24 - beim Bauern Freese
Sa. 17.2. a.d. 1571
Sehr früh am Samstag brechen Jorge und ich auf. Die Kinder sind ganz aufgeregt, denn alleine mit Hannes zu Hause zu bleiben, ist für sie ein richtiges Abenteuer. Auch das Peterchen bleibt daheim. Hannes will versuchen, ob es klappt, ansonsten hält sich Irmel nebenan bereit, den Kleinen zu übernehmen. Und so stehen die vier in der Morgendämmerung am Dorfausgang, das Peterchen auf Hannes Arm, Susanna auf seiner Hüfte, Jakob direkt davor, und winken fröhlich, bis wir einander nicht mehr sehen können. Dann richte ich meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne.
Unser Pferd Elias ist ausgeruht, die Wege sind noch fest, aber gut befahrbar, wir sind warm eingemummelt, Hannes hat Jorges Beutel gut gefüllt. Wir haben die Hoffnung, dass wir vielleicht schon heute Abend zurückkehren können. Eine Weile hängen wir unseren Gedanken nach. Der Winter dauert lang in diesem Jahr, und so fahren wir wie durch eine glitzernde Märchenlandschaft, kaum dass wir den Grenzwald verlassen haben. Bis zu den Hügeln bei Rhumaspring rollen wir entlang des kleinen Flusses.
„Was denkst du, Jorge. Hat Klaas Recht? Sollten wir den Bauern Freese einweihen in unsere und Hannes Geschichte? Für mein Gefühl wäre es nicht schlecht, wenn einer Nachricht hintenrum schicken könnte, falls der Hauser oder gar der Brudenhusen mal außer der Reihe auftauchen sollten."
Jorge wiegt den Kopf.
„Grundsätzlich ja. Hannes hatte nischt dageg'n, der Drebber hat nur Gutes von der Tosamm'narbeit mit'm Vogt von Rhumaspring berichtet. Aber ik würd den Buurn gern erst persönlich kenn'nlern'n, bevor wir dat entscheid'n. Wir sollt'n nischt überstürz'n, es hängt zu viel dran."
Ich nicke dazu, denn es treibt uns ja keiner.
Jorge deutet nach vorn.
„Kiek, Anna. Da sind schon die Dächer von Rhumaspring to seh'n. Bald sind wir da."
Zügig fahren wir ins Dorf ein und hindurch, bis ich auf den letzten Hof deute.
„Dort, Jorge. Dort lebt der Freese. Wollen wir sehen, ob wir wieder einen so freundlichen Empfang bekommen."
Jorge lenkt seinen Karren vor den Stall des Hofes und hilft mir dann vom Kutschbock.
Gleichzeitig öffnen sich die Türen vom Stallgang und von der Diele. Die Frau Freese erkennt mich, der Stallbursche erkennt das Pferd, das ja eine ganze Weile bei ihm gestanden hat, und so fällt die Begrüßung sehr herzlich aus. Wir werden hereingebeten, dürfen uns aufwärmen und bringen dann den Freeses unsere Anliegen vor. Jorge kommt gleich zur Sache.
„Wir Lüüt in Lütg'nhus'n sind immer noch dankbar, dat Ihr mit Euerm Vertrau'n un Eurer Großzügigkeit unsrer Frau Adam un ihren Kindern nach Huus geholf'n habt. Ik bin jetzt auf'm Wege, inner Stadt einiges für die Frühjahrsbestellung zu besorg'n, un ich dacht - falls Ihr nich selbst noch fahr'n wollt, könn'n wir Euch vielleicht Eure Freundlichkeit vergelt'n un Eure Einkäufe gleich mit erledig'n."
Der Freese lacht sehr herzlich.
„Wenn Ihr dann endlich aufhört, Euch dauernd bei mir bedank'n zu woll'n - dann dürft Ihr für mich mit einkauf'n. Ik hab doch nur getan, was nötig war un was jeder gute Christ'nmensch getan hätte. Höchstens..."
Er macht eine kleine Pause und senkt dann seine Stimme.
„Warum der Knecht beim zweeten Mal plötzlich blond war - diese Neugierde könntet Ihr mir doch befriedig'n."
Ich sehe Jorge nicht an.
„Das kann ich gerne erklären. Wenn es einen Ort auf diesem Hof oder in diesem Dorf gibt, wo uns wirklich, wirklich niemand zuhören kann."
Ich habe nur geflüstert, aber der Freese hat mich wohl verstanden. Ein verschwörerisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
„Da würd ik sag'n, Ihr erledigt Eure Geschäfte inner Stadt un kümmt heut Abend wedder her. Nehmt den Fries'n, der is stark, dann geit es schneller. Un fühlt Euch eingelad'n, heut Nacht hierzubleib'n, falls es spät werd'n sollte. Dann wird sich dieses Plätzch'n schon find'n."
Und schon gibt er Befehl, dass der Elias aus- und sein Friese eingespannt werden soll. Er nennt uns einige Dinge, die er tatsächlich brauchen kann. Wir können nicht versprechen, dass wir schon heute wieder hier sein werden, weil ich ja abhängig bin davon, dass der Verwalter mich gehen lässt. Kurz erkläre ich noch ihm und seiner Frau, warum ich eigentlich immerzu hin- und herfahren muss. Dann sind wir wieder auf der Straße.
Mit dem Friesen vor dem Karren geht es wirklich viel schneller voran. Es ist noch Vormittag, als wir durchs Stadttor von Gieboldehusen fahren. Jorge lenkt den Karren zu einer Schenke am Markt, wo Pferd und Wagen unterstehen können, und beginnt, die Liste aus seinem Kopf abzuarbeiten.
Ich mache mich wie immer mit sehr gemischten Gefühlen zu Fuß auf den Weg zum Schloss. Als ich durch das Torhaus in den Schlosshof einbiege, empfängt mich hektische Geschäftigkeit. Es scheint, als würden das Schloss, der Hof, einfach alles aufgeräumt, ausgebessert, besonders schön gemacht und geschmückt.
Und das mitten im Winter!
Unbeachtet laufe ich über den Hof zum Kücheneingang, werde eingelassen und zügig zur Hausdame gebracht. Ich kann meine Neugierde kaum zurückhalten, denn alles sieht aus, als würde ein Fest vorbereitet oder ein wichtiger Gast erwartet.
Und deshalb will er auch eine Satteldecke passend zum Wams haben. Er hat irgendwas vor, wobei er so richtig angeben will!
Fast könnte man meinen, die Hausdame wäre froh, mich zu sehen. Naja - fast ...
Sie schickt einen Diener zum ersten Hausdiener, der sogleich zurückkehrt und mich in das mir bekannte kleine Zimmer hinter der großen Treppe der Eingangshalle bringt. Ein anderer, älterer Diener kommt mit dem Wams herein, vergleicht die Arbeiten und nickt zufrieden.
„Das hast du gut gemacht. Es wird prächtig aussehen. Nun wollen wir hoffen, dass das Muster in der Form auch zur Form vom Sattel passt. Folge mir doch bitte."
Ich bin erstaunt. Noch nie war in diesem Haus jemand so freundlich zu mir! Ich sehe mir den Diener genauer an. Er ist schon deutlich älter, hat ein faltiges, freundliches Gesicht und sieht müde aus. Irgendwie traurig.
Ich folge dem Mann zu einer Seitentür hinaus. Bald stellt sich heraus, dass wir auf dem Weg zum Stall sind. Dort wird ein Bursche geschickt, den Sattel zu holen. Decke und Sattel werden auf einen hölzernen Bock gelegt, und es zeigt sich, dass es gut war, dass ich mich an der Form des Sattels von Hurtig orientiert habe. Der Diener jedenfalls ist sehr zufrieden. Er nimmt die Satteldecke wieder an sich und führt mich zurück zum Schloss. Unterwegs drückt er mir plötzlich etwas Kleines in die Hand, ohne mich dabei anzusehen.
Kurz vor dem Eingang dreht er sich dann zu mir um.
„Du hast gute Arbeit geleistet. Ich werde Herrn Hauser ausrichten, dass deine Steuerschuld für Februar und März entrichtet ist. Im Moment gibt es keine weiteren Aufträge. Aber das wird sich Anfang März sicher ändern. Dann kommt viel Arbeit auf dich zu."
Mit diesen mysteriösen Worten nickt er mir freundlich zu und entlässt mich. Ich kann gehen.
Verwirrt verlasse ich den Schlosshof und wende mich wieder zum Markt. Ich wage noch nicht nachzusehen, was ich in der Hand habe. Unterwegs treffe ich Jorge, der grade aus einer Schmiede tritt. Er hat mehrere Sensen und Sicheln kaufen können, die er gleich auf dem Karren verstaut. Gemeinsam wenden wir uns der Schenke zu und treten ein. Es ist voll, laut, rauchig und dunkel herinnen - kein Ort für eine ehrbare Frau. Aber wir finden doch einen Tisch in der Ecke, entfernt von den durcheinander brüllenden Männern und bestellen uns warmen Würzwein und eine dicke Suppe.
Schweigend lege ich meine geschlossene Faust auf den Tisch vor mir und sehe sie an. Nun wird Jorge aufmerksam.
„Anna, was hast du inner Hand?"
„Ich ... weiß es nicht."
„Wie - du weeßt es nich!?!"
Ich berichte ihm leise von dem hektischen Treiben im Schloss, von der freundlichen Behandlung durch den alten, traurig aussehenden Diener - und von dem seltsamen Moment auf dem Rückweg vom Stall.
„Na, dann kiek nach!"
Ich strecke meine Hand aus, und öffne sie, ganz langsam. Jorge hält schon vor mir die Luft an. Auf meinem zitternden Handteller liegt ein Kreuzer. Ein ganzer Kreuzer, genug für ein halbes Schwein. Ich starre in meine Hand wie auf ein Gespenst.
Jorge lacht.
„Anna, nich blass werd'n. Freu'n!"
„Jorge, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Wieso gibt mir der Diener so viel Geld? Und wofür? Sie werden behaupten, dass ich das gestohlen habe. Ich muss es zurückbringen!"
„Dat wirst du schön bleib'n lass'n. Heb die Münze meinetweg'n auf, wart ab, ob jemand danach sucht. Aber du wirst ganz sicher nich unauffällig genau dies'n Diener wiederfind'n könn'n. Un dann wird es viel gefährlicher, als wenn du die Münze eenfach mitnimmst. So, wie du es vertellst, hat er dat doch auch heimlich getan. Nimm's an un freu dich."
Sorgfältig verstaue ich diesen Schatz in meinem Beutel, dann essen wir schweigend die Suppe, die uns gebracht wird, und wärmen uns an dem Wein.
Aus der Masse der lärmenden Männer sticht eine Stimme besonders heraus.
„Die Deern tut mir jetzt schon leid. Sie wird von ihr'm ehrgeizig'n Vadder verschachert an en fedden, alten Knacker für Ruhm un Anseh'n."
„Sei still, Onno! Sauf nich so ville, du schnackst dich um Kopp un Kragen!"
„Ach wo. Der Möchtegern saugt uns alle aus, un jetzt will er zu Ostern auch noch herrschaftlich frei'n, als wär er der Herzog persönlich. Was en Auftrieb da drauß'n, damit er vorm Schwiegervadder angeb'n kann."
„Onno, dat reicht jetzt!"
Energisch wird der lärmende Mann von seinen Freunden am Kittel runter auf die Bank gezogen. Jorge und ich sehen uns stumm an.
„Jo, mir reicht dat auch!"
Onno lärmt weiter, er ist nicht zu bremsen.
„Ik frag mich, warum sich der Blutsauger so sicher is, dat seine 'Herrschaft' hier nich entdeckt wird. Der Erbe unsrer Frau von Minnigerode soll sehr jung gewes'n sein damals. Aber irgendwann wird er sich doch um sien Leh'n kümmern. Un dann fliegt der Brud'nhus'n auf. Dat wir alle dafür seit Jahr'n blut'n müss'n, schert kein'n."
Seinen Freunden steht inzwischen der kalte Angstschweiß auf den Stirnen. Sie springen auf und zerren Onno aus der Schenke, nach hinten in den Hof. Kurz darauf ist durch die offene Tür ein Entsetzensschrei zu hören. Einige Neugierige flitzen zur Tür und kommen laut lachend wieder.
„Dat hat er nu von sein' versoffen'n Schnack. Recht so! Siene Kumpane hab'n ihn mit eisekalt'm Brunn'nwasser überschüttet. Jetzt geit er freiwillig na Huus, so klatschenass, wie er is. Nüchtern is er jetzt jed'nfalls wedder."
Ohne ein Wort bezahlen wir die Zeche, verlassen die Schenke, erledigen stumm die letzten Einkäufe, verstauen alles auf dem Karren und sind bald wieder auf der Landstraße.
Erst, als wir durch das große Butterloch rollen, findet Jorge seine Sprache wieder.
„Anna? Wir hab'n eene Antwort!"
Ich nicke vorsichtig.
„Es könnte sein. Wenn der Brudenhusen über Stand heiraten will, muss er was in die Waagschale werfen können. Aber dass er sich so sicher fühlt, dass sein anmaßendes Verhalten nicht auffliegt, das muss eigentlich heißen: er rechnet nicht damit, dass sein Lehnsherr kommt."
„Nee, anners. Er weiß, dat sien Lehnsherr nich komm'n wird."
Wieder schweigen wir eine Weile.
„Jorge? Was ich nicht verstehe, ist, warum der Hauser dann noch sucht. Wenn doch der Brudenhusen davon ausgeht, dass ..."
„Dann heißt dat wohl, dat der Hauser daheim nich die Wahrheit geseggt hat - nach jener Sturmnacht. Er sucht, um Gewissheit zu hab'n, dat er Erfolg hatte. Damals. Damit wiederum er nich auffliegt."
„Und das Ganze heißt, dass ..."
„Dat heißt, Anna, dat Hannes unser Lehnsherr is. Es erklärt nich, warum er sien Gedächtnis verlor'n hat. Warum er an der Grenze entlang kam. Warum er allein un mitten inner Nacht un bei Storm unnerwegs war. Aber es erklärt, wohin er wollte."
„Und warum er niemals dort ankommen sollte."
Erst, als wir den Ortsrand von Rhumaspring und den Dachfirst des Bauern Freese schon sehen können, finden wir wieder Worte.
„Jorge, ich bereue, dass ich heute Morgen eine Antwort versprochen habe. Was sagen wir nun nur dem Freese?"
„Die halbe Wahrheit."
„Und die wäre?"
„Genau dat, wat wir bis heute Morgen gewusst hab'n. Wie Hannes zu uns kam, dat er sien Gedächtnis verlor'n hat, dat der blinde Jasper die eene Stimme erkannt hat, dat wir weg'n der merkwürdig'n Aufmerksamkeit des Hausers den Hannes versteckt halt'n. Weil wir um sein Leb'n fürcht'n."
Schweigend rollen wir in den Hof des Bauern Freese. Freundlich werden wir begrüßt, der Bauer verräumt die Einkäufe, die wir für ihn getätigt haben, der Friese wird ausgespannt, wir werden hereingebeten, bewirtet. Die seltsame Stimmung zwischen Jorge und mir lässt sich kaum verbergen. Und so schlägt der Bauer schon bald vor, dass er uns doch mal die Quelle der Rhuma zeigen will, weil wir uns sicher nach der vielen Sitzerei auf dem Kutschbock und dem langen Durchgerütteltwerden etwas die Beine vertreten wollen.
Schon wieder schweigend klettern wir gemeinsam mit ihm den Hügel hinter seinem Hof hinauf. Oben angekommen haben wir eine wirklich wundervolle Aussicht. Hinter uns gluckert die Quelle unter dem inzwischen dünn gewordenen Eis, und vor uns breitet sich eine weite, glitzernde Landschaft im nachmittäglichen Sonnenlicht aus. Linkerhand sehen wir den Verlauf der Rhuma bis zum Grenzwald, rechterhand können wir am Horizont das Große Butterloch erkennen. Es ist wunderschön hier.
„Nu - spannt mich nich länger auf die Folter. Wer is Hannes?"
Jorge lacht leise auf.
„Dat is eene sehr direkte Frage."
„Jou. Un ik freu mich auf Eure sehr direkte Antwort."
„Die Wahrheit? Wir weten es nich. Denn er weet es selbst nich. Bei dem furchtbar'n Storm Mitte November is er plötzlich schwer verwundet in Anna Adams Kate gestolpert, hat über eene Woche im Fieber geleg'n - un anschließend nich mehr gewusst, wer er selber is. Aus sein'n Träum'n konnt'n wir errat'n, dat er in sein'm früher'n Leb'n Hannes genannt wurde. Darum is er für uns - Hannes."
„Un warum hat er plötzlich gefärbte Haare, warum versucht er, sich dumm zu stell'n un eenen Dialekt zu sprech'n, den er nich beherrscht?"
Ich bekomme eine Gänsehaut.
Wer hat das noch alles verstanden??? Das ist nicht gut!
Jorge spricht gelassen weiter. Ich hätte diese Ruhe jetzt nicht mehr und schweige darum.
„Hannes kam mitten inner Nacht, hat sich ohne Erklärung in Anna Adams Hütte versteckt - un kurz darauf kam'n vier Figöken un hab'n ihn gesucht. In jedem einzeln'n Haus im Dorp. Beim folgend'n Steuertag dann hat unser blinder Jasper die Stimme von eenem der Knechte erkannt. Dieser Knecht war eener der Männer, die inner Stormnacht bei ihm eingedrung'n war'n. Wir geh'n also davon aus, dat der Überfall nich zufällig war sonnern irgendwas mit'm Hauser zu tun hat. Zumal wir eigentlich an deeser Stelle des Grenzwaldes nie Wegelagerer hab'n. Da unser Pastor aus Duderstadt stammt un tatsächlich vor einig'n Monat'n geerbt hat, is er mit der Begründung heimgereist, er müsse sich um sien Erbe kümmern. Un da hat er dann den Hannes mitgebracht un als sein'n Knecht offen im Dorp untergebracht."
Bauer Freese schmunzelt.
„Ik frag jetzt nich, wie Hannes ins Eichsfeld kam, dat er dann als Dortiger wedder über die Grenze zurückreis'n konnte. Ik versteh jed'nfalls, dat dieser nette Jung in tiefer Not is un versteckt werd'n muss."
Plötzlich zieht er scharf die Luft ein.
„Wann, sagtet Ihr, is Hannes zu Euch gekomm'n?"
Jorge sieht ihn irritiert an.
„Mitte November beim groß'n Storm, mitt'n inner Nacht. Der Überfall war im Grenzwald, er war verwundet, un viel weiter als bis zu uns wär er sicher nicht gekomm'n."
Bauer Freese pfeift durch die Zähne.
„Verstehe. Dat erklärt einiges."
Als er unsere fragenden Gesichter sieht, spricht er weiter.
„Inn'n früh'n Morg'nstund'n eb'n dieser Stormnacht kam'n vier völlig durchnässte Kerle an, die behauptet'n, vom Verwalter zu komm'n un een entflohn'n, schwer verwundet'n Verbrecher zu such'n. Sie stürmt'n in jedes Haus im Dorp, trat'n sehr selbstbewusst auf - un war'n sehr abenteuerlich gewandet, grob un unhöflich. Wir wusst'n von nischt, un so sind sie wedder abgezog'n mit'm Auftrag an uns, nach eenem edl'n Peerd Ausschau zu halt'n un uns vor dem Verbrecher in Acht zu nehm'n."
Er macht eine Pause, schaut uns bedeutsam an.
„Dat Seltsame aber war - dat die nich von Gieboldehus'n herkam'n. Sondern dat Dorp vom Grenzwald her aufrollt'n un dann NACH Gieboldehus'n verschwand'n. Sie war'n bei mir nich als erstes. Sonnern als letztes vom ganz'n Dorp."
Jorge ergänzt leise.
„Weil sie von Lütg'nhus'n her kam'n, wo sie die Spur von Hannes verlor'n hatt'n. Bei Anna Adam."
Nun mische ich mich doch in das Gespräch ein, weil es mir keine Ruhe lässt.
„Wieso wisst ihr, dass Hannes sich dumm stellt und den Dialekt nicht kann?"
„Macht euch keene Sorg'n. Ik find den jung'n Mann angenehm un hab ihn gern. Ik werd ihn nich verrat'n. Un wenn nur, weil mir der Brud'nhus'n un der Hauser un dat ganze machthungrige Gesind'l zuwider sind wie nischt zweetes in dieser ungerecht'n Welt. Er ... er hat zu gute Manier'n für'n dumm'n Knecht. Un die Familie meiner Mudder is damals aus'm Eichsfeld gefloh'n, weil se nich katholisch bleib'n wollt'n. Ik kann hör'n, dat er viel geübt hat. Aber auch, dat er zu ville Fehler macht für'n kundiges Ohr."
Er klingt ehrlich, und so kann ich etwas entspannen und loslassen. Doch da spricht er schon weiter, und ich weiß nicht mehr, was wir noch antworten sollen. Der Mann denkt zu viel.
„Un? Sucht der Hauser noch nach ihm? Oder geit der davon aus, dat sien Anschlag erfolgreich war?"
Jorge und ich sehen uns kurz an. Ich fürchte mich.
„Er sucht noch. Darum is Hannes diesmal auch nich dabei sonnern ik."
„Dann ..."
Plötzlich kommt Leben in den Freese, er richtet sich auf.
"Dann solltet Ihr Hannes in Sicherheit bring'n, so lang noch Tied is. Bei Euch kann er nich bleib'n."
Intensiv schaut er uns an.
„Un ik werd Wege find'n, dat ik Nachricht geb, wann immer der Hauser oder eener seiner Knechte oder irgendjemand aus Gieboldehus'n sich aufmach'n sollte. Wir Bauern kenn'n unser Land un dess'n Wege ..."
Bei diesen Worten zwinkert er uns zu und setzt sich den Hügel hinab in Bewegung.
„Was muss ik noch wiss'n?"
Ich bin sprachlos vor Schreck, Trauer macht sich in mir breit, ich kämpfe meine Tränen nieder. Und Jorge weiß das. Darum antwortet er. Er erzählt nun auch all das, was uns heute in Gieboldehusen widerfahren ist, was wir erlebt, gesehen, gehört und verstanden haben. Bauer Freese schaltet sofort.
„Na, dat is ja een nettes Pärch'n! Der eine betrügt den Herrn, will ihn umbring'n lass'n, um sich ungestört bereichern zu könn'n. Der Zweite soll das Werk vollbring'n, scheitert un belügt den erst'n. Der wiederum glaubt sich sicher un will frei'n. Der Zweete wird nervös, weil siene Lüge alles in Gefahr bring'n könnt, un fängt hektisch an zu such'n. Man sollte beede in een Sack stoppen un draufhau'n - man trifft immer den Richtig'n. Aber damit is völlig klar: Hannes muss fort, ob er will oder nich. Der Hauser wird keine Ruhe geb'n, zu viel steht für ihn auf'm Spiel."
Mir wird schwindelig, weil ich begreife, dass Bauer Freese Recht hat.
Wir sind nun unten angekommen, verabschieden uns artig von der Frau Freese und wenden uns dem Wagen zu. Der Knecht spannt grade des Drebbers Pferd ein.
„Möge er sien Gedächtnis bald wedderfind'n!"
Mit diesen Worten gibt Bauer Freese unserem Pferd einen Klaps auf den Hintern und schaut uns nach, wie wir die Dorfstraße entlang fahren, nach Hause. Zu Hannes. Mir bleibt es bald im Halse stecken. Ich kann nur flüstern.
„Nun hat er grade wieder Fuß gefasst, und wir müssen ihm sagen, dass er gehen muss."
Den Rest des Weges lasse ich still meine Tränen laufen. Jorge lässt mich einfach in Ruhe.
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1.1.2022
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