043 - Gott hat kein A - Do. 11.1.1571
Die Wintertage sind kurz und gleichförmig. Das Dorf liegt wie im Schlummer. Der Steuersamstag kommt und geht. Der sonntägliche Gottesdienst kommt und geht. Die neue Woche kommt und geht. Es ist schon wieder Donnerstag. Dann endlich wird das Wetter milder. Vorsichtshalber geht Hannes nun doch zur Lene und lässt sich die Haare und den Bart heller bleichen. Die Haare sind inzwischen so lang, dass er sie bald im Zopf tragen kann, und sein Bart ist dicht und kraus.
Hannes geht es nicht gut. Wir alle können das spüren. Aber wenigstens verschließt er sich nicht mehr vor mir. Er hat nun wieder öfter Träume, und jetzt sind es immer diese drei Jungen. Mal sind sie älter, mal jünger. Mal lernen sie, sie spielen, toben durch einen Park, reiten zu dritt aus, klettern auf Bäume und werden von irgendjemand schimpfend wieder da runtergeholt. Mal krabbeln sie durch einen engen, dunklen Gang. Sie gehen sehr vertraut miteinander um, und irgendwann suchen Hannes und Ludo nach dem Dritten. Und Ludo ruft immerzu 'Karl'. Als Hannes mir davon berichtet, wirkt er gradezu erleichtert und erlöst. Das Gesicht hat einen Namen. Der bedeutet ihm zwar noch nichts, der Name löst keine weitere Erinnerung aus. Aber es tröstet ihn doch.
Dass wir nicht wissen, wann der Steuereintreiber denn kommt, macht uns zusätzlich nervös. Auch die Kinder des Dorfes spüren diese Unruhe und werden selbst ganz kribbelig dabei. Es ist Nachmittag. Hannes sitzt auf der Bank am Tisch, hat die verträumt vor sich hin summende Susanna auf dem Schoss und liest im Gebetbuch. Jakob steht vor dem Tisch und beobachtet Hannes. Dann rutscht Jakob neben ihm auf die Bank, zeigt in das Buch und fragt nach den Zeichen.
„Hannes, was sind das für Striche dort? Ich sehe immer, wie deine Augen durch das Buch sausen. Hin und her. Wie ein Vogel, der sich nicht entscheiden kann, wohin er fliegen will. Und manchmal sprichst du das laut, oder die Mutter spricht das. Was macht ihr beide mit diesen Strichen, dass das Wörter werden?"
Erstaunt sehen wir beide den Jungen an. Wie genau er beobachtet!
„Was ich hier mache, nennt man lesen. Ich erkenne die einzelnen Striche, ich weiß, wie sie klingen, und setze sie in meinem Kopf zu Wörtern zusammen. Wenn ich das Wort erkannt habe, dann kann ich es aussprechen. Und wenn ich viele Wörter hintereinander ausgesprochen habe, dann werden sie zu Gebeten, Geschichten, Gedichten oder Liedern. Aus Wörtern kannst du machen, was du willst. Wörter können freundlich sein oder gemein. Wörter können helfen oder quälen. Und wenn man weiß, wie man diese Striche aufzeichnen muss, dann kann man die Wörter auch auf so einem Papier an jemand anderen schicken, und der bekommt dadurch eine Botschaft. Dann muss man selber gar nicht dort sein und kann doch mit demjenigen reden. Das nennt man dann 'einen Brief schreiben'."
Jakob hört ganz still und konzentriert zu, und seine Augen werden dabei immer größer. Andächtig fährt er mit seinen Fingern einen großen Buchstaben am Anfang eines Gebetes nach.
„Was ist das für eine Strichelei?"
Wir müssen lächeln. Ich lasse Hannes einfach weiter machen.
„Diese Stricheleien nennt man Buchstaben. Manche sind rund, andere eckig oder beides zusammen. Und dieser Buchstabe ist ein 'G'. Zusammen mit dem Kringel und den kleinen Stricheleien dahinter steht da das Wort 'Gott'. Siehst du? Hier. G-O-T-T. Zusammen heißen diese Buchstaben 'Gott'."
Jakob versinkt mit seiner Nase fast in dem kleinen Buch und starrt die Buchstaben an.
„Die hier sehen gleich aus!"
Wir sehen uns an. Sollten wir ...
"Wir sollten mit dem Pastor reden!"
Ich nicke.
„Jakob, magst du mit mir zum Pastor gehen? Er weiß noch viel, viel mehr als ich über diese Stricheleien."
Sofort springt Jakob von der Bank und läuft zu den Mänteln neben der Haustür.
„Au jaaa! Und - Hannes? Die Stricheleien heißen Buchstaben!"
Ich verkneife mir nur mühsam das Lachen. Hannes setzt mir Susanna auf den Schoß, und dann sehe ich staunend zu, wie der große Mann mit dem kleinen Jungen an der Hand hinaus in den Schnee geht.
Will er jetzt tatsächlich dem Jakob das Lesen beibringen?
Erst, als die Dämmerung schon weit fortgeschritten ist und es Zeit fürs Nachtmahl wird, kommen Hannes und Jakob zurück. Jakob hüpft den ganzen Weg und kann auch hierinnen gar nicht still halten. Er hüpft von einem Bein aufs andere, immer hin und her.
„G-O-T-T. J-A-K-O-B. S-U-S-A-N-N-A. Mutter, weißt du schon, dass dein Name in dem Namen von Susanna drinnen versteckt ist?"
Mir fällt die Kinnlade runter.
„Hannes! Was hast du mit dem Kind angestellt? Hat er etwa die ganze Zeit nichts anderes gemacht, als Buchstaben zu lernen?"
Hannes zieht die Schultern ein und schaut gespielt schuldbewusst.
„Ja? Ist das schlimm? Er wollte immer weiter. Wir konnten ihn nicht abhalten. Wir mussten alle unsere Namen aufschreiben und ihm dann die Buchstaben nennen. Dann hat er angefangen, zu vergleichen und einzelne wiederzuerkennen. Und schließlich hat er Euch entdeckt."
Immer weiter hüpft Jakob durch meine Diele.
„H-A-N-N-E-S. A-N-N-A. Mutter, das A sieht aus wie unser Haus. Also - wie das Dach von unserem Haus. Und wir alle haben ein A. Oder zwei. Nur Gott, der hat kein A. Aber dafür hat er ja die ganze Welt mit allem anderen drin. Also hat er eigentlich auch ganz viele A's. ... Oder?"
Das Gehüpfe hat plötzlich aufgehört, und Jakob sieht sehr nachdenklich aus.
„Ach, und wenn nicht. Dann schreibe ich ihm eins in den Schnee, das kann er dann vom Himmel aus sehen. Gott sieht das doch, oder? Wenn ich ihm ein A in den Schnee schreibe?"
Hannes und mir fallen bald die Augen aus dem Kopf. Nur mühsam kann ich mich aufrappeln und für meine kleine Familie ein Abendbrot herrichten, denn die ganze Zeit flitzt Jakob wie eine überdrehte Spieluhr um mich drumrum, murmelt Wörter, lauscht auf seinen eigenen Klang und verkündet laut, wenn er ein A darin entdeckt zu haben glaubt.
„Huhn. Nein! ... Gans. Ja! ... Stall. Ja, da auch!"
Mir wird schwindelig. Vom Zusehen und von seinem scharfen Verstand.
„Zick. Zack. ... Mutter, das ist ungerecht. Zack hat sein eigenes A, aber Zick hat keins."
Hannes fasst sich als erster wieder.
„Weißt du, Jakob, die beiden gehören zusammen. Die teilen sich das A. Und wer weiß. Die beiden sind so verfressen. Vielleicht würden sie das zweite A einfach auffressen, wenn sie eins hätten."
Nur mit Mühe bekommen wir den völlig überdrehten Jakob an den Tisch zum Essen. Aber dann setzt doch die Müdigkeit ein.
„Mutter, darf ich morgen wieder zum Pastor und lesen?"
Ich seufze. Was haben wir da nur angefangen? Es ist wundervoll, dass er so wissbegierig ist und eine so schnelle Auffassungsgabe besitzt. Aber ist es auch gut, wenn ein unfreier Kätner, der er einmal sein wird, besser lesen kann als sein Lehnsherr und dessen Verwalter?
„Nur, wenn du jetzt aufhörst, deinen Kopf mit Buchstaben vollzustopfen, stattdessen deinen Bauch mit dem Essen vollstopfst und dann sofort ins Bett gehst!"
Stille. Es rattert sichtbar hinter seiner Stirne.
„In Bett ist kein A."
Kurz darauf schlafen alle Kinder unter ihren warmen Decken, und Hannes und ich können den Abend ausklingen lassen. Wir haben uns inzwischen angewöhnt, dazu auf den Dachboden zu steigen. Dort können wir Licht haben und reden, ohne die Kinder zu stören. Wir trinken noch gemeinsam einen Tee, ich habe inzwischen angefangen, auf einem der schönen Stoffe aus Duderstadt an einem Schmucktuch für mich zu sticken. Und Hannes schreibt oft seine Gedanken auf.
Manchmal reden wir über seine Träume. Er erzählt mir, dass ihm in Gieboldehusen bei unserem Ausflug an Heilig Abend wirklich nichts in der Stadt irgendwie bekannt vorgekommen ist. Er ist sich sicher, dass er noch nie dort war. Das würde heißen, dass er zwar hier in der Gegend unterwegs war, aber offensichtlich nicht nach Norden hat reiten wollen. Höchstens, dass er durch den ihm unbekannten Ort hindurch und dann weiterreisen wollte irgendwo anders hin.
„Ich habe schon überlegt, ob ich mal an der Grenze entlang nach Westen reiten und an den verschiedenen Übergängen fragen soll, ob ich an einem der fraglichen Tage dort vom Süden her durch den Zoll gegangen bin. Vielleicht erkennt mich ja einer. Aber dann wieder fürchte ich mich, weil wir ja nicht wissen, woher die Angreifer kamen. Wenn sie mir eine Weile gefolgt waren und dann dort im Wald die passende Stelle für den Überfall gefunden haben - dann laufe ich ihnen vielleicht direkt in die Arme! Aber Klaas oder jemand anderen aus dem Dorf mitnehmen - dann würde ich denjenigen vielleicht in Gefahr bringen."
Ungeduldig knurrt Hannes.
„Arg - es ist zum Haareraufen. Ich weiß einfach nicht, wie ich weiterkommen soll!"
Kurz rauft er sich die inzwischen blonden Locken. Lene hat ihm mit Hilfe eines Pflanzensaftes aus dem Braun eine viel hellere Farbe gezaubert. Der Bart ist nicht ganz so hell geworden. Der wächst so schnell, dass man schon nach zwei Tagen die Kante sehen würde, und es soll ja nicht auffallen. Ich vermisse seine braunen Locken ...
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Ich lieeeeeebe meinen kleinen Jakob!
12.2.2020
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