44 - „Ich will aber!"

Palmsonntag, 8.4. a.d. 1571

Glücklich bin ich am Samstag nach Hause gekommen und habe meine Kinder begrüßt. Und doch bin ich schweren Herzens ins Bett gegangen, weil mein kleiner Jakob den Knecht Hannes so sehr vermisst - den Knecht, der nie wieder kommen wird. Dann kam der Sonntag, ich bin in unsere kleine Dorfkirche gegangen und habe mich in der Gemeinschaft gleich wieder so wohl gefühlt. Dankgebete sind aus meinem Herzen geströmt für all das, was uns und mir in den letzten Wochen an Güte und an Bewahrung und an treuen Freunden geschenkt wurde. Und so ging es in den nächsten Tagen immer weiter. Trauer und Glück, Sorge und Gottvertrauen lagen ununterbrochen so dicht beieinander, dass es mich viel Kraft gekostet hat, immer weiter vorwärts zu gehen.

Gleich am Sonntag Nachmittag bin ich gemeinsam mit dem Drebber nach Wollershusen gefahren, um auch dem dortigen Vogt alles zu berichten, was in den letzten Monaten war, und warum sein Dorf so mit dem Hauser zu kämpfen hatte. Der Mann war ehrlich erleichtert zu hören, dass die Heimsuchungen nun ein Ende haben werden. Er hat Hannes ja nie gesehen, aber er hat sich sehr gefreut, dass nun im Lehen Ruhe und Gerechtigkeit einkehren werden.

Kaum sind wir wieder zu Haus, mache ich mich auf den Weg hinauf zur Mühle. Britt liegt im Bett, ist fiebrig und schwach, Lene sitzt bei ihr, hat ihr Spinnrad mitgebracht, vertreibt sich die Zeit, während sie gemeinsam mit Britt wartet.
„Ach, Britt. Dein Kleines sucht sich nicht grade den einfachen Weg ins Leben! Gott behüte dich. Ich bin nun wieder da und will dir gerne deinen Haushalt abnehmen, damit Irmel das nicht mehr tun muss. Du sagst mir immer, was nötig ist, und kannst mir auch jederzeit einen der Jungs schicken, dass sie mich holen, ja?"
Britt schaut mich dankbar an, aber ich sehe auch die Angst in ihren Augen, ob sie das wohl überleben wird.

Meine beiden Kleinen sind sehr anhänglich. Sie haben sicher Angst, dass sie die Mutter bald schon wieder verlieren könnten. Darum folgen sie mir auf Schritt und Tritt - die eine läuft, der andere krabbelt - und wollen immer mittun. Ich muss sie überall hin mitnehmen, sonst gibt es sofort großes Geschrei. Daran kann ich sehen, dass auch sie große Angst ausgestanden haben in den drei Wochen. Ich gebe ihnen also ihren Willen, schenke ihnen jede freie Minute und meine ganze Liebe.
Eine ganze schwere Woche lang geht mir Jakob aus dem Weg, redet nicht mit mir, isst kaum, lacht nicht und verkriecht sich, so oft es irgend geht, auf dem Dachboden. Mit seinen kleinen Händen hat er den großen Sack wieder mit Stroh gefüllt und auf die Pritsche gewuchtet. Er hat den kleinen Tisch wieder aufgebaut, den Schemel an einem Seil nach oben gezerrt, mich um Hannes kleine Lampe gebeten. Da hab ich dann doch nein gesagt, weil da ja das Strohdach ist. Bei allem anderen durfte ich ihm nicht helfen. Es bricht mir schier das Herz, ihn so um den großen Freund und Vaterersatz trauern zu sehen.
Nun sitzt er dort bei schlechtem Licht und übt wie ein Besessener Buchstaben auf seiner Schiefertafel, als könne er Hannes damit zurückholen. Immer wieder geht er zum Pastor, fragt, wie man einzelne Wörter schreibt, und übt sie dann noch und noch. Mich fragt er nicht. Und ich weiß auch gar nicht, wie ich ihm helfen könnte. Er muss seine Trauer doch leben dürfen.

Eine willkommene Abwechslung ist am Donnerstag der kurze Besuch von Karl von Pagenstecher. Hannes hat ihn geschickt, damit er von hier aus einen Boten zu Siegfried Crüger in Duderstadt um sein Gepäck schicken möge. Hannes möchte auch seine drei Reisebegleiter von dort anwerben, zu ihm nach Gieboldehusen überzusiedeln. Nach einem einfachen aber herzhaften Mahl und vielen Erzählungen über das Dorf hier und Hannes Fortschritte dort macht Karl von Pagenstecher sich wieder auf den Weg zurück. Jakobs Trauer erwähne ich nicht. Ich bin nur froh für Hannes, dass er sein eigentliches Leben zurückgewonnen hat und nun an einer glücklichen Zukunft bauen darf. Stille Sehnsucht macht sich in mir breit, als der gute Freund sich wieder auf sein Pferd schwingt und mit einem letzten Winken Richtung Rhumaspring im Wald verschwindet.

Ansonsten geht das Leben im Dorf seinen gewohnten Gang. Die Männer pflügen und säen, reparieren Zäune, treiben das Vieh auf die Weiden, auch die Felder des Lehens werden bestellt. Wir Frauen vertreiben den Winter aus unseren Häusern, haben Backtag, wir strecken die letzten Vorräte mit allem, was der Frühling schon wachsen lässt, damit immer noch alle satt werden, und hoffen auf ein gutes Jahr, damit auch im nächsten Winter alle durchkommen werden. Ostern rückt näher.

Am zweiten April wird Britt endlich erlöst. In den frühen Morgenstunden drängt das Kind, will auf die Welt. Sie hat hohes Fieber, muss stundenlang kämpfen, Lene muss ihr ganzes Wissen aufbringen, Irmel und ich sind beide die ganze Zeit da, während Mathes mit den beiden Jungs ruhelos um die Mühle streift und Gebete zum Himmel schickt, dass Britt das überleben möge. Einmal sieht es fast so aus, als würden wir sie verlieren. Aber am späten Abend endlich können wir ihr das schreiende kleine Bündel in die Arme legen. Sie weint heiße Tränen der Erschöpfung, aber es ist geschafft. Mathes darf sein Töchterchen kurz sehen, und dann laufen er und die Jungs durchs Dorf, klopfen alle aus den Betten und verkünden, dass Britt und das Mädchen wohlauf sind.

Jakob lernt weiter lesen und schreiben. Da Jakob im Moment auch nicht in die Mühle kann, hat er viel Zeit. Und so kann er schließlich an Palmsonntag, nach nicht mal drei Monaten, das ganze Alphabet schreiben und lesen. Stolz kommt er vom Pastor nach Hause gelaufen und bei uns zur Tür herein.
„Mutter? Ich kann jetzt richtig schreiben. Ich will Hannes einen Brief schreiben. Er weiß sonst ja gar nicht, dass du ganz traurig bist und dass er wiederkommen soll."
Ich miste grade bei den Ziegen aus und bin froh, dass Jakob darum mein Gesicht nicht sehen kann. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich bin völlig ratlos, was ich nun machen soll. Woher um Himmels Willen weiß das Kind, dass ich traurig bin? Kann ich denn gar nichts vor ihm verbergen? Ich sollte mich doch um seine Traurigkeit kümmern – und nicht umgekehrt!
„Ja, Jakob. Ein bisschen bin ich traurig, denn Hannes war ein guter Kamerad. Aber viel mehr Sorgen mache ich mir, dass du so traurig bist."

Ich habe mich wieder gefasst, klettere aus dem Ziegenverschlag und hocke mich zu Jakob in den Stallgang.
„Du sehnst dich sehr nach Hannes, hab ich Recht?"
Und endlich, endlich kann der kleine Mann weinen, seine ganze Enttäuschung rauslassen und erzählen, wie sehr er den Knecht Hannes doch vermisst.
„Weißt du, Hannes hat zur Zeit furchtbar viel zu tun. Grade ist er gar nicht in Gieboldehusen sondern weit weg, daheim in Salzderhelden. Das ist drei Tage lang reiten weit weg. Dort muss er seinem Bruder helfen. Weißt du, sein Bruder wird der neue Herzog in unserem Land. Da mag er den Hannes bei sich haben bei seinem großen Fest."

Einen Moment lang überlegt Jakob.
„Ich will ihm aber trotzdem einen Brief schreiben. Er soll doch wiederkommen."
Ich seufze.
„Jakob, das geht nicht so einfach. Genauso, wie der Klaas und der Jorge und alle anderen Bauern und Knechte aufs Feld müssen und wie die Lene für uns alle den Honig macht und wie der Pastor für uns den Gottesdienst hält – genauso hat auch Hannes eine Aufgabe, die er jeden Tag wieder recht gut machen muss. Er war krank, als er hier war. Aber nun ist er wieder gesund und muss seine Aufgaben erfüllen. Wie jeder von uns."
„Ich will aber!"
Und schon rennt Jakob wieder davon, klettert die Leiter hinauf und verschwindet auf seinem Strohlager. Ich schaue ihm hilflos hinterher.

Was tut sich das Kind so schwer! Ist es vielleicht doch besser, wenn ... Nein, Anna. Jakob muss hier im Dorf aufwachsen, bei seinesgleichen. ICH muss Hannes innerlich gehen lassen, ich muss meine Trauer besiegen, die das Kind so sehr spürt. Sonst kommt Jakob nie davon los.
Ich gehe ins Gebet und bitte Gott darum, dass ich meinen inneren Frieden wiederfinde, dass ich wieder Zuversicht und Lebensfreude ausstrahlen kann. Damit es dem kleinen Jakob nicht so schwer fällt, Hannes gehen zu lassen. Dann atme ich einmal tief durch und mache mich wieder an mein Tagwerk. Gott wird mir helfen, wie er mir und uns in den letzten Monaten immer geholfen hat. Soviel ist gewiss.

Erst nach einer ganzen Weile steigt Jakob wieder die Leiter herunter und geht trotzig erhobenen Hauptes an mir vorüber. Kurz darauf kommt er allerdings zornentbrannt wieder zur Tür hereingeschossen und brüllt, wie ich ihn noch nie hab brüllen hören.
„Ich will aber!"
Nun habe ich natürlich keine Ahnung, was wieder los ist.
„Jakob, bitte schrei nicht so, das Peterchen schläft. Und mit Trotz wirst du gar nichts erreichen, also sei still."
Wütend verschränkt er die Arme vor seinem kleinen schmalen Körper und flüstert. Ich hätte nie gedacht, dass man wütend flüstern kann. Aber Jakob kann – und wie!
„Ich will aber Hannes einen Brief schreiben. Nur der Pastor lässt mich nicht! Warum hab ich das gelernt, wenn ichs nicht tun darf!"

Die innere Not des kleinen Mannes bricht mir fast das Herz. Ich gehe in die Knie und nehme ihn in die Arme.
„Also gut. Du darfst ihm einen Brief schreiben, du darfst alles erzählen, was dich bewegt, was du so machst, was du dir von ihm wünschst. Aber ich habe eine Bedingung."
Jakob schöpft neue Hoffnung, richtet sich auf und schaut mich fragend an.
„Du darfst von mir grüßen, aber ansonsten erwähnst du mich mit keinem Wort."
Als hätte ich ihm einen Schubs gegeben, sprudelt nun aus Jakob heraus, was er alles Hannes erzählen will.
„Gut, Jakob. Dann gehen wir morgen zum Pastor und bitten ihn um ein Papier und einen Kohlestift. Dann kannst du auf deiner Tafel jeden Satz vorschreiben. Wir schauen nach Fehlern, und wenns dann richtig ist, schreibst du es aufs Papier. Wollen wir das so machen?"
Jakob macht einen Freudenhüpfer. Endlich strahlt das Kind wieder.
„Gut, dann morgen!"

Die Bauern sind heilfroh, dass sie mit der Frühjahrsbestellung soweit fertig sind. Wenn nun die Lämmer geboren werden, ist das Wetter egal. Alle Mann sind jetzt rund um die Uhr im Einsatz, weil die Lämmchen sich nicht an feste Zeiten halten. Auch in meinem Stall wird ein Zicklein geboren. Susanna verliebt sich sofort in das kleine, hilflose Wesen. Sie würde am liebsten sogar bei den Ziegen schlafen, damit sie ja keinen Schritt und kein leises Meckern verpasst.
Ich selbst habe alle Hände voll zu tun. Der Küchengarten will umgegraben werden, Gemüse will gesäht werden. Mit Susanna mache ich Spaziergänge durch Wald und Wiesen und lehre sie, welche essbaren Kräuter hier zu finden sind und wie sie aussehen. So kann ich die ersten sprießenden Pflanzen nutzen, um den kargen Speiseplan etwas zu erweitern.

Das Peterchen hat nun angefangen zu laufen. Kurz nach Ostern wird er ein Jahr alt sein. Aber schon jetzt kann ihn nichts mehr halten. Erst hat er sich an allen Möbeln und den Wänden entlang gehangelt. Da musste ich dauernd springen, damit er es nicht auch am heißen Herd versucht. Immer wieder musste ich ihn von dort wegholen, bevor er sich die kleinen Finger verbrennt. Dabei sind die flackernden Flammen doch so besonders interessant! Dann hat er eines Morgens einfach losgelassen und ist gelaufen. Und hingepurzelt und gelaufen und hingepurzelt. Ich hole ihn aus dem Misthaufen und unterm Tisch hervor und draußen aus den Pfützen und ... einfach überall ist dieses Kind zugleich!

Fahrende Boten

Di. 10.4. a.d. 1571

Am Montag Morgen fängt es an zu regnen. Jakob hat mich gleich zum Pastor gezerrt, damit ich dem sage, dass Jakob doch den Brief schreiben darf.
"Also gut. Dann gebe ich dir ein Papier und einen Kohlestift. Willst du den Brief hier schreiben? Soll ich dir helfen?"
Fragend sieht Johann Crüger mich an.
„Er soll jeden Satz auf seiner Schiefertafel vorschreiben. Es wäre schön wenn Ihr ihm das dann verbessern würdet. Und dann kann er es aufs Papier schreiben."
Eifrig hockt sich Jakob vor den Schreibtisch des Pastors und denkt angestrengt nach, bevor er zu kratzen beginnt.
Johann Crüger tritt leise neben mich.
„Anna, ist das gut?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich muss abwägen zwischen seiner Trauer jetzt und seiner Trauer dann. Er hat mir versprochen, dass er nur von sich erzählt, nicht von mir. Und dann soll er abwarten, was passiert. Ich werde Hannes eine kurze Notiz dazu schreiben, damit er damit umzugehen weiß."

Erst nach Stunden kommt Jakob wieder nach Haus. Er glüht vor Stolz und hält mir einen langen Brief hin.
„Pastor Crüger hat gesagt, das ist gut so."
Lesen darf ich den Brief nicht.
„Und wie kommt der jetzt zu Hannes?"
Da habe ich heute auch schon den ganzen Morgen drüber nachgedacht.
„Wir warten ab, bis jemand von hier nach Gieboldehusen reiten wird. Der bringt dann den Brief ins Schloss. Und dann musst du geduldig sein, weil Hannes den Brief sicher erst nach Ostern bekommen wird. Jakob kuckt höchst unzufrieden, aber da er froh ist, dass er überhaupt schreiben durfte, hält er doch still.

Das Glück ist Jakob dennoch hold. Denn am Dienstag kommen zwei edle Kutschen mit hohem Gepäck und mehreren Männern zur Bewachung durchs Dorf. An der Schmiede machen sie halt. Einer der Kutscher steigt ab und geht in die Schmiede, während auf das neugierige Rufen der Kinder hin das ganze Dorf vor der Schmiede zusammenläuft. Es stellt sich heraus, dass es Gäste für die Krönung von Herzog Ludwig sind, die auf der Grenzstraße reisen und hier anhalten, weil eines der Kutschpferde ein Hufeisen verloren hat. Der Drebber und seine Frau nähern sich ehrerbietig der vorderen Kutsche und erkundigen sich, ob sie den edlen Herrschaften etwas Gutes tun können.

Gut, dass das Wetter heute wieder freundlich und stabil ist! Bald schon sind Tisch und Stühle am Dorfbrunnen im Schatten der Alten Linde aufgebaut, und alle Frauen des Dorfes tragen herbei, was sie an Speis und Trank entbehren können, um den hohen Herrschaften die Wartezeit angenehm zu gestalten. Der Schmied und seine Gesellen machen sich hingegen sofort an die Arbeit und beschlagen das Pferd neu, damit die Herrschaften bald weiterreisen können.

In der ganzen Aufregung achte ich nicht mehr auf Jakob. Der ist, kaum, dass er erfahren hat, dass dies Gäste für die Krönung sind, nach Haus gelaufen. Nun kommt er wieder, schleicht sich leise durch die umherlaufenden Erwachsenen und taucht, eh ich es verhindern kann, vor dem Tisch der hohen Herrschaften auf. Er räuspert sich, und als er die Aufmerksamkeit der staunenden Edelleute hat, rupft er sich die Mütze vom Kopf, verbeugt sich fast bis zum Boden und schaut ihnen dann ganz freimütig ins Gesicht.
„Verzeiht, edle Leute. Darf ich Euch um etwas bitten?"
Mir bleibt bald das Herz stehen, und ich will Jakob schon da wegholen, aber Klaas schaltet schneller als ich.
„Lass ihn. Er kämpft um Hannes und für sich. Das ist gut so!"
Weithin schallt die helle Stimme meines Großen über den Dorfplatz.
„Mein Freund Hannes ist bei der Krönung des Herzogs. Und ich habe ihm einen Brief geschrieben. Darf ich Euch ganz vielleicht bitten, ihm meinen Brief mitzubringen?"

Die Herrschaften langweilen sich, und ihr Zeitplan gerät grade ins Rutschen. Ich habe also keine Vorstellung davon, ob sie nun eher amüsiert oder eher unwillig reagieren werden. Doch die eine Dame scheint sich an dem aufgeweckten Kind zu freuen, denn sie lächelt Jakob an und antwortet ihm.
„Ja, kannst du denn schreiben? Zeig mir doch mal deinen Brief!"
Sofort zieht Jakob den Brief hinter seinem Rücken hervor, reicht ihn der Dame und verbeugt sich wieder. Die Dame nimmt das gefaltete Papier entgegen und staunt über die ordentliche Kinderschrift.
„Und das hast du geschrieben, nicht der Pastor?"
„Nein, das hab ich geschrieben. Der Hannes hat es mir erklärt und mir meine Schiefertafel geschenkt, und der Pastor hat mit mir geübt."
Nun hat Jakob die Aufmerksamkeit aller am Tisch. Einer der Herren mischt sich ein, greift nach dem Brief und will ihn auseinanderfalten.
„Nicht lesen! Das ist nur für den Hannes!"
Sofort hüpft Jakob einen Schritt rückwärts und schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
„T'schuldigung!"


Der Herr faltet das Papier wieder zusammen und reicht es Jakob zurück.
„Und du möchtest nun, dass wir bei der Krönung deinen Hannes finden und ihm den Brief geben. Wie finden wir denn diesen Hannes? Ist er ein Kammerdiener von einem der Gäste? Oder ein Stallbursche?"
Jakob schüttelt den Kopf.
„Oh nein, hoher Herr. Hannes ist der Bruder vom Herzog. Also – eigentlich ist er der Herzog. Aber er wills nicht sein, darum wird's nun sein Bruder."

Die Gesichter der Herrschaften wechseln von Belustigung zu Unglauben und einer Spur Verärgerung. Darum laufe ich schnell zu Jakob, mache einen tiefen Knicks und warte, dass ich reden darf.
„Ist das dein Sohn? Er hat seltsame Ideen. Du solltest ihm etwas mehr Respekt vor unseren Fürsten beibringen!"
Schnell versuche ich eine respektvolle Antwort.
„Edle Herrschaften, verzeiht, dass mein Sohn so vorwitzig ist. Ich ... vermute, dass Ihr wisst, dass Herzog Johann III. abdanken und seinem Bruder Ludwig den Thron überlassen wird. Nun war Herzog Johann in den letzten Monaten hier in der Gegend, weil er der Lehnsherr von Gieboldehusen ein paar Meilen weiter nördlich ist. Unser Dorf gehört zum Lehen. Herzog Johann hat die Dörfer besucht und sich dabei auch höchst freundlich unseren Kindern zugewandt. Und er hat darauf bestanden, dass alle Kinder ihn Hannes nennen. Verzeiht, wenn mein Sohn respektlos klang, aber er wusste es nicht besser."

Schweigen herrscht am Tisch, Jakob drückt sich still an mich. Er merkt wohl, dass die Stimmung umgeschlagen ist. Und auch im großen Rund der Neugierigen ist kein Laut zu hören. Doch dann löst sich die Spannung, denn die Dame, die schon gleich so freundlich war, lächelt nun erst mich und dann Jakob an und streckt wieder die Hand nach dem Brief aus.
„Wenn das so ist, dann will ich getreulich deinen Brief nach Salzderhelden tragen und ihn unserem Herzog selbst übergeben, damit dein Hannes ihn auch wirklich bekommt. Soll ich ihm noch etwas ausrichten?"
Mutig hebt Jakob wieder seinen Kopf.
„Oh ja, gerne! Könntet Ihr ihm sagen, dass ich ihn ganz dolle lieb habe?"
Nun wissen die Herrschaften endgültig nicht mehr, wo sie hinschauen sollen. Aber die Dame fasst sich schnell wieder, nimmt den Brief entgegen und steckt ihn zwischen die Falten ihres Rockes.
„Habt Dank für Eure Güte, edle Dame!"
Ich mache einen tiefen Knicks, Jakob verbeugt sich noch einmal, und dann gehen wir zurück in den Kreis der Neugierigen. Die Drebberin und die Crügerin scheuchen nun all die Dörfler wieder auseinander, damit die Herrschaften sich nicht so sehr beobachtet fühlen, und auch ich gehe mit meinen Kindern wieder nach Haus.

Eine Weile später ist das Pferd neu beschlagen und wieder eingespannt. Wir hören durch die offene Türe die Kutschen auf den Wald zufahren, und sofort stürzt Jakob wieder hinaus. Er winkt der Dame in der Kutsche zu und ruft, so laut er kann.
„Danke!"
Dann verschwinden die Berittenen, die Kutschen und die ganze Aufregung wieder im Wald, um auf der Grenzstraße weiter Richtung Hauptstadt zu reisen.
Bitte, lieber Gott, lass diesen Brief auch wirklich ankommen und lass Hannes richtig darauf reagieren!
Erstaunlicherweise bringt Jakob nun viel Geduld auf. Er akzeptiert, dass es lange dauern wird, bis Hannes ihm antworten kann. Es ist, als hätte sein ganzes Herz daran gehangen, diesen Brief zu schreiben und abzuschicken. Das Ankommen und die Antwort sind scheinbar gar nicht so wichtig.


Ostersonntag 15.4.1571

An Gründonnerstag verfällt das ganze Dorf endgültig in Ostergeschäftigkeit. Es ist noch einmal Backtag, und dabei entstehen auch kleine Osternester aus süßem Teig mit je einem Ei in der Mitte, für jedes Kind im Dorf eines. Am Abend treffen wir uns in der Kirche, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern, an das Heilige Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern zu erinnern und gemeinsam zu essen und zu trinken. Es ist ein fröhliches Fest. Wir singen viel, hören die Worte der Bibel und bringen unseren Dank ins Gebet.

Der nächste Tag ist ganz anders, und es ist jedes Jahr wieder eine Herausforderung, den Kindern klar zu machen, dass nun auf die Fröhlichkeit des Vorabends ein Tag der Stille, der Besinnung und der Buße folgt. Es ist der Tag, an dem unser Herr Jesus Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Mir fällt das am leichtesten, wenn ich mit den Kindern einen langen Spaziergang mache und ganz viel singe. Da die Kinder sich im Wald viel selbst beschäftigen, habe ich Muße, um meine Gedanken und Gefühle, mein Sehnen, meine Reue und meine Träume vor Gott zu tragen und ihm zu danken für das Opfer, das er für uns gebracht hat. Dazu singe ich die Lieder, die zu diesem Tag passen. Und so werden die Kinder automatisch hineingenommen in die bedeckte Stimmung des Karfreitags.
Am Nachmittag versammeln wir uns wieder in der Kirche und halten Gottesdienst zur Todesstunde Jesu. Die Kerzen werden gelöscht, der Altar wird mit einem großen schwarzen Tuch abgedeckt und schließlich verstummt auch unser Gesang, um dem Gebet und dem Innehalten Raum zu geben. Schweigend gehen wir danach alle in unsere Häuser.

Am Samstag Morgen wecke ich die Kinder mit einem Lied auf den Lippen. Nach und nach gelingt es mir immer besser, zumindest vor den Kindern meinen Gleichmut wieder zu gewinnen. Die Trauer um Hannes ist da, aber sie wird leiser und tritt in den Hintergrund, weil das normale Dorfleben und meine drei wundervollen Kinder wieder das Wichtigste in meinem Leben werden.
Wie auch vor Weihnachten wird das ganze Haus geputzt bis in die letzte Ecke. Bei einem Spaziergang an die Rhuma sammeln wir Weidenzweige, um die Kirche und die Häuser zu schmücken. Ganz andächtig streichelt Susanna die zarten Weidenkätzchen und freut sich daran, wie samtweich sie sich anfühlen. Neben mir wackelt das Peterchen auf seinen zwei kurzen Beinchen mit und quietscht bei jedem Vogel und jedem vorbeiflatternden Schmetterling laut auf. Wenn es nach ihm ginge, würde er jeden Stein und jede Raupe in den Mund stecken. Ich muss also immerzu aufpassen, was er nun wieder in die Hand nimmt, wenn er sich bückt.

Auf dem Rückweg gehen wir noch auf den Mühlberg und schauen wie jeden Tag nach Britt und der kleinen Katharina. Da es beiden unerwartet gut geht nach der schweren Geburt, haben Pastor Crüger und die Müllers beschlossen, mit der Taufe bis zum Ostersonntag zu warten. Katharina wird also morgen einen ganz besonders festlichen Taufgottesdienst haben. Nachdem ich für die Familie das Osteressen vorgekocht und die beiden großen Jungs mit Jakob und Susanna aus ein paar der Weidenzweige einen Kranz für die Tür gewunden haben, gehe ich mit meinen Kindern und den restlichen Zweigen nach Hause.
Dort winden wir auch für uns einen Kranz und hängen ihn an unsere Haustür. Oben an der Tür ist dafür ein kleiner Haken im Holz. Jakob greift sich den Kranz, ich hebe den Jungen hoch und er steckt den Kranz auf den Haken.

Er sieht sehr zufrieden aus, als ich ihn wieder auf dem Boden absetze.
„Stimmts, Mutter, morgen bekommt der neue Herzog seine Krone, und dann kommt bald der Hannes her in die Stadt."
Ich beuge mich runter zu ihm.
„Ja, mein Liebling. Und wenn er dann hier in der Stadt alles für sich eingerichtet hat und alles vorbereitet hat, dann will er alle Menschen in seinem Lehen einmal besuchen und begrüßen und sich vorstellen und nachfragen, was sich die Menschen von ihm wünschen. Und da kommt er dann ganz bestimmt auch zu uns. Ich bin sicher, dass er sich auf euch drei ganz besonders freut. Aber bis dahin wird es noch eine Weile dauern."

Nun schicke ich Jakob mit den übrig gebliebenen Zweigen zur Kirche, wo die Crügerin mit den Kindern den Altarschmuck fertigt. Ich gehe wieder ins Haus. Drinnen sitzt Susanna am Tisch und spielt mit den Weidenkätzchen, die beim Kranzwinden von den Zweigen abgefallen sind. Gedankenverloren streichelt sie die weichen Dinger, legt damit Muster auf den Tisch und summt ein Lied dabei. Wie so oft frage ich mich, was aus meinem zarten Mädchen in diesem Leben mal werden soll. Sie ist so langsam und verträumt, aber sie hat Geduld für drei und gibt niemals etwas auf. Hoffentlich wird es eines Tages einen Platz geben, an dem sie mit diesen Gaben genau richtig ist.

Obwohl die Kinder furchtbar aufgeregt sind, stecke ich sie heute ganz besonders früh ins Bett. Denn für den festlichen Ostergottesdienst werden wir schon vor Sonnenaufgang in die Kirche gehen und mit der ganzen Gemeinde den Ostermorgen und das Licht begrüßen. Als die Kinder endlich eingeschlafen sind, merke ich, dass ich selbst noch hellwach bin. Jakobs Frage nach Hannes hat die Sehnsucht erneut in mir geweckt. Ja, bald wird er kommen. Anfang Mai – hat er gesagt. Bis dahin will er nachforschen, wer denn die Frau von Lenthe eigentlich war. Und was sie mit mir zu tun hat.
Ich verstehe das immer noch nicht, aber immerhin habe ich es ihm erlaubt, und er wird die Zeit in Gieboldehusen und dann in Salzderhelden sicherlich genutzt haben, um so viel wie möglich zu erfahren.
Ach, was denk ich darüber nach. Was ist da schon zu erfahren!?! Sie war eine junge Adelige, sie hat diese Aufgabe übernommen und mit ganzem Herzen gefüllt. Und sie war immer gut zu mir. Mehr muss ich doch nicht wissen!
Ungeduldig schiebe ich die Fragen in mir beiseite, trinke meinen Kräutertee aus und gehe auch schlafen. Oder – versuche es zumindest.

Ganz früh am nächsten Morgen flitzt der Siegfried durchs Dorf und weckt alle Haushalte auf. Müde rappeln sich die Menschen in den Häusern hoch, versorgen kurz ihr Vieh, kleiden sich dann so festlich, wie ihre Truhen es hergeben, und machen sich im Dunklen auf den Weg zur Kirche. Auch ich schlüpfe voller Stolz in das wunderbare Gewand, das Hannes mir von der ersten Reise nach Duderstadt mitgebracht hatte. Ich ziehe die Kinder fein an, wir binden alle unsere kostbaren Schuhe zu, und dann gehen wir los.

Vom Hügel herunter sehe ich, dass Mathes Britt trägt, weil sie noch nicht wieder so bei Kräften ist, dass sie den Weg laufen kann. Aber er will doch, dass auch sie bei der Taufe dabei sein kann. Als sie bei mir ankommen, höre ich, wie sich Mathis und Laurenz schon die ganze Zeit darum streiten, wer Katharina tragen darf. Sie lieben ihre kleine Schwester beide abgöttisch. Schließlich spricht Mathes ein Machtwort.
„Mathis hin, Laurenz zurück, und jetzt ist Ruhe!"
Brummelnd gibt Laurenz die Kleine an seinen Bruder ab und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. Ich flüstere mit Jakob.
„Lauf doch mal zu Laurenz, lach ihn recht fröhlich an und frag ihn, ob er das Peterchen tragen mag. Der schafft noch nicht den ganzen Weg zur Kirche."
Kurz darauf sitzt Peter auf dem Arm von Laurenz und zieht ihn kräftig an der Nase. Nun kann auch Laurenz nicht mehr brummelig sein.
Jakob und Susanna laufen an meinen Händen neben mir her und hüpfen vor lauter Vorfreude. Beim nächsten Haus gesellen sich Irmel, Jorge, der kleine und der blinde Jasper zu uns. Mit jedem Haus werden es mehr, und bald ist der ganze fröhliche Zug bei der Kirche angekommen. Von der anderen Seite des Dorfes kommen uns Klaas Rand mit der alten Lene, die Holtmanns, die Ferzens und all die anderen Dörfler entgegen, und überall wuseln aufgeregte Kinder herum.

Vor dem Portal der Kirche fangen wir alle unsere Kinder ein und bringen sie zur Ruhe. Gemeinsam und schweigend treten wir in die dunkle Kirche ein, gehen auf unsere Plätze und bleiben dort stehen. Als völlige Stille eingekehrt ist, kommt Pastor Crüger mit einer großen Kerze zur Tür herein, trägt sie feierlich nach vorn und singt dazu das alte Osterlied: Christ ist erstanden.
Nach und nach fallen wir alle in den Gesang mit ein.

Langsam trägt der Pastor die Kerze einmal um alle Bänke unserer kleinen Dorfkirche und zündet dabei alle Kerzen in den Wandleuchtern an. Es wird immer heller. Dann schließlich steckt er die Kerze am Altar auf ihren Leuchter. Wir singen viel, beten viel, hören Worte aus der Bibel und schließlich die Osterbotschaft. Dann macht Pastor Crüger wie in jedem Jahr die Tür nach draußen weit auf und lädt uns ein, ganz still zu sein. Die Kinder machen große Augen, denn nun sehen wir dabei zu, wie es draußen immer heller wird, wir hören, wie die Vögel anfangen zu singen, staunen, als schließlich die Sonne aufgeht und unseren Dorfplatz in ein warmes Morgenlicht taucht.

Die Taufe der kleinen Katharina Müller erfüllt uns alle mit großer Freude und Dankbarkeit. Britt weint sehr, aber vor Freude. Immerhin hätte sie bei dieser furchtbar langen Geburt sterben können. Aber nun kann sie schon mit uns feiern und sich über ihr kleines Mädchen freuen. Und das ganze Dorf freut sich mit.

Wir feiern gemeinsam das Heilige Abendmahl und lassen uns beschenken mit der spürbaren Gegenwart Gottes. Am Ausgang verteilt Pastor Crüger die gebackenen Osternester an alle Kinder. Wir treten hinaus in den hellen Sonnenschein, gratulieren noch einmal Mathes und Britt zur Taufe ihrer kleinen Katharina und gehen dann mit Klaas zur Lene, um dort gemeinsam Ostern zu feiern. Unsere kleine Gemeinschaft hält noch immer zusammen, obwohl Hannes gar nicht mehr da ist.

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24.1.2022

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