Besser ein Schafsgesicht, als das Antlitz einer Wasserleiche
„Ok. Wir schaffen das. Seefahrer mit D, das kann ja nicht so schwer sein", murmelte Hannah vor sich hin, während sie energisch die haudünnen Seiten des abgeranzten, antiken Wälzers durchblätterte, dass ich fürchtete, sie hätte sie bald alle einzeln in der Hand. Mit offenem Mund bestaunte ich ihr Talent, die schnörkelige Schrift in dieser Geschwindigkeit zu entziffern.
„Oh Mann! Dieses Gekrakel kann ja keiner lesen!", meckerte sie dann jedoch prompt, kniff ihre Augen zusammen und starrte angestrengt auf das altertümliche Durcheinander aus schwarzer Tinte.
Ich zog eine Grimasse. Hannah gab ein ziemlich lustiges Bild ab, wie sie da im Schneidersitz vor dem geöffnetem Buch hockte und es anstarrte wie eine Kristallkugel, die alle Geheimnisse preisgab, wenn man sie nur lang genug anstierte. Doch natürlich tat sich nichts, außer, dass Hannahs Augen begannen zu tränen. Wäre unsere Lage nicht so todernst, wäre es echt zum schießen gewesen. So jedoch war es zum heulen.
Christian war in seinem Wälzer versunken, wie in einer anderen Welt und Bea hatte derweil den größtmöglichen Abstand zwischen sich und das Bücherregal gebracht. Wie eine Viper umschlängelte sie Hongjoongs Thron, und ich würde meinen Hintern darauf verwetten, dass sie mit dem Gedanken spielte, mal Probe zu sitzen. Himmel, was war nur mit der los? Hatte die keine anderen Sorgen? Sie bemerkte meinen fragenden Blick. „Was denn? Er hat gesagt, wir können uns umsehen. Vielleicht entdecke ich ja etwas Nützliches, während ihr da mit den verstaubten Büchern beschäftigt seid." Na, wenigstens sah sie sich genötigt, sich zu rechtfertigen.
„Unwichtig." Ich sagte es mehr zu mir selbst, als zu ihr, denn die Zeit drängte. Die Präsenz der Sanduhr stach mir förmlich in den Rücken und ich bildete mir ein, zu hören, wie die feinen Körnchen hindurchrieselten. Unser Überleben hing von nicht mehr als einer Hand voll schillerndem Goldstaub ab. Zitternd griff ich meinen Anhänger. Ich brauchte äußerlichen Halt, um meine Gedanken zu sammeln und zu verhindern, dass sie in Hoffnungslosigkeit zerrannen, wie der Sand aus dem Kolben der Uhr.
Obwohl meine Hand, ja mein ganzer Köper, von Verzweiflung geschüttelt wurde, lag das Astrolabium still ruhend darin, als würde es nicht von mir, sondern der Zeit selbst getragen, wie ein Fels, der der sturmgepeitschten See trutzte und dabei Jahrhunderte überdauerte.
Meine Finger berührten das kühle Metall und ich atmete tief aus, schloss die Augen und versuchte, mich zu sammeln. Wir mussten es schaffen, das Rätsel, um meine Familie zu lösen. Und tatsächlich schien eine gewisse Gemütsruhe aus der flachen Scheibe in meiner Hand durch mich hindurchzufließen und ich fühlte mich endlich bereit, mich der Aufgabe zu stellen.
Doch als ich die Lider öffnete, durchzuckte mich ein Schlag: Der schlanke Zeiger des Astrolabiums ruckelte und begann sich wie von Zauberhand geführt langsam auszurichten als kannte er nur ein einziges Ziel, wie eine Kompassnadel nach Norden. Ich blinzelte, soweit ich es wusste, musste man die Einstellungen bei so einem Navigationsgerät selbst vornehmen, ausgehend vom Stand der Sonne oder der Sterne. Es war ein Unding, dass der Zeiger sich bewegte, als hätte er einen eigenen Willen oder gar ein eigenes Ziel.
Mein Hals wurde trocken und ich schluckte, während meine Augen gebannt dem schmalen Zeiger folgten, der mit sicherer Bestimmtheit geradewegs aufs Bücherregal zeigte.
Pure Entdeckerfreude überflutete die eben noch als unüberwindbar empfundene Hilflosigkeit wie eine hereinbrechende Sturmtide und ein von blanker Neugier erfülltes Kribbeln nahm ausgehend von meiner Handfläche in Sekunden meinen ganzen Körper ein.
Jetzt war es wirklich Zeit. Zeit, Hongjoongs Rätsel zu lösen und damit dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Beherzt griff ich ins Regal, direkt dorthin, wo die Spitze des Zeigers hinwies. Mit wild klopfendem Herzen zog ich ein dickes Buch heraus, auf dem in goldfarbenen Lettern der Titel: „Piraten. Die Geschichte der Freibeuter" prangte.
Piraten? Mein Magen zog sich zusammen und für einen kurzen Moment war ich versucht, es wieder zurückzustellen. Ein harmloses Buch über Seefahrer und Entdecker, so wie Hannah es vor sich liegen hatte, wäre mir lieber gewesen, immerhin ging es hier um meine Familie.
Das Astrolabium surrte leise und sein Zeiger wies noch immer mit größter Bestimmtheit auf das in blauen Samt eingebundene Buch in meiner Hand.
Etwas widerstrebend schlug ich den Buchdeckel auf und schnappte überrascht nach Luft: Die Lettern waren mit dicker, schwarzer Tinte in Handschrift geschrieben, aber dennoch konnte ich sie ohne Schwierigkeiten lesen. Optisch hatte es mehr von einem Kunstwerk der Kalligraphie, als von einem Geschichtsbuch.
„Da-De" Hannahs gestammelte Versuche, etwas zu entziffern, drangen wie aus weiter Ferne an mein Ohr.
Mich umhüllte die selige Gewissheit, einen echten Schatz in den Händen zu halten. Der Samteinband schmiegte sich weich an meine Handinnenflächen, während ich ehrfürchtig die pergamentenen Seiten umblätterte, jede einzelne mit Goldrand verziert.
Ein Grinsen wanderte über mein Gesicht. Das Buch über Piraten hatte die edle Aufmachung eines Adelsverzeichnisses, wohingegen, der Band über die Seefahrer und Entdecker ein alter abgewetzter Schinken war. Typisch Piratenkönig.
Aber würde es uns tatsächlich weiterhelfen?
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass uns nur noch ein Fingerhut Sand verblieb.
Ich blätterte jetzt ebenso flink, wie Hannah vorhin. Meine Finger und Augen flogen durch die Seiten, nahmen einzelne Buchstaben, Wörter und Bilder auf, jedoch ohne dass mein Verstand schnell genug hinterherkam. Ich vertraute voll und ganz auf meine Intuition und das Buch in meiner Hand. Und das Glück war mir hold, denn nach ein paar dicht beschriebenen Kapiteln, entdeckte ich eine Art Anhang, in dem Namen alphabetisch gelistet waren.
„J-o-h-n D-a-v-i-s, B-a-r-t-o-l-o-m-e-u D-i-a-s, D-i-n-i-s Di-a-s" Hannah neben mir wurde immer lauter und lenkte mich kurz ab. Sie schien Fortschritte gemacht zu haben, auch wenn sie die Namen wie Kaugummi in die Länge zog. Es klang so ähnlich wie bei einem Erstklässler, der das Lesen lernt.
Schnell blätterte ich ebenfalls durch die Einträge unter D: D'Oyley, dann klebten Seiten zusammen, ich blätterte hastig weiter: Davis, de Aviles, de Cussy, de Graaf, de Lecat, Drake, Ducasse. Gott, gab es so viele Piraten mit D. Aber: Fehlanzeige.
Nichts davon klang wie Damper. Meine Schultern sackten vor Enttäuschung herab, doch meine Finger, die das schwere Buch hielten, kribbelten und meine Nase juckte. Ich blätterte zurück. Es müsste zwischen D'Oyley und Davis kommen – genau da, wo die Seiten zusammenklebten.
Zufall?
Jetzt begann es überall wie Ameisen auf meiner Haut zu krabbeln.
Mit den Fingernägeln löste ich vorsichtig das Pergament. Zum Vorschein kam das schmale Gesicht eines Mannes mit langer Nase und braunen welligen Haaren, das mir mit Augen entgegenblickte, die mehr von der Welt gesehen zu haben schienen, als ich in meinen kühnsten Träumen und Fantasien. Er hielt ein Buch vor seinem Bauch und sah mich so unverwandt an, als würde er mich im nächsten Moment direkt mit meinem Namen ansprechen.
Meine Lider zuckten vor Aufregung, während ich die Bildunterschrift las: William Dampier (britischer Entdecker, Freibeuter und Geograf 1651-1715)
„William Dampier" flüsterte ich, während ich noch immer wie gebannt auf das Bild starrte.
Obwohl die Worte nur gehaucht waren, steckte in ihnen eine Wucht, das Christian vor Schreck sein Buch aus der Hand glitt und polternd zu Boden fiel.
„Zeig her!", auch Hannah sprang mit einem Satz an meine Seite und selbst Bea kam eiligst hinzu gestöckelt, dass ihre Absätze auf den Holzdielen hektisch klackten.
„Das kann doch kein Zufall sein." Hannah bestaunte fast ehrfürchtig das Porträt des jungen Mannes.
„Nein, er hat genau so ein Schafsgesicht wie unsere Iliana und die gleiche, dicke Matte auf dem Kopf!", gab nun auch Bea ihren Senf dazu. Ich strahlte sie an. Für diesen Kommentar hätte ich sie fast geknutscht, denn dass selbst sie der Ansicht war, dass wir mit diesem Dampier goldrichtig lagen, machte mir Mut. Und lieber ein Schafsgesicht als das Antlitz einer Wasserleiche.
„Es könnte eine Spur sein." Die Vorsicht in Christians Stimme verunsicherte und erschreckte mich gleichermaßen.
„Hier, das habe ich gefunden." Christian holte eines der Bücher, die er durchgesehen hatte. „Hier steht, dass ein gewisser William Dampier 1708 als Steuermann an Bord der Duke unter Kommando von Kapitän Rogers zu einer Weltumrundung losgesegelt ist und dass die Expedition als Erfolg gefeiert wurde und sie mit reicher Beute nach London zurückgekehrt sind." Ich nickte eifrig. „ Allerdings, soll dieser Dampier dann bereits 1715 in London gestorben sein und nichts als Schulden zurückgelassen haben." Er blickte mich unsicher an und ergänzte dann: „Kapitän Kim Hongjoong wird bei dieser Reise jedoch mit keinem Satz erwähnt. Und auch sonst taucht sein Name nirgends auf. Wie kann das sein?"
Mir war mit einem Mal, als wäre ich nicht länger an Bord eines großen Schiffes, sondern auf einem kleinen Floß, an dem die Wellen nur so rissen und mit ganzer Kraft versuchten die alten, morschen Holzlatten auseinanderzureißen, um mir den letzten Halt, den letzten Schutz, vor dem sicheren Ertrinken auf dem weiten Ozean, zu rauben.
Ein Piratenkönig, über den es zahlreiche Legenden gibt, der aber in keinem Geschichtsbuch auftaucht? Ein Pirat, mit einem verdammt ähnlichem Nachnamen, der gleichzeitig Entdecker und Geograf war, der möglicherweise sogar einen bedeutenden Schatz entdeckt hatte und dann dennoch mit Schulden gestorben sein soll?
Die Informationen, dich in den letzten Minuten erfahren hatte, rieselten durch meinen Kopf ohne eine Form anzunehmen, in der sie richtig zueinander passten.
„Wie kann das sein?" Ich verstand nichts. Tränen der Verzweiflung bildeten sich in meinen Augen. Außerdem war dieser William Dampier Engländer und meine Familie hatte, soweit ich wusste, keinerlei Bezug zu England.
In der Sanduhr rutschte soeben das letzte Körnchen durch die Verengung zwischen den beiden Kolben nach unten. Wie in Zeitlupe fiel es auf den Haufen Goldstaub, der sich im unteren Glasbehälter zu einer herrschaftlichen Pyramide aufgetürmt hatte und die unheilvolle Ruhe, die sich in diesem Augenblick in der Sanduhr ausbreitete strömte durch das Glas nach außen, wobei sie sich zu einer Unheilvollen Unruhe verwandelte. Bea knetete die Finger mit den lackierten Fingernägeln, Hannah kaute nervös auf ihrer Unterlippe und Christian blickte kopfschüttelnd zu den verstreut herumliegenden Büchern, in der Hoffnung so doch noch zu einer Erkenntnis zu gelangen. Doch da öffnete sich schon die verzierte Flügeltur und Hongjoongs Stiefelsohlen schlugen dumpf und schwer auf die Holzdielen.
„Eure Zeit ist um."
Er hatte sich erneut verändert: seine Haare waren feuerrot und er hatte den schweren Brokatmantel abgelegt. Er trug nun ein blaues Hemd mit großem V-Ausschnitt und Schnürung vor der Brust, dass in einer weichen Hose aus schwarzem Leder steckte, deren Gürtel alle möglichen Waffen zierten.
Ich schnappte nach Luft.
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