Kapitel 12
Sie hatte die ganze Zeit schon gewusst, dass Der Schatten verlieren würde. Doch dies passte perfekt zu ihrem Plan.
Die anderen Opfer waren deutlich unvorsichtiger und naiv gewesen. Aber Grayson war schlauer.
Das hatte er wahrscheinlich von ihr.
Jetzt, wie Der Schatten so vor ihr lag, sah er gar nicht mehr gefährlich aus. Vielmehr wie ein kleines Kind, dass sich an einer Hauswand angelehnt hatte, um zu schlafen. Das einzige, was das Gesamtbild zerstörte, war das Blut, welches an der schwarzen Kleidung klebte und die leicht angetrocknete Blutspur unter seiner Nase.
Jennifer fiel ein weiteres Mal auf, dass sie Den Schatten mit 'er' und 'ihn' betitelte. Wenn sie jedoch ehrlich war, würde der weibliche Artikel besser passen. Der Schatten hatte lange schwarze Haare und war ziemlich dünn. Der schmale Mund hätte sowohl weiblich, als auch männlich sein können. Zwar hatte 'sie' eine sehr flache Brust, was für eine Jugendliche untypisch, aber nicht unmöglich war. Die großen schwarzen Augen sahen jedoch eher weiblich aus und die Gesichtszüge waren weich, wie die einer jungen Frau.
Jennifer hatte nie genau nachgefragt, als ihr Sohn vor über fünfzehn Jahren plötzlich mit einem Kind aufgetaucht war. Sie hatte immer angenommen - auch Graysons Erklärungen zufolge - das Kind käme aus dem Reagenzglas. Aber jetzt... zweifelte sie.
"Alles ist genau so geschehen, wie du es geplant hast, Mutter", sagte Grayson neben Jennifer und holte sie somit aus ihren Gedanken. "Hattest du jemals Zweifel?", fragte sie gespielt empört. Grayson lachte - es war eher ein bösartiges Gegrunze.
"Aber nun verrate mir: Was willst du jetzt hier? Die Abmachung war, du bringst mir das Experiment und im Gegenzug, bin ich dir was schuldig", meinte Jennifers Sohn. Sie jedoch, sagte erst mal nichts und lächelte nur wissend. Dabei fletschte sie ihre Zähne, was aber die eigentliche Wirkung eines Lächelns weit verfehlte.
Jennifer schaute auf den Körper des Schattens und kniete sich vor dessen Gesicht nieder. "Wahrlich, er ist eine revolutionäre Erfindung!", nuschelte Jennifer, nicht in der Absicht, dass es irgendjemand hören sollte, doch Grayson antwortete prompt: "Eine revolutionäre Erfindung mit Macken, wenn du mich fragst, aber immerhin das beste Ergebnis, das wir bis jetzt erreichen konnten." Eine kurze Zeit lang war es ruhig. Jennifer betrachtete das Gesicht Des Schattens und fuhr manchmal hochkonzentriert über dessen Gesichtszüge. Doch plötzlich durchbrach Grayson wieder die Stille. "Bald ist es soweit, Mutter! Das Experiment wird in noch höherem Maße wieder begonnen und rehabilitiert. Mit den Sponsoren, die mich zukünftig unterstützen werden, kann ich hunderte, nein, tausende perfekte Schatten erschaffen! Ich werde die Fehler aus der Welt räumen können, die ich damals getan habe." Er starrte auf das Experiment herab. "Ich werde dich perfektionieren, bis ich endlich eine vollkommene Schöpfung erschaffen habe!" Interessiert wandte Jennifer den Blick von dem Schatten und blickte ihrem Sohn in die Augen, der immer noch wie gebannt auf seine Schöpfung blickte. "Wie stellst du dir das vor? Was fängst du jetzt mit ihm an?", fragte sie. Grayson blickte seiner Mutter in die Augen.
"Mmmh... Was tut man wohl mit einem Tier, das eine Krankheit hat und niemand weiß was ihm fehlt? Ganz einfach: Ausschlachten, analysieren und die Krankheit identifizieren!" Mit so etwas hatte Jennifer schon gerechnet. Ausschlachten...
"Dann schaff deine Schöpfung schnell hier weg. Ich bin mir sicher, dass die Polizei gleich eintreffen wird", empfahl sie Grayson und holte ihn somit aus seiner Träumerei. "Wenn ich mich nicht irre, dann haben wir auf der Suche nach dir einige Hinweise hinterlassen. Deine Schuld wirst du wohl etwas später begleichen müssen. Wie du jedoch erwartet hast, ist die Wirkung des Serums im Laufe der Jahre deutlich abgeschwächt. Ich brauche eine Auffrischung!" Mit diesen Worten krempelte Jennifer den Ärmel ihrer Jacke nach hinten und legte damit einige Falten und hervortretende Arterien frei.
Hatte sie doch das Gesicht einer Ende dreißig Jahre alten Frau, so sah ihr Arm wie der einer achtzigjährigen aus. Graysons blaue Augen weiteten sich und er schaute seiner Mutter entsetzt in ihre dunkelgrünen. "Mutter! Du hättest schon viel früher kommen müssen!" Jennifer krempelte ihren Ärmel wieder runter. "So etwas hätte laut meinen Berechnungen erst viel später eintreten sollen", grübelte Grayson.
"Wie auch immer", winkte Jennifer ab. "Jetzt können wir noch nichts dagegen tun. Ich werde hier bleiben und die Polizei auf eine falsche Fährte locken. Wenn ich das geschafft habe, werde ich dich wiederfinden." Grayson nickte zustimmend. Für einen Moment herrschte vollkommene Stille. Der Wind pfiff leise durch die Straßen und vereinzelte Haarsträhnen des Schattens wehten ihm ins Gesicht.
Als ein Rabe kurz krähte, sah Jennifer aus dem Augenwinkel, wie Grayson für einen Augenblick zusammenzuckte und es plötzlich sehr eilig hatte von hier zu verschwinden. Er schmiss das Experiment grob über seine Schultern und reichte anschließend seiner Mutter die Hand. Diese nahm seine Hilfe an und stand kurz darauf wieder neben ihrem Sohn. Jennifer blickte die schwarze Gestalt ein letztes Mal genau an, dann drehte sie sich weg und machte Anstalten wegzugehen. Grayson sagte nichts mehr, kehrte seiner Mutter ebenfalls den Rücken zu und begab sich mit sicheren Schritten in die Richtung seines Domizils. Er bemerkte nicht, als Jennifer sich ein letztes Mal umdrehte und der schwarzen Silhouette entgegenblickte, die in der Dunkelheit verschwand.
Die Kolonne an Polizeiwagen raste mit beachtlicher Geschwindigkeit die Autobahn entlang. Nicols, dessen Enthusiasmus sich deutlich in der Geschwindigkeit seines Wagens widerspiegelte, drückte noch mehr aufs Gas, als sein Navi verkündete: "Noch zehn Kilometer bis zum Ziel".
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er an den Schatten dachte. John beobachtete seinen Chef aus dem Augenwinkel und runzelte die Stirn. Was würde sie in dem Dorf erwarten?
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