saal zu sein. Als ich eintrete, bietet sich mir ein herrliches Bild. Blumen stehen auf den langen Tischen und den Fensterbänken, durch die geöffneten Fenster strömt die Frühlingsluft herein, an den Tischen sitzen Kinder in ordentlicher Kleidung und beschäftigen sich. Hier wird gespielt, dort wird gelacht, und ein großes Mädchen starrt in ein Buch, obwohl es nicht so aussieht, als ob sie es lesen könnte.
Aus der Küche kommt mir die Köchin Bertha entgegen, die ich noch von früher kenne. Sie erkennt mich recht schnell und erzählt mir, wie schlimm die Jahre mit der Stolzer waren. Und wie glücklich sie ist, dass sie sich nun nicht mehr verbiegen muss, weil mit den Hannovers alles besser geworden ist. Dann erzählt sie mir, wo ich Frau Hannover finden kann.
Mit Maria zusammen gehe ich hinauf zu Herrn Hannover. Wir setzen uns in die gute Stube der kleinen Wohnung, und ich beantworte den beiden viele, viele Fragen zu früher, zu meiner Mutter, zu einfach allem, was ich noch erinnern kann. Sie fragen mich zum Beispiel, welche Aufgaben die Dienstboten erledigt haben, und zu welchen Pflichten die Kinder ab welchem Alter herangezogen wurden. Sie fragen mich nach Strafen und Belohnungen. Sie fragen mich aus, welche Kinder wie lange in die Schule gegangen sind, und ich erzähle ihnen von der Idee, vielleicht Dorfkinder über den Winter zum Lernen in die Stadt zu holen und sie in der Zeit im Christophorushaus wohnen zu lassen.
Als ich ihnen anvertraue, dass ich durch die kostbare Schatulle nun weiß, wer ich bin, kommen den beiden Alten die Tränen der Rührung. Und ich bin unendlich dankbar, dass sie gar nicht kapieren, dass sie eigentlich jetzt plötzlich weit unter mir stehen. Ich bleibe ihr Anna-Mädchen.
Gemeinsam gehen wir durchs Haus. Ich erkläre ihnen die ursprüngliche Nutzung der Räume, die Organisation der kleinen Landwirtschaft, die dazu genutzt wurde, die Kinder alles Nötige dafür lernen zu lassen. Ich bekomme manches gezeigt, auf das sich die Hannovers keinen Reim machen konnten, und kann oft eine Antwort geben. Ich suche in meinem Gedächtnis, welche Handwerker in der Stadt meiner Erinnerung nach Lehrlinge aus dem Christophorushaus angenommen haben.
Als der helle Klang der Glocke alle Hausbewohner zum Mittagessen ruft, gehe auch ich mit in den Speisesaal, singe voller Freude zusammen mit den Kindern das Danklied und genieße Berthas Kochkünste. Sie hat immer einfach gekocht, aber auch immer darauf geachtet, dass das Mahl ausreichend und schmackhaft war. Ich kann mir gut denken, dass die Stolzer ihr nur das Nötigste erlaubt hat. Doch dieses Essen ist wieder, wie ich es gewohnt bin. Es schmeckt gut, und es schmeckt nach Bertha.
Da ich beim ersten Mal zusammen mit Hannes hier aufgetaucht bin, sprechen die Kinder mich mit viel Respekt an. Nachdem das Mittagsmahl abgetragen ist und einige Kinder zum Helfen in der Küche verschwunden sind, kommt das große Mädchen auf mich zu, dass ich vorhin mit dem Buch gesehen habe. Sie macht einen Knicks und schaut mich scheu an. Ich klopfe auf den Stuhl neben mir.
„Komm her, Mädchen, hab keine Angst. Magst du mir etwas erzählen?"
Sie schaut mich stumm an und schiebt sich auf den Stuhl neben mir. Dann gibt sie sich einen Ruck und beginnt zureden.
„Herrin, Ihr ... wart zusammen mit unserem Lehnsherrn hier. Heißt das, dass Ihr ... Ich meine ... Könnt Ihr lesen?"
Ich lächele sie an.
„Ja, ich kann lesen. Denn auch ich bin in diesem Haus groß geworden, als Freifrau von Lenthe noch hier war. Also bin ich auch zur Schule gegangen und habe lesen und schreiben gelernt."
Mit großen Augen schaut sie mich an und forscht in meinem Gesicht.
„Ich ... kann mich nicht an Euch erinnern, dabei war ich damals schon hier."
„Aber du musst sehr klein gewesen sein. Das ist ja schon sechs Jahre her. Wie heißt du denn?"
„Ich bin Ursula."
„Und ich bin Anna Adam. Ich habe hier gelebt und bei Frau Bünte in der Gerbergasse sticken gelernt. Dann bin ich als Magd aufs Dorf gegangen, hab dort einen Bauern geheiratet und habe inzwischen drei Kinder."
„Aber ... aber – warum seid Ihr dann jetzt so ... fein?"
„Weil ich inzwischen weiß, wer meine Eltern waren und warum ich hier im Haus war. Aber was für mich viel wichtiger ist, findet im Herzen statt. Ich war bis vor ein paar Monaten eine bettelarme Bäuerin. Dass ich jetzt so fein aussehe, ist für mich ein Geschenk, aber es ist nicht wichtig. Ich war schon vorher glücklich, weil ich meinen Platz im Leben gekannt habe und immer freundliche Menschen um mich hatte."
Ich wechsele das Thema.
„Warum fragst du, ob ich lesen kann?"
„Weil ... ich hab von Frau Hannover ein Buch bekommen. Aber für mich sind das nur Fliegenkleckse. Ich würde so gern lesen können, aber ich kanns einfach nicht, egal, wie lang ich ins Buch starre."
Ich tröste sie.
„Das ist doch nicht schlimm. Es hat dir ja noch niemand gezeigt. Aber ich habe die beiden Lehrer kennengelernt. Sie freuen sich sehr darauf, dass bald die Schule wieder geöffnet wird. Und dann werdet ihr Waisenkinder alle lesen und schreiben lernen. Die beiden wissen genau, wie man das Kindern am besten erklären kann. Und dann kannst du das bald auch."
Ursula fängt an zu strahlen.
„Danke, Herrin. Da freu ich mich drauf. Aber jetzt muss ich meinen kleinen Bruder zum Mittagsschlaf hinlegen. Danke!"
Sie macht noch einen Knicks, fängt den lebhaften kleinen Jungen ein, der ungeduldig um uns herumgehopst ist, und verlässt mit ihm den Saal.
Ich gehe wieder hinauf zu den Hannovers, und wir reden weiter. Unendlich viele kleine und große Erinnerungen tauchen aus meinem Gedächtnis auf. Plötzlich höre ich eine sehr bekannte Stimme vom Treppenhaus her rufen, und kurz darauf stürmt Jakob in die Stube.
„Mutter, Mutter, du glaubst nicht ..."
„Jakob?"
„Oh! Oh, Entschuldigung. Ich ... Entschuldigung!"
Schnell verbeugt sich Jakob vor den Hannovers und klappt seinen Mund zu. Hinter ihm taucht ein breit grinsender Hannes im Türrahmen auf. Er grüßt die Hannovers höflich und wendet sich dann an Jakob.
„Das war ein schöner Ausflug mit dir, du wirst eines Tages sicher reiten können wie der Wind. Ich werde jetzt nach Hause reiten. Da die Mädchen bald mit Susanna und Peter hierher kommen werden, schlage ich vor, du bleibst einfach hier. Ist das in Ordnung?"
Jakob nickt heftig, zieht Hannes an seiner Hand zu sich runter und fällt ihm um den Hals. Dann flüstert er Hannes was ins Ohr.
„Das war toll heute, dankeschön."
Hannes lächelt und verabschiedet sich gleich wieder, denn er möchte Hurtig nicht so lange allein im Hof stehen lassen. Jakob hingegen krabbelt einfach auf meinen Schoß. Das hat er schon lang nicht mehr gemacht, aber ich genieße es, dass er noch einmal so kuschelig ist. Ganz still sucht er meine Nähe, während wir Erwachsenen uns weiter über das Haus, die Kinder und die Schule unterhalten. Noch eine Stunde später kommen Linde und Lina mit Susanna und Peter. Nun gehen wir hinunter zu den Kindern und lassen meine einfach mit den anderen spielen.
Noch einmal sitzen wir am Abend mit Albrecht Bader zusammen, genießen die herrlichen Speisen und plaudern vergnügt. Wir verabreden außerdem, dass wir morgen gemeinsam frühstücken wollen, bevor ich mit den Kindern heimreise. Als ich mich schließlich zur Ruhe begebe, öffne ich zum ersten Mal die Geldkatze in der Schatulle meiner Mutter. Ein für mich unvorstellbarer Reichtum kullert mir entgegen. Mir wird klar, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als am Morgen noch Albrecht Bader zu bitten, mir die richtige Summe für die Schneiderin abzuzählen, denn wie schon bei Hannes Beutel habe ich keine Vorstellung, welche Münze wieviel wert ist.
Wieder stehe ich dann im Dunklen am Fenster, sehe in den einsamen Park und denke nach. Meine Aufregung und Unsicherheit ist im Laufe der Tage einer Neugierde gewichen. Mein Umgang mit Hannes ist wieder selbstverständlich und vertraut. Das Christophorushaus ist bei den Hannovers in den besten Händen, der Brief an meinen Vater ist unterwegs und die Lehrer Weise haben uns am Nachmittag einen kurzen Besuch abgestattet. Sie haben Hannes und mir signalisiert, dass Jakob vom Kopf her wohl in der Lage wäre, zur Schule zu gehen, aber doch noch recht kindlich und bewegunsfreudig sei. Wir mögen ihm doch noch ein Jahr gönnen und ihn dann schicken. Sie freuten sich auf ihn.
Also kann ich nun alle Aufregung und Sorge loslassen. Zufrieden und müde schlüpfe ich in das große Himmelbett, ziehe meine beiden großen Kinder zu mir und schlafe sehr schnell ein.
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1.5.2020
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