Kapitel 1
Ronald Faray war ein gewöhnlicher Mann.
Er hatte eine gewöhnliche Familie, mit einer gewöhnlichen Frau und zwei gewöhnlichen Kindern.
Sein Leben widmete er ganz der Arbeit. Daher schien es, als würde Ronald das gewöhnliche Gehalt eines gewöhnlichen Arbeiters verdienen, aber auf dem zweiten Blick lief alles ganz anders.
Ronald Faray war kein gewöhnlicher Mann.
Er besaß zwar eine relativ gewöhnliche Familie, aber nur deshalb, weil diese nichts von Farays echten, ungewöhnlichen Taten wusste. Vor allem von denen in der Vergangenheit.
Eines stand jedoch fest:
Ronald besaß einen Haufen Geld. Sein Geschäft, dass mit Schmuck und Antiquitäten handelte, lief gut. Er hatte es schon seit fast einem Jahrzehnt und währenddessen sprach sich in der ganzen Stadt herum, dass Faray alles besorgen könne.
Der heutige Tag war ein neuer, gewöhnlicher in Ronalds Leben. Mit einem Kuss seiner Frau verließ er voller Aufregung sein 'bescheidenes Heim'. Ein neuer Tag, an dem er Geld scheffeln konnte.
Da sich sein Geschäft nicht weit entfernt von seinem Haus befand, lief er immer dorthin.
Doch heute war etwas anders. Er hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Schweiß brach auf Ronalds Gesicht aus, ohne es zu wollen.
Ständig blickte er sich hastig um und starrte dorthin, wo er seinen 'Beobachter' vermutete.
Doch nichts und niemand war zu sehen. Einbildung ist auch 'ne Bildung, sagte sich Faray und lenkte sich schließlich ab, indem er frohen Mutes vor sich her pfiff.
Sein Schweiß rann dennoch in kleinen Tropfen auf seiner Stirn hinunter.
Das Geschäft lief auch heute sehr gut. Ronald liebte es dabei zuzusehen, wie die Zahlen stiegen und stiegen. Geld floss, Schmuck, alte kostbare Antiquitäten wechselten den Besitzer.
Gegen Abend wurde es allmählich ruhiger. Schließlich machte sich Sally, Ronalds Mitarbeiterin, daran, langsam den Laden aufzuräumen. Drei Minuten vor Ladenschluss betrat eine zierliche Gestalt Ronalds Geschäft. Diese war komplett in einen schwarzen Umhang gehüllt und hielt ihren Kopf gesenkt, so dass man nicht einmal erkennen konnte, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte.
Ronald sah die Gestalt nicht, da er es sich in seinem Büro gemütlich gemacht hatte. Dabei starrte er genüsslich auf seinen Kontostand, der an diesem Tag beträchtlich gestiegen war. Es schien als würde er das kostbarste Gemälde der Welt betrachten.
"Ich muss den Geschäftsführer sprechen", flüsterte die Gestalt. Sally, die ganz versunken in ihrer Arbeit war, schreckte hoch und schaute die Gestalt an. Diese versprühte geradezu eine unheimliche Aura, so dass Sally spürbar nervös wurde. Sie stoppte mit ihrer Arbeit und schluckte.
"Wir schließen in drei Minuten", bemerkte sie kleinlaut.
Die Gestalt gab ein stummes Lachen von sich.
"Ich brauche höchstens zwei", erwiderte sie. Sally schien sich nicht ganz schlüssig. " Nun, leider...", sie kam nicht mehr dazu, das zu sagen, was sie wollte, denn der Gestalt dauerte diese Unterhaltung einfach zu lang. Sie packte die Hand der verschreckten Sally und hob ruckartig den Kopf, so dass die Kapuze nach unten rutschte. Ihre Augen starrten in die ihre. Eine kurze Berührung und es genügte.
Die Gestalt ließ Sallys Hand los und zog ihre Kapuze wieder hoch.
Sallys Gesichtsausdruck verwandelte sich plötzlich von Furcht und Angst in ein freundliches, fast übertriebenes Lächeln. Sie deutete auf eine Tür in der hintersten Ecke des Ladens und sagte immer noch lächelnd: "Aber verraten Sie nicht, wer sie durchgelassen hat!"
Die Gestalt ging ohne jeglichen Kommentar an ihr vorbei und Sally fuhr mit ihrer Arbeit fort.
Leise, ohne ein Geräusch zu verursachen, schlich die Gestalt zu Ronalds Tür. Die Tür machte keinerlei Geräusche, als sie aufschwang.
Ronald saß gebannt an seinem Tisch, jedoch mit dem Rücken zur Gestalt. Als er endlich merkte, dass sich jemand in seinem Büro befand, drehte er sich um und setzte zu einer Antwort an. Er stockte, als er sah, wer hier vor ihm stand.
Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn. Tief verborgen in seinen Erinnerungen, blitze ein Erkennen auf.
"Was machen Sie hier?", fragte Ronald panisch. Er schien fast zu schreien. Die Gestalt erwiderte nichts, sondern musterte Faray von oben bis unten. Entrüstet stand Ronald auf, schien sich aber nicht zu trauen näher zu kommen.
"Wer sind Sie?", fragte Ronald etwas gefasster und musterte die Gestalt genauer. Da viel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Er riss seine Augen auf und wich einen Schritt zurück.
Ronald konnte sehen, wie sich die Mundwinkel der Gestalt zu einem Lächeln hoben. Mit bedachten Bewegungen hob sie ihre Arme hoch und schob damit ihre Kapuze zurück. Ronalds Augen formten sich zu kleinen Schlitzen, als er versuchte die Person, die vor ihm stand, zu erkennen. Als ihm der Groschen fiel, wich er erneut einen Schritt zurück. Ein höchstens sechzehn Jahre altes Mädchen, kam fast unbemerkt auf ihn zu.
"Unmöglich!", flüsterte Ronald und versuchte sich an das kleine Kind von vor gut einem Jahrzehnt zu erinnern. Man sah deutlich, dass sie es war, oder sollte er lieber es sagen?
"Ich sehe, du hast mich erkannt", bemerkte das 'Mädchen' trocken. 'Sie' hatte eine tiefe Stimme. Weder richtig weiblich noch männlich. 'Sie' umrundete Ronalds Tisch langsam und genoss es, Ronald so verängstigt zu sehen.
"Weißt du Raymond, ich muss schon sagen. Ich bin beeindruckt. Ein Leben wie ein ganz gewöhnlicher und ehrlicher Bürger, doch insgeheim so viel mehr." 'Sie' kam ans Ende des Tisches und sah, dass sich Ronald in die hinterste Ecke seines Zimmers zurückgezogen hatte. Er wusste, dass seine Zeit gekommen war.
"Ich frage mich immer noch, wie du deine Kinder ansehen kannst. Wenn man bedenkt, was du Kindern angetan hast. Vor allem deine Frau. Sie muss ja äußerst naiv sein, dich als einen perfekten Mann zu sehen."
Das 'Mädchen' ging langsam auf Ronald zu. "Ronald", 'sie' lachte entzückt. "Gar nicht mal so schlecht. Raymond ist echt ein grässlicher Name, aber Ronald?"
Nur einen Schritt trennte das 'Mädchen' von Ronald und er machte sich so klein wie er konnte. Pure Angst durchflutete seinen Körper.
Das 'Mädchen' machte einen Schritt zurück und konzentrierte sich. Ronald sah fasziniert dabei zu, wie ihre Pupillen nach oben rutschten und nur noch das Weiß ihrer Augen zu sehen war. 'Sie' kniete sich hin und hielt dabei ihre Arme ausgestreckt, als würde 'sie' jemanden umarmen wollen. Ein Summen ertönte, dass aus dem Mund des 'Mädchens' kam.
Ein Scharren ertönte.
Ronald bemerkte, dass es aus dem Boden kam. Eine Leiste wurde aus dem Boden gerissen. Und etwas graues kam heraus.
Ratten.
Hunderte, tausende Ratten traten aus allen freien Ritzen.
Ein lautes Kreischen kam aus dem Flur.
Sally!, schoss es Ronald durch den Kopf. Das Kreischen verstummte und stattdessen brach die Tür auf und weitere Ratten rannten ins Büro. Jedes freie Fleckchen war besetzt, doch sie umzingelten Ronald. Das 'Mädchen' saß in dem Meer aus Ratten. Plötzlich wurden die Ratten unruhig und rückten weiter vor. Dann sprang die erste Ratte auf Ronald.
Hunderte taten es ihr unter lauten Quieken nach und Ronald schrie sich die Seele aus dem Leib.
Die Tapete wurde zerkratzt. Der Tisch umgestoßen und unter den Zähnen der Ratten zermalmt. Bilder fielen von den Wänden und das zerschellte Glas regnete auf den Boden.
Das Bücherregal fiel um und dutzende Bücher wurden unter den Krallen der Ratten zerfetzt.
Begleitet von Ronalds schmerzvollen Schreien.
Plötzlich ließen die Ratten von ihm ab und zurück blieb ein blutender, zerkratzter Leib, den man nun gar nicht mehr als Ronald Faray identifizieren konnte. Unter großen Schmerzen blickte er ein letztes mal auf das 'Mädchen', das immer noch konzentriert die Ratten in ihrer Kontrolle hatte.
"Der Schatten", flüsterte Faray und verlor das Bewusstsein. Mit diesen letzten Wörtern überrannten ihn die Ratten ein letztes mal und fraßen alles, was ihnen unter die Krallen kam, bis beinahe nichts mehr von Ronald Faray übrig blieb.
Urplötzlich zogen sich die Ratten zurück und das 'Mädchen' erhob sich. Ihre Pupillen rutschten an ihren Platz und starrten ein verkrümmtes Skelett an.
Ein Lächeln bildete sich auf den Lippen des 'Mädchens'. Dann war 'sie' verschwunden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top