1.3. - Das Lied vom Perlentaucher
Doch neben jedem guten Strategen steht ein Anführer, der die Herzen der Massen bewegt. Die Soldaten brauchen ein Gesicht, einen Punkt im Gefecht, dem sie folgen können. Charismatisch muss er sein, das kann viel mehr zählen als weise.
Einiir Collard, Dekan der weißen Hallen
Niemand achtete auf den Geigenspieler, der mitten auf dem Tempelplatz in Teltearin direkt vor dem alten Brunnen musizierte. Das Wasser verband sich mit den sanften Klängen zu einer besonderen Akustik, die dafür sorgte, dass die Vorbeiziehenden beschwingter und fröhlicher ihren Geschäften nachgingen. Die Statue des Gottes Estam, welchem neben dem Wasser auch der Aspekt der Musik zugerechnet wurde, schien dem jungen Mann vom Brunnensockel ausgewogen zuzulächeln.
Der Musikant trug abgerissene Kleider. Sein einzig wertvoller Besitz schien die filigrane Geige zu sein, die er liebevoll berührte. Geschickt wechselte er von einem großen Meister zum nächsten und beobachtete dabei das Heer von Gigis, das wie eine schillernde Herde durch die Straßen wogte, immer auf den Spuren von Geschichte. Touristen. Belagerungen, Verhandlungen, Krönungen. Es war für jeden Geschmack etwas dabei. Die Stadt hatte, soweit er wusste, zweimal gebrannt. Jedes mal hatten die Stadtväter neue farbenfrohe Fachwerkhäuser auf die Ruinen gestellt und die unterschiedliche Architektur verlieh Teltearin einen einzigartigen Stil. Ein besonderes Etwas, das viele Talener dazu brachte, mindestens einmal im Leben die Stadt zu besuchen. Als ob es ihr Leben bereichern würde, einer protzigen Stadt zu huldigen. Ein paar ältere Damen in lodranischen Seidenkaftans näherten sich und sofort spielte er das berühmte Lied vom Perlentaucher an. Ein lodranischer Klassiker. Er lächelte, als ein paar Münzen in seinen rotbraunen Hut wanderten. Aus den Augenwinkeln erblickte der junge Mann einen dicklichen Schnösel mit einem silbern glänzenden Spazierstock, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Der Mann ging dabei auffällig grob und rücksichtslos vor. Der Geigespieler beobachtete ihn noch einen Moment länger. Direkt unterhalb seines Herzens kitzelte seinen Instinkt erwartungsvoll. Die Jagd begann.
Vorsichtig legte er seine Geige ab, strich dabei sanft über das Instrument und folgte seiner Beute. Sein hagerer Körper bewegte sich wesentlich besser durch die Menge, als der dicke Mann es schaffte, trotz der Drängelei. Noch bevor der Stockträger in eine der unzähligen Nebengassen abbiegen konnte, erreichte ihn der Musikant. Langsam schob er sich hinter den korpulenten Mann und passte seine Schritte an die seines Vorgängers an. Wie ein flüssiger Schatten näherte er sich, immer weiter, bis nur noch eine Handbreit zwischen sie gepasst hätte. Mit seinen Fingern fischte er eine Geldbörse aus der linken Anzugtasche des Stockträgers und achtete auf jede kleine Bewegung, bevor er beidrehte und zu seiner Geige zurückkehrte. Zufrieden pfiff er einen schnellen Reigen. Er hatte sein Ziel kaum berührt, das Üben mit der Geige hatten sich wirklich gelohnt. Kein Alarm wurde ausgelöst, keiner der anderen Marktbesucher hatte etwas bemerkt. Euphorie wallte in ihm auf und er atmete tief durch. Noch hatte er es nicht geschafft, zu seinem Platz zurückzukehren.
Er fischte die Jadescheiben aus dem Beutel und warf die Geldbörse mit einer leichten Drehung des Handgelenkes einer vorbeigehenden Priesterin vor die Füße. Diese hielt an und sah sich suchend um. Natürlich ließ sich die Börse niemandem zuordnen. Außerdem verdächtigte niemand einen musizierenden Künstler, der seine Einnahmen selbst bei einer Durchsuchung immer hätte erklären können. Und so weit war es noch nie gekommen.
Der junge Mann erreichte sein Instrument, leerte besagte Einnahmen in den Hut und blickte fröhlich auf das Ergebnis seines Tagwerks. Nur ein genauer Beobachter hätte bemerkt, wie seine Finger erneut über das Holz strichen und ein wässriger Schutzschild verschwand. Vertrauen war gut, doch riskierte er niemals die Sicherheit seiner Geige. Niemals. Der junge Mann nahm sein Spiel wieder auf und ließ sich von seiner Begeisterung über den gelungenen Coup treiben, spielte erneut die Ballade des Perlentauchers und wechselte dann zu einem schnellen Stück aus der Reisereihe des Chronisten. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam.
Während er den Bogen über die Seiten tanzen ließ, beobachtete er die Priesterin, die mit der Geldbörse zu zwei Stadtgardisten eilte, die entspannt durch die Menge flanierten. Zeit sich nützlich zu machen. Auch sie beachteten ihn nicht weiter.
Als sich am Abend der Platz langsam leerte, packte der Musikant seine Sachen zusammen und zählte den Inhalt seines Hutes. Insgesamt vierzehn Viertelrappen, acht Drittelrappen und viele Schneiderlinge. Auch drei ganze Rappen entdeckte er. Es war genug, damit Imra ein paar Wochen überleben würde. Vielleicht länger, wenn sie sparsam haushaltete. Jedenfalls konnte er weiterreisen. Mit zwei Fingern berührte er Iyanes Reisemal auf seiner Stirn, das er etwas vernebelt hatte, um weniger aufzufallen. Wobei das unter seinem blonden Pony wahrscheinlich unnötig gewesen war. Vielleicht sollte er sich einen neuen Namen geben. Wunderhand. Nein, das klang beim Aussprechen irgendwie komisch.
Mit dem Geigenkasten über der Schulter schlenderte er zur Seufzerbrücke, dem Wahrzeichen von Teltearin. Die massive Steinkonstruktion wölbte sich in vier Bögen über den Ahni, der direkt hinter der Brücke durch mehrere Stromschnellen brauste. Vielleicht Sturmfinger. Der Name rollte über seine Zunge und wirkte irgendwie anrüchig. Es konnte doch nicht so schwierig sein, einen beeindruckenden Namen zu kreieren, immerhin war er Künstler. Er kletterte die Böschung hinab, in den Schatten des vordersten Bogens. Wenn es richtig dunkel geworden wäre, würden die Obdachlosen hier ihr Lager aufschlagen. Doch jetzt war es noch zu früh und er stand alleine auf dem Kiesbett unter dem Wahrzeichen. Seine Füße steckten in abgenutzten Lederschuhen und er spürte die abgerundeten Steine unter seinen Sohlen. Die Stromschnellen gurgelten und er fühlte, wie der Fluss zu ihm sang. Stromnote? Angewidert verzog er sein Gesicht. Samael Stromnote. Das klang lächerlich.
Samael zog ein Stück Papier aus seiner Hosentasche und strich die verbogenen Ecken glatt. Mit präzisen Handbewegungen faltete er ein Boot, ein blaues Gefährt, das begierig in seiner Hand vibrierte. Er setzte sein Boot auf das Wasser und legte eine winzige Schriftrolle auf eine Seite der Reling. Das Papier sog sich langsam voll. Dann rief er seine Konstruktion und band sie mit seinem Namen an sich. Samael. «Ik, Samael, bendje je. Volge de stream end vind Imra.» Wenn der Plan funktionieren würde, sollte es gleich den Fluss hinauf schwimmen, und Imra suchen. Das Boot zitterte, als ob es ungeduldig warten würde, es hüpfte, fast wie ein aufgewecktes Hündchen. Papierbändiger, vielleicht. Besser, aber immer noch nicht wirklich gut.
Samael bückte sich und verteilte die Münzen im Boot. «Vind Imra», sprach er ein weiteres Mal, dann schoss das blaue Gefährt wie eine abgefeuerte Kanonenkugel über die Wassermassen stromaufwärts.
Er richtete sich wieder auf und streckte sich. Es würde nicht lange dauern, bis das kleine Boot Atug, die Stadt an der Mündung, erreicht hätte. Seine kleine Schwester wusste, worauf sie zu achten hätte. Er hoffte sehr, dass auch sie eine Wasserbindung bekommen würde. Wobei er auch jede andere Magierichtung begrüßen würde, die ihr einen Weg aus den Slums bot. In zwei Jahren könnte sie dann wie er dem Ruf der Akademie folgen und er müsste sich um ihre Zukunft keine Sorgen mehr machen. Wer hätte schon gedacht, dass es bei ihm so passieren würde. Er, Samael da Lima, Spross der Gosse, würde dank seiner Begabung ein Teil von Talens Elite werden. Selbst wenn er den Zugangstest nicht bestehen sollte, standen ihm nun viele Türen offen. Auch solche, die er unlängst nur mit einem Dietrich hatte öffnen müssen. Gerade als er sich abwenden wollte, bemerkte er im Wasser ein Funkeln. Er ging ein paar Schritte näher und entdeckte zwischen einigen größeren Steinen einen schmalen Ring. Vorsichtig beugte er sich vor und pfiff eine fragende Sequenz. Das Wasser brodelte leicht und spuckte den Ring in seine wartende Hand. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Er mochte es, wenn ihm das Wasser etwas schenkte. Diesmal war es ein schlichter Damenring, in deren Mitte ein heller Edelstein steckte. Vielleicht ein Mondstein oder ein Karidit. Genaueres war ohne eine Lupe nicht festzustellen. Aber es war ein hübsches Schmuckstück und ließ sich bestimmt gut verkaufen.
Samael verbeugte sich leicht vor dem Fluß und murmelte einen Dank an Estam, den Gott des Wassers und damit dem Herren seiner Gabe. Mit flinken Fingern ließ er den Ring in eine seiner Taschen gleiten, dann schulterte er wieder seinen Geigenkasten und stieg die Stufen hinauf, die ihn zurück zur Brücke führten. Mit der Dämmerung hatten sich die Besucherströme in die Innenstadt verlagert, um dort mit Kostümbällen oder Theaterbesuchen den Abend ausklingen zu lassen. Teltearin war eine Stadt mit Geschmack, wie es hieß. Im Gegensatz zu Atug, seiner Heimat, hatten die Wachtmeister die Kriminalität gut unter Kontrolle und sorgten sowohl bei den Einheimischen als auch den Besuchern für Sicherheit. Gefahr ging hier nicht durch Schlägertruppen oder Banden aus, sondern von den Geschäftsleuten, die Tag für Tag die Preise für gewisse Warengruppen absprachen und sich damit je nach Investition, immer mehr Reichtümer in die eigene Tasche wirtschafteten.
Persönlich mochte er Atug lieber. In den engen Gassen wusste man immer, wem man besser aus dem Weg zu gehen hatte und wer ein gutes Opfer darstellte. Atug atmete und verströmte dabei eine rasche Musikabfolge, wie die Klänge einer Trommel. Teltearin erinnerte ihn eher an eine Harfe, unecht und einschläfernd, im Ergebnis nur etwas, das reiche Menschen mochten. Es berührte ihn nicht.
Samael wich einigen herausgeputzten Gigis aus und passierte die abgebauten Marktstände. Zwischen zwei Ständen sah er ein paar Äpfel am Boden liegen. Was für eine Verschwendung. Wahrscheinlich waren sie beim Schließen aus einem Korb gefallen und unbemerkt liegen geblieben. Es war ihm schleierhaft, wie so etwas geschehen konnte. Kein Händler, Dieb oder Straßenkind hatte sich bedient. Teltearin ging es einfach zu gut, wie eine gelangweilte Prinzessin, die das Brot nicht mehr wertschätzte und nach etwas Besserem verlangte.
Achselzuckend bückte er sich, sammelte die Äpfel ein und setzte seinen Weg fort. Wie schon die letzten Nächte ging er in das Reisehaus des Estamtempels. Das Essen war gut, wenn auch etwas fischlastig und er erhielt die Möglichkeit, über dem Stall des Tempels zu schlafen. Das Wiehern der Pferde und das Schnaufen der Kühe lullten ihn schnell ein und bescherten ihm gute Träume, von Macht, Geld und unzähligen schimmelfreien Brötchen.
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