29 - Unwillkommener Gast
So wie oben stelle ich mir den Brudenhusen vor.
Fr. 9.3. a.d. 1571
Am Morgen des neunten März breche ich mit den besten Wünschen von der Katlenburg auf. Der treue Mann wünscht mir viel Erfolg bei der Suche nach Hannes, und lädt mich ein, jederzeit gerne wieder bei ihm einzukehren. Ich verlasse nun die Grenze zum Eichsfeld und reise direkt über Wulften, Hattorf und Auekrug zum Lehen meines verschwundenen Freundes - nach Gieboldehusen. Die Überlandwege sind gut befestigt, und so kommen wir zügig voran. Ich erreiche die kleine Stadt aber erst, als es bereits finster ist. Es hat wieder zu nieseln begonnen. Und ich bin heilfroh, als ich über die Allee durch das große alte Hoftor zum Schloss reiten und mich auf ein warmes Kaminfeuer freuen kann. Ich habe mich nicht angekündigt. Ich will sehen, was ich hier vorfinde.
Zunächst einmal finde ich weder einen Stallburschen, der unsere Pferde versorgen will. Noch taucht ein Diener auf, der sich unseres Gepäcks annehmen könnte. Und als ich energisch an das große Eingangstor des Schlosses bollere, dauert es noch eine ganze Weile, bis ein Diener öffnet und sich unwirsch nach unserem Begehr erkundigt. Als ich mich vorstelle als Karl von Pagenstecher aus Salzderhelden, wird er gleichzeitig nervös und ratlos. Verwirrt beginnt er zu stottern, lässt uns dann plötzlich in der zugigen Eingangshalle stehen und eilt davon.
Kurz darauf erlebe ich eine Offenbarung der ganz besonderen Art. Leise auf den Diener einschimpfend erscheint auf der oberen Galerie ein sehr fein gekleideter Herr und schreitet dann majestätisch langsam die Treppe herab. Auf halber Höhe setzt er ein falsches Lächeln auf und tänzelt mir entgegen. Es ist der Verwalter dieses Schlosses, kein Zweifel - ein kleiner, dicker, ältlicher Mann mit dünnen Haaren auf dem Kopf und einem verschlagenen Blick, der mich einzuschätzen versucht.
DAS ist Hannes Verwalter???
Ich habe ihn einmal gesehen, als er vor Jahren in die Hauptstadt kam, um sich Hannes vorzustellen. Ich war an dem Tag bei Hannes und habe ihn darum erlebt. Seine Patin war gestorben, hatte ihm dieses Lehen vermacht - und dafür keinen ungeeigneteren Erben finden können als ihn. Hannes war neunzehn Jahre alt, wild, ungestühm und ablehnend jeder Verantwortung gegenüber. Er musste sich stundenlang einen Bericht dieses höchst unterwürfigen Mannes anhören, gespickt mit Zahlen und Ortsnamen und Notwendigkeiten. Und es interessierte ihn nicht ein winziges kleines Bisschen.
Der Verwalter damals war höflich, unauffällig, standesgemäß gekleidet und bemüht, einen fleißigen, loyalen Eindruck zu hinterlassen. Ich würde ihn gar nicht wiedererkennen - wäre da nicht seine Stimme. Unangenehm hoch und kurzatmig. Es ist derselbe Mann, da besteht kein Zweifel. Auch wenn er jetzt arrogant und selbstsicher auftritt und gewandet ist wie ein König. Er trägt ein leuchtend rotes Wams aus Samt mit zahlreichen Schlitzen, die mit gelber Seide umstickt sind. Es ist eine sehr feine, kunstvoll ausgeführte und sicher sehr teure Arbeit, die ihn eine Stange Geld gekostet haben dürfte. Jedenfalls erheblich mehr, als der Verwalter eines Lehens als Lohn erhalten wird - völlig abgesehen davon, dass er ganz bestimmt nicht die Herkunft und das Recht hat, diese Farben zu tragen.
Dies hier ist ein Möchtegernherrscher in seinem selbst gezimmerten Traumreich. Und ich werde erst wieder gehen, wenn ich herausgefunden habe, was dieser Mensch hier treibt.
Zu meiner Verblüffung versucht der Mann allen Ernstes, mir nur ein Glas Wein anzubieten und mich dann an eine Herberge in der Stadt zu verweisen. Aber was er kann, kann ich schon lange. Ich stelle mich absolut dumm und gehe so frech und selbstverständlich davon aus, dass mein Zimmer hier bereits eingeheizt ist, dass ihm schließlich nichts anderes übrig bleibt, als mir anzubieten zu bleiben. Ich kommentiere das gar nicht.
„Nun, Herr Brudenhusen. Ihr habt recht garstiges Wetter hierzulande. Ich freue mich schon auf den warmen Kamin und ein leckeres Nachtmahl. Ich hoffe, es bereitet niemand Umstände, ich bin wirklich sehr hungrig."
Mit vor unterdrücktem Zorn verengten Augen starrt er mich an und gibt schließlich ein paar Befehle. Staunen macht sich breit auf den Mienen der Diener, bevor sie davoneilen, um die Befehle auszuführen. Noch bevor Brudenhusen mich in ein Empfangszimmer bitten kann - was er nur höchst unwillig tut -, sehe ich Mägde die Treppe hinaufeilen, um mir ein Zimmer herzurichten. Mein Kammerdiener folgt ihnen auf dem Fuße, ein Knecht schleppt mein Gepäck.
Brudenhusen führt mich in das Frühstückszimmer, dem ich sofort ansehe, dass es selten genutzt wird und eigentlich nur noch für Gespräche mit der Dienerschaft bestimmt ist. Im Kamin brennt nur ein kleines Feuer, es ist kalt und zugig. Und dann bittet er mich um einen Augenblick Geduld, er habe schnell etwas zu regeln.
Was auch immer das ist, du Halunke. Hier wirst du mich nicht wiederfinden.
Kaum ist er zur Tür hinaus, verlasse auch ich das ungastliche Zimmer und streife ungeniert durch die Räume des Erdgeschosses. Die Eingangshalle ist mit feiner Täfelung, blitzenden Ritterrüstungen und bodenlangen, schweren Samtvorhängen ausgestattet. Die anschließenden Räume haben große Kamine, in denen warme Feuer flackern, weiche Sitzmöbel, Bilder an den Wänden - kurz: überall herrscht hier Luxus im Überfluss. Und nichts davon ist veraltet, wie man meinen sollte, wenn die ehemalige Besitzerin seit sechs Jahren tot ist und der neue Besitzer sich noch nie hat blicken lassen.
Hinter der großen Treppe in der Eingangshalle befinden sich weitere kleine Räume. Auch hier stecke ich neugierig meinen Kopf hinein. Zwei davon sind leer und dunkel, und ich will mich schon wieder zur Halle wenden, als ich sehe, dass unter der dritten Tür mattes Licht hervorscheint. Ich höre eine Frauenstimme leise singen. Ich klopfe sehr kurz und betrete den Raum. Eine junge, ärmlich gekleidete, abgehärmte, aber eigentlich ganz hübsche Frau sitzt in dem spärlich beheizten Raum an einem Tisch, hat eine helle Lampe neben sich und arbeitet konzentriert daran, ein leuchtend grünes Wams zu besticken. Erst nach einem Moment bemerkt sie meine Anwesenheit und schaut zu mir auf.
Ich finde es seltsam, dass diese Frau hier sitzt und zu so später Stunde noch so eifrig arbeitet. Ich bin versucht, sie zu fragen, aber dann entscheide ich mich doch dagegen. Ich schließe die Tür einfach wieder und wende mich erneut der Halle zu.
Ich hatte vorhin einen großen Speisesaal gesehen. Ich nehme mit einem Kienspan eine Flamme vom Kamin in der Halle und zünde mir an einem bereitstehenden Leuchter die Kerzen an. Ich erleuchte erst ein reichhaltig ausgestattetes Empfangszimmer, dann finde ich den Speisesaal mit langer Tafel und kunstvoll bemalten Fayancen wieder und mache auch hier großzügig Licht. Ich verstecke mich auch nicht, lasse völlig ungeniert die Türen offen stehen. Ein verschreckter Diener lunzt um eine Ecke und eilt dann davon. Ich strecke meinen Kopf hinaus in die Halle und frage eine vorbeihuschende Magd, ob ich hier richtig sei im Speisezimmer, und wie lange das Nachtmahl noch auf sich warten ließe. Sie läuft dunkelrot an, rennt fast zu einer Tür und eine schmale Treppe hinunter. Wenn ich nicht so misstrauisch wäre und das alles sich nicht so falsch anfühlen würde, könnte ich mich fast darüber amüsieren.
Nun taucht der Brudenhusen wieder auf, sieht sich von mir und meiner Frechheit überrumpelt und schnappt entrüstet nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich sehe ihm an, dass er nach Worten ringt, wie er mich hier wieder rauslotsen kann, aber es will ihm nichts einfallen. Mir fällt auf, dass er das feine rote Wams gegen ein unauffälligeres graues eingetauscht hat. Mühsam hält er die Konversation aufrecht, bis ein Diener meldet, das Nachtmahl sei im Salon angerichtet. Das Wort „Salon" betont er so seltsam, dass ich mir das Grinsen verkneifen muss. Und richtig - der Brudenhusen teilt ihm sofort und zähneknirschend mit, das Nachtmahl sei hier im Speisesaal zu servieren.
Der Diener macht wieder kehrt, und kurz darauf wird ein wahrhaft gesundes und ziemlich kärgliches Mahl serviert, das in krassem Gegensatz zur reichen Ausstattung dieses feudalen Speisesaales steht. Ich lasse mir nichts anmerken, esse scheinbar mit Genuss, lasse mir immer wieder mein Weinglas nachfüllen, obwohl auch der Wein offensichtlich von der billigsten Sorte ist, und bringe damit meinen unfreiwilligen Gastgeber fast zur Weißglut.
Als wir zur Nachspeise eine Schale mit schrumpeligen Früchten gereicht bekommen, lehne ich mich satt und zufrieden zurück und fange an zu plaudern.
„Ist denn mein Freund noch nicht eingetroffen? Er schrieb mir, er werde hier auf mich warten, wir würden uns hier treffen und ein paar Tage gemeinsam die Taubenjagd genießen. Auch seine Falknerei könne sich sehen lassen."
Dem Mann bricht der kalte Angstschweiß aus. Ihm ist offensichtlich nicht klar, welch eindeutige Signale er sendet. Er ist hier der uneingeschränkte Herrscher, er hat keinerlei Interesse, dabei durch seinen Lehnsherrn oder dessen Freunde gestört zu werden, Besuch wird so schnell wie möglich wieder hinauskomplimentiert und niemand darf ihm in die Schüssel kucken. Aber damit beißt er bei mir auf Granit. Ich werde bleiben. Bis der Hochstapler in die Knie geht und um Gnade winselt.
Einem Diener, der kommt, um die Tafel abzudecken, teile ich nebenbei mit, dass ich es gewohnt sei, meine Bediensteten im Nebenraum schlafen zu lassen, er möge veranlassen, dass dort genug Schlafstellen seien und mein Kammerdiener direkt zu mir kommen könne, wenn ich ihn riefe. Der arme Mann schaut fragend zu seinem Herrn und erntet ein resigniertes Nicken. Damit eilt er davon und versetzt wiederum die Mägde des Hauses in Aufregung.
Der „Hausherr" erbittet nun, sich zurückziehen zu dürfen, und wünscht mir eine angenehme Nachtruhe, bevor ich morgen die Weiterreise antrete.
So schnell wirst du mich nicht los, Freundchen.
Ich erwidere den Gruß und lasse mich von einem Diener zu meinem Gemach führen.
Wie erwartet ist auch dieses sehr einfach und klein, Kahn und die drei Wachen stapeln sich im Nebenraum geradezu. Da ich aber nicht gedenke, in diesem fremden Haus voller seltsamer Feindseligkeit allein zu nächtigen, zieht Joseph nebst seinem einfachen Lager direkt zu mir. Ruven lasse ich bei meinem Kammerdiener schlafen, und Benjamin bitte ich, sich zum Stall durchzufragen und dort gemeinsam mit Konrad zu nächtigen. Es sei heute Abend etwas schwierig, morgen werde ich mich darum kümmern, dass auch diese beiden es bequem hätten. So ist dann doch für alle genug Platz, und keiner von uns muss alleine schlafen. Das scheint mir unter den gegebenen Umständen zu unsicher. Auch ich gehe nun zur Ruhe. Aber schlafen kann ich noch lange nicht.
Hannes, wo bist du???
Wände haben Ohren
SA. 10.3. a.d. 1571
Mein Kammerdiener Kahn weckt mich am nächsten Morgen mit der Nachricht, der Verwalter habe nachgefragt, wann ich denn abreisen wolle.
Der Halunke lässt wirklich nicht locker.
„Gib ihm keine Antwort. Ich werde jetzt gemütlich den Tag beginnen, möchte hier oben frühstücken und werde ihn dann selbst finden."
Er schickt Ruven zur Küche um ein Frühstück und hilft mir dann, mich anzukleiden. Draußen scheint die Sonne, ich bin ausgeruht und voller Tatendrang. Mit dem Frühstück trifft auch Benjamin ein, der heute Nacht mit Konrad im Stall geschlafen hat.
„Herr, darf ik Euch eene Beobachtung mitteil'n, die ik heut Nacht gemacht hab, als ik auf der Suche nach dem Weg zum Stall war?"
Er hat sofort meine Aufmerksamkeit.
„Ik hab etwas gebraucht, bis ik een unverschloss'ne Döör hinaus innen Hof gefund'n hab. Als ik drauß'n eb'n um eene Ecke bieg'n wollte, hab ik jemand mit 'ner hoh'n Stimme heftig schimpf'n gehört. Ik kann nich viel von dem seltsam'n Gespräch verpasst hab'n. Was ik hörte, war folgendes:'Is der Mann wirklich dod?' - 'Ja, Herr.' - Dann erklär mir eens, Hauser. Warum kümmt heut sien Freund ins Schloss marschiert un behauptet stiff un fest, er habe eene schriftliche Einladung zur Taub'njagd erhalt'n un gedenke, eene Weile zu bleib'n un auf sien'n Freund zu wart'n?' Eine Weil' herrschte Schweig'n ums Eck. Dann hörte ik wedder die unangenehme Stimme. 'Daför wirst du büß'n, Halunke! Bring ihn mir. Dod! Ik werd versok'n, dies'n hartnäckig'n Gast loszuwerd'n, je eher, desto besser. Aber wenn du diesmal deine Aufgabe nich vollständig erledigst, dann büst DU dod.' Ik hatt genug erluschert un hab mich schnell unner der Treppe zu dieser Seit'ntür versteckt. Kein'n Augenblick zu früh, denn der kleene Dicke mit der hoh'n Stimm hastete genau durch deese Döör wedder rein un schimpfte dabei vor sich hin. Ik hab noch gewartet, bis auch die Schritte des anner'n verhallt war'n. Dann bin ik zum Stall gehuscht."
Kahn ist mitten in diesem Bericht ein Glas klirrend auf dem Boden zerschellt, und ich bin aus meinem Stuhl hochgeschossen. Ich habe keinen Gedanken mehr für Sonnenschein und Frühstück. Ich kann kaum glauben, was ich gehört habe. Aber Benjamin versichert mir, dass er alles richtig behalten habe.
„Das heißt, dass dieser Brudenhusen einen Mann namens Hauser beauftragt hat, Hannes zu ermorden. Seinen eigenen Herrn. Der hat aber Murks gebaut und das dann seinem Herrn lieber verheimlicht. Denn der Verwalter hat aus meiner Bemerkung geschlossen, dass Hannes noch leben muss, und war ehrlich verblüfft und erschrocken darüber. Er hat meine Geschichte mit dem Brief geglaubt. Und der Hauser hat das nicht abgestritten. Und das heißt..."
Mein Kammerdiener hat die Scherben eingesammelt und schaut mich nun mit vor Freude glänzenden Augen an.
„Das heißt, Herr, dass er noch lebt. Irgendwo hier. Er lebt!"
Spontan schießen mir die Tränen der Freude in die Augen. Unruhig laufe ich im Raum auf und ab.
„Wir dürfen nichts überstürzen. Der Hauser wird wissen, wie gefährlich es für ihn ist, dass er den Auftrag nicht erfüllt hat. Er wird seitdem intensiv gesucht haben. Hannes muss also gut versteckt sein oder geflohen sein oder treue Verbündete gefunden haben. Oder alles zusammen. Es wird also auch für mich nicht leicht sein, ihn zu finden."
Mein Hirn arbeitet fieberhaft.
„Außerdem wird der Hauser nun selbst noch verstärkt suchen. Und das wird Hannes auch nicht grade aus dem Bau locken. Ich muss also nun erst dafür sorgen, dass ich ein Weilchen bleiben kann, und beobachten, was hier alles so vor sich geht. Ich muss sehr auf unsere Sicherheit bedacht sein, denn dieser Mensch geht offenbar über Leichen. Und ich muss einen Weg finden, Hannes wissen zu lassen, dass ich in der Gegend bin."
Mir platzt bald der Schädel, meine Gedanken überschlagen sich.
„Wir dürfen auf keinen Fall allein sein. Benjamin, geh sogleich wieder in den Stall, damit Konrad nicht allein ist."
Der Wachmann entfernt sich sofort. Ich dagegen kleide mich sorgfältig für einen kleinen Spaziergang, verlasse mein Zimmer, Joseph im Gefolge, schreite in die Halle hinunter und lasse mich von einem herumstehenden Diener zum Brudenhusen bringen.
Der scheint sich ein wenig gefasst zu haben, denn er kommt mir aus seinem Arbeitszimmer entgegen, begrüßt mich und fragt mich viel freundlicher als gestern: "Nun, ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nachtruhe. Darf ich fragen, wohin Ihr Euch auf der Weiterreise wenden wollt?"
Ich muss mich sehr beherrschen, ihm nicht sofort an den Kragen zu gehen. Stattdessen tue ich ausgeruht und fröhlich.
„Ach, mit der Entscheidung warte ich, was mein Gastgeber so plant. Er wird ja sicher bald hier eintreffen. Und wenn wir keine Lust mehr haben, Tauben zu jagen, dann wollen wir gemeinsam entscheiden, wo wir das Frühjahr verbringen wollen. Das findet sich dann schon. Aber bis Ostern sind wir sicher noch hier."
Der Brudenhusen schnappt nach Luft, doch ich lasse ihn gar nicht zu Wort kommen.
„Ein hübsches Städtchen ist das hier. Ich habe gestern Abend im Dunklen gar nicht viel sehen können. Ich denke, ich werde mir nun die Kirche ansehen, dann bis zum Mittag einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen und ein wenig frische Luft schnappen. Jetzt, wo der leidige Regen endlich aufgehört hat."
Und mit diesen Worten gebe ich meinem Begleiter einen Wink und spaziere gut gelaunt zur großen Eingangstüre hinaus. Auf dem Schlosshof und in Sichtweite des Torhauses bleibt er noch hinter mir, dann schließt er zu mir auf, und wir streben zur Stadtkirche.
Die kleine Kirche ist ein Schmuckstück. Ich setze mich still in eine Bank und betrachte den kunstvoll geschnitzten Altar. Und so kann ich ein wenig entspannen und meinen Gedanken freien Lauf lassen. Ich bete für Ludo und Hannes und für den Erfolg meiner Reise. Etwas gestärkt treten wir dann wieder hinaus auf den Platz und laufen gemeinsam durch die Straßen und Gassen.
Joseph ist ein guter Beobachter. Gemeinsam entdecken wir viele kleine Anzeichen, dass die Menschen in dieser Stadt arm sind, dass es ihnen nicht gut geht. Wir begegnen sehr viel Misstrauen. Und er merkt ziemlich schnell, dass wir verfolgt werden. In der Herberge am Markt suchen wir uns einen gemütlichen Platz in einer Ecke der Schankstube, von wo aus mein Mann die Tür beobachten kann. Hinter uns kann sich nun niemand verstecken, weil da die Küche der Schenke liegt, und so sind wir einigermaßen ungestört. Der Verfolger scheint sich jedoch sowieso nicht herein zu trauen.
Während Joseph an seinem warmen Bier nippt und seine Augen durch den Raum schweifen lässt, schaue ich nachdenklich auf die Tischplatte.
„Und - was denkst du, wie wir jetzt weitermachen?"
Er lenkt seine Aufmerksamkeit auf mich.
„Ik würd gern zunächst versteh'n, warum hier an all'n Eck'n un End'n so ungewöhnlich veel Geschäftigkeit herrscht. Es liegt was inner Luft. Dann sollt'n wir rausfind'n, ob es noch Bedienstete gibt, die schon zur Tied der Gräfin da war'n - wir sollt'n nach Verbündet'n direkt im Hause such'n. Un wenn die mal so richtig aus'm Nähkästch'n geplaudert un ihr Herz ausgeschüttet hab'n, wiss'n wir wahrscheinlich viel mehr. Von den'n erfahr'n wir dann nämlich auch, wer die direkt'n Vertraut'n des selbsternannt'n Herrschers sind. Vor denen wir uns in Acht nehm'n müss'n."
Das klingt einleuchtend. Wir brauchen dringend Verbündete - warum also nicht gleich im eigenen Hause danach suchen.
Ich will grade etwas erwidern, als sich die Tür zur Küche öffnet, der Schankbursche sie mit dem Ellbogen aufschiebt und sich noch einmal zurück in die Küche wendet.
„Ik hab keene Ahnung, wie sich der olle Brud'nhus'n dat vorstellt. Er quetscht uns alle aus, damit er een tolle Hochtied fier'n kann, aber dat wir dadurch nich genug hab'n, um seine zahlreich'n Gäste hier im Ort zu bewirt'n, dat ist ihm offensichtlich egal."
Damit wendet sich der Bursche in den Schankraum, schubst mit dem Fuß die Küchentür wieder zu und beginnt, die mitgebrachten Teller und Platten an die anwesenden Gäste zu verteilen.
Joseph und ich schauen uns nicht an. Als der Bursche wieder in der Küche verschwunden ist, murmelt mein Begleiter nur etwas.
"Ach, daher weht der Wind! Der Mann will frei'n, un sien Lehnsherr wär ihm dabei im Wege gewes'n."
Ich spüre blanken Zorn in mir.
„Er versucht allen Ernstes, sich dieses Lehen anzueignen. Er muss größenwahnsinnig sein."
Nachdem wir noch eine Weile durch das Städtchen gebummelt und dabei wie zufällig auch am Waisenhaus und der inzwischen geschlossenen Schule vorbeigekommen sind, wenden wir uns wieder dem Schloss zu. Unser Wachhund hat sich erneut an unsere Fersen geheftet, kann aber leider nichts Verdächtiges erspähen, weil wir wirklich nur bummeln.
Zurück in der großen Eingangshalle informiere ich einen älter aussehenden einfachen Diener, dass ich wieder da sei und gerne am Mittagsmahl teilnähme. Er schaut mich verschreckt aus trüben Augen an.
„Herr, ich bin gebeten worden, Euch zu informieren, dass der Herr Verwalter leider aushäusig speise, hier werde heute nicht gekocht."
Es ist ihm sichtlich peinlich, dass er mir eine so unverschämte Botschaft ausrichten muss, und ich wittere den ersten Verbündeten.
„Wenn es dir möglich ist, wäre ich dir dankbar, wenn meine Begleiter und ich dennoch etwas zu essen bekämen."
Ich schaue ihn freundlich an, was er wohl bemerkt.
„Sehr gern, werter Herr."
Damit verschwindet er in Richtung Küche.
Joseph und ich schauen ihm hinterher, bevor wir uns zur Treppe wenden.
„Na, das kann ja heiter werden."
Kurzerhand bitte ich ihn, auch Benjamin und Konrad aus dem Stall zum Essen zu holen. Ich esse lieber gemeinsam mit meinen Untergebenen als ganz allein. Immerhin sind wir im Moment ganz auf uns gestellt. Kurz darauf kommen der ältere Diener und zwei Küchenburschen und versorgen uns mit kaltem Braten, Brot, Früchten und Bier. Während wir herzhaft zugreifen, berichten wir den anderen vier, was wir erlebt und gehört und verstanden haben. Wir beschließen, dass ich mich einfach als penetranter Gast einnisten und den Brudenhusen auf Trab halten werde, während die anderen die Stimmung aufnehmen, die Leute beobachten und mögliche Verbündete suchen. Wir machen aus, dass keiner von uns lange allein sein darf, und hoffen, so an entscheidende Informationen zu kommen, was hier passiert sein könnte oder wo wir suchen müssen.
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8.1.2022
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