060 - Ich werde ihn finden, versprochen! - 5.3.1571

Allmählich kann ich es nicht mehr mit ansehen. Dreieinhalb Monate ist es nun schon her, und die Unruhe lässt sich kaum noch deckeln. Aber vor allem die Trauer von Ludo muss endlich ein Ende haben – auf die eine oder andere Weise ... Seit Hannes so plötzlich verschwunden ist, ist Ludo nicht mehr er selbst. Er versieht treu seine Pflicht. Er arbeitet, er lächelt, er gibt sein bestes, Hannes Platz würdig zu füllen. Aber sobald sich abends die Tür hinter allen anderen schließt, verstummt er, und tiefe Trauer tropft aus ihm heraus wie aus einem lecken Fass. Er ist blass, er schläft nicht, er wird immer dünner. Er steht am Fenster, starrt in die winterliche Dunkelheit und wartet. Auf Hannes, der nicht kommt. Ich bin der einzige, der dann noch zu ihm darf. Und helfen kann auch ich nicht. Ich soll nur stumm sein Leid mit ihm teilen, damit er nicht wahnsinnig wird.

Doch das Schweigen fällt mir so schwer wie das Warten.
„Ludo. Bei allem Respekt – ich glaube, dass du spüren würdest, wenn Hannes tot wäre. Euer inneres Band ist so fest und innig, du wüsstest es. In all den Träumen, die dich in den letzten Wochen geplagt haben – war Hannes immer auf der Flucht, aber er war nie tot. Ich denke ... Du denkst doch auch, dass er lebt. Aber es gibt einen Grund, warum er nicht von allein heimkehren kann. Lass mich doch endlich suchen, damit du erlöst wirst von der quälenden Ungewissheit. ... Ludo! Lass mich gehn!"
Wie all die Male zuvor schüttelt Ludo auch heute wieder den Kopf.
„Wen habe ich noch, wenn auch du nicht wiederkehrst, Karl? Lass mich nicht auch noch allein! Ich will noch einmal Boten durchs Land schicken. Vielleicht reist er umher und ist inzwischen irgendwo bemerkt worden. Auch Hurtig muss doch auffallen."

Ich senke den Kopf.     Wie kann ich ihm nur klar machen, dass all seine Boten nichts ausrichten können? Sie sind zu unbedeutend. Sie haben keine Autorität. Sie haben so viel herausgefunden. Aber letzten Endes ist Hannes nicht angekommen, wo er hinwollte. Und dort kann nur jemand mit Autorität zum Ziel kommen. Die Berichte waren erschütternd – die Boten waren froh, als sie kehrt machen konnten.

„Ludo, sei vernünftig. Warum sollte auch ich verloren gehen? Hannes ist bei Nacht und Nebel aufgebrochen. Allein. Ohne viel Gepäck. Auf verschlungenen Pfaden. Seine Spur verliert sich an der Grenze. Ich werde mitten durchs Land reisen, ich werde mehrere Diener und Soldaten mitnehmen. Ich werde mich zu behaupten wissen. Ich werde ankommen, und ich werde mich nicht abwimmeln lassen! Einen Pagenstecher schickt man nicht mit Lügen vor die Tür."

„Ich sagte nein! Du wirst hier gebraucht."
Wie weit kann ich mich auflehnen gegen den verzweifelten Freund? Ich MUSS es versuchen.
„Ludo, willst du, dass auch ich bei Nacht und Nebel verschwinde, oder lässt du mich freiwillig gehen? Wir sind es Hannes schuldig. Und ich bin es dir schuldig. Sonst drehst du hier noch durch, das weißt du selbst. Es ist sinnlos, untätig zu warten. Und - SIE werden nicht länger warten."

Seine Schultern sacken herab. Dann lehnt er die Stirn an das kalte Fensterglas, krallt die Hände in die Vorhänge – und beginnt zu schluchzen. Und wieder – wie viel zu oft in den letzten Wochen – stehe ich hilflos bei ihm und kann nichts tun, als ihn zu halten, bis er sich wieder gefasst hat. Nach einer gefühlten Ewigkeit strafft er die Schultern und wendet sich zu dem Tisch, auf dem sich seit Hannes Verschwinden die Papiere angehäuft haben – Landkarten, die Berichte der Boten, Notizen. Er zieht die große Karte aus dem Stapel und breitet sie aus. Mit starrer Miene zeigt er auf einen Punkt. Seine Augen brennen förmlich ein Loch in die Karte.
„Einen Monat. Zu Palmsonntag bist du wieder hier!"
Und – ganz leise.
„Gebe Gott, dass ich bis dahin nicht wahnsinnig geworden bin vor lauter Einsamkeit. Du weißt, was es mir bedeutet, dass du so treu an meiner Seite ausharrst? Ich brauche dich!"

Gemeinsam studieren wir die Karte, verfolgen mit den Fingern die wenigen Spuren, die Hannes hinterlassen hat. Versuchen, sie in Beziehung zu setzen zu seinem Zielort. Wieder lesen wir die Berichte der Boten und suchen nach einem übersehenen Hinweis. Zerbrechen uns zum hundertsten Male den Kopf darüber, warum den Boten ab einem gewissen Punkt seiner Reise nur noch offensichtliche Unwissenheit oder aber eisernes Schweigen entgegenschlugen. Lesen zum tausendsten Male die kurze Notiz, die Hannes in der Nacht seines Verschwindens für Ludo hinterlassen hat. Es ist sinnlos. Ich weiß das, aber Ludo will es nicht wahrhaben. Wir kennen jedes Wort dieser Notizen, jeden Quadratzoll dieser Karte auswendig. Es ist reine Hilflosigkeit, wie ein Ritual, das Hannes zurückbeschwören soll.

„Ich denke, ich werde mich nicht aufhalten mit seiner Reiseroute. Ich werde direkt zu seinem eigentlichen Ziel reisen und dort hartnäckig bleiben. Da ist zuviel Seltsames und Ungereimtes in der Gegend. Ich denke, der Schlüssel liegt dort. Und ich werde mich nicht ankündigen. Ich will sehen, was ich vorfinde, wenn ich überraschend erscheine."
Ludo ist verstummt. Er nickt bloß. Unruhig suchen seine Augen meinen Blick.
„Versprich mir, dass du wiederkommst!"
Seine Stimme, seine Worte sind ein einziges Flehen, so groß ist seine innere Not. Wieder nehme ich den verzweifelten Freund in die Arme.     Was könnte ihm helfen, die Zeit meiner Abwesenheit zu überstehen? Wer könnte ihn ablenken oder ihm Halt geben, damit er nicht verrückt wird vor Sorge?

„Würde es dir helfen, wenn Klara um dich wäre, Ludo?"
Seine Gesichtszüge werden weicher, als ich meine Schwester erwähne. Seine Augen richten sich für einen Moment in die Ferne, sein Körper entspannt sich, er lächelt. Schon lange weiß ich, dass er sie liebt. Und da meine Schwester sich mir immer anvertraut hat, weiß ich, dass auch sie ihn liebt. Sie könnte die einzige sein, die ihm Ruhe und Seelenfrieden verschaffen kann, wenn ich fort bin. Ich weiß allerdings nicht, ob die beiden je miteinander darüber gesprochen haben. Dem Vater erklärt hat sich Ludo noch nicht. Klara auch nicht. Und in Ludos derzeitiger Situation ist das auch gar nicht möglich. Aber ich bin mir sicher, dass Vater dem nicht im Wege stehen wird, wenn es soweit ist.

Zu meiner grenzenlosen Erleichterung geht das Lächeln in ein Nicken über. Er schaut mich an, wirkt tatsächlich weniger traurig. In seine Augen ist ein Funken Leben zurückgekehrt.
„Ja, Karl. Das wäre schön. Wenn Dein Vater es erlaubt ..."
Ich nicke.
„Es wird sich ein Weg finden, ich rede mit ihm."
Wieder schweigen wir eine ganze Weile.

Ludo hat sich erneut dem Fenster zugewandt, auch wenn er in der Schwärze der Nacht gar nichts erkennen kann. Seine müden Augen brennen sich in die Dunkelheit.
„Ich weiß allmählich nicht mehr, wie ich sie noch hinhalten soll. Sie drängen mich. Sie wollen eine Antwort. Aber ich ertrage es nicht, ich KANN noch nicht aufgeben."
Ich trete neben ihn und lege ihm beruhigend eine Hand auf den Rücken.

„Ludo ... Ich werde mich nun verabschieden, noch ist Vater sicher wach, dann kann ich gleich mit ihm reden. Ich will in aller Frühe noch einmal mit den Boten sprechen, und dann sollte ich aufbrechen. Es gibt keinen Grund zu zögern. Und solange ich unterwegs bin, werden sie dich vielleicht noch in Ruhe lassen. ... Danke, dass du mir vertraust." Ludo blickt nicht auf, er nickt bloß wieder. Dann gibt er sich einen Ruck.
„Nimm die Berichte und Notizen mit. Vielleicht hilft dir das, im entscheidenden Moment. Ich werde dir morgen früh noch ein Empfehlungsschreiben schicken, das dir manche Tür öffnen sollte. Viele sind mir gewogen. Oh – und nimm auch seinen Stallburschen mit. Vier Augen sehen mehr als Zwei."

Ich erhebe mich und sehe ihm fest in die Augen. Ich habe keine Ahnung, ob ich dieses Versprechen einhalten kann. Aber Ludo braucht im Moment, dass ich ihm das gebe.
„Wenn es auch nur eine winzige Spur von ihm gibt – dann werde ich ihn finden – versprochen!"

Kurz sieht es noch einmal aus, als wolle er mich zurückhalten. Er ringt mit sich.
„Karl? Habe ich dir jemals gesagt, was seine letzen Worte zu mir waren, bevor wir in jener Nacht in unsere Betten gegangen sind?"
Ich schüttele den Kopf und warte ab.
„Er ... Er hat mich flehend angesehen, mit Tränen in den Augen. 'Ludo? Bitte, machst du das für mich? Ich kann das nicht, und ich will das nicht. Ich habe das nie gewollt, das weißt du. Bitte!' "
Trauer um den verzweifelten, überforderten Freund und diesen seinen gebrochenen Bruder erfüllt mich. Plötzlich krallt Ludo eine Hand in meinen Ärmel.
„Karl! Ich habe 'nein' gesagt. Darum ist er fort. Wegen mir ist er fort!"

Aber dann gibt er sich einen Ruck.
„Geh! Bevor ich es mir anders überlege. Geh mit Gott und bring ihn mir nach Hause, wenn du irgend kannst!"

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29.2.2020

oben ist Karl von Pagenstecher, das hier ist Ludo:

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