21. Oktober 2022: Spinnen an Bord
Wir gingen unter Deck. Doch statt dem langen Gang bis zur Messe zu folgen, öffnete der Pirat eine Tür weiter vorn und forderte mich auf, einzutreten.
Die Kombüse! Was auf den meisten Segelschiffen aus dieser Zeit ein kleines Kabuff war, hatte hier die Maße eines weiteren Versammlungsraums. Doch trotz der vier Fenster, durch die ich das Meer sah und dem Feuer, das in einem offenen Kamin in einer Ecke brannte, wirkte der Raum düster und unwirklich. Staub waberte durch die Luft und die Holztische und Schränke waren vollgestopft mit Töpfen, Pfannen und tönernem Geschirr. Und dazwischen - Waffen. Ein Gewehr baumelte von der Decke, eine Armbrust lehnte am Tisch, Dutzende Stichwaffen lagen kreuz und quer auf den Regalen verteilt.
„Habt ihr keine Waffenkammer?" Neugierig ließ ich den Blick schweifen.
„Doch. Dort lagern die schweren Geschütze." Seonghwa schob sich an mir vorbei. „Das wichtigste bei Waffen ist, dass man sie griffbereit hat", erklärte er und griff wie zum Zeichen nach dem von der Decke hängenden Gewehr.
Den Moment, als er das gute Stück einer näheren Prüfung unterzog, nutzte ich, um meinen Blick rüber zu den Schränken huschen zu lassen. Würde es auffallen, wenn ich mir einen Dolch unter den Pulli schob? Doch als ich aufsah, erblickte ich direkt die wachsamen Augen des ersten Maats.
„Noch wichtiger ist natürlich, dass man keinen Blödsinn damit macht." Allein sein Tonfall löschte jeden Funken Rebellion und zündete dennoch ein Feuer, das mein ganzes Gesicht in Brand steckte.
„Richtig." Mit hoffentlich neutralem Ausdruck nickte ich. Noch wusste ich nicht, ob der erste Maat über die gleiche Gabe verfügte wie Hongjoong und solange das so war, musste ich vorsichtig sein. Doch selbst wenn er nicht Gedanken lesen konnte – meine Wangen straften mich Lügen. Zur Sicherheit drehte ich mich weg.
Doch Seonghwa gab vor, nichts zu bemerken. Mit einem gutmütigen Lächeln zog er ein Tuch aus seiner Weste und rieb damit sanft über den Lauf des Gewehrs.
„Was kocht ihr denn hier?" Um zu vermeiden, dass er vielleicht doch meine Gedanken las, entfernte ich mich weiter von ihm. Außerdem überfiel mich jedes Mal eine Gänsehaut, wenn die Piraten so selbstverliebt mit ihren Waffen hantierten, wie Bea mit ihren Nagelfeilen. Die Wärme des Kamins aus der Ecke kam einer Einladung gleich, die ich dankbar annahm.
Beim Näherkommen sah ich, dass die Wände rund um die Feuerstelle mit Backsteinen ausgekleidet waren. Brandschutz anno 1700.
Hinter mir hörte ich Seonghwa Luft holen. Ich spähte über die Schulter und sah, wie der Pirat das Gewehr an seine Lippen hielt und Staub vom Steinschloss pustete.
Schnell drehte ich mich wieder um, dabei verfing sich etwas in meinen Haaren und ich hätte fast aufgeschrien: Gespinste aus Jahrhunderte alten Spinnwebe schwebten über der Kochstelle und die Pfannen und Töpfe, die an Nägeln an der Wand baumelten, bedeckte eine daumendicke Staubschicht.
Hektisch fuhr ich mit den Fingern durch meine ohnehin schon verwuschelten Haare, es knisterte an meinem Ohr und der Schauder lief mir mit tausend Spinnenbeinen über den Rücken.
„Fettspinnen", sagte Seonghwa in diesem Moment und ich wusste nicht, was ich schrecklicher fand: die Vorstellung, das monströse Spinnen auf meinem Kopf saßen, oder die Entdeckung, dass hier anscheinend seit Jahrhunderten nicht gekocht wurde.
Ich meine, DAS waren doch keine Geister!
Ich hörte Seonghwas Kichern und sah, wie er sich umdrehte, um das Gewehr wieder aufzuhängen. Mein Blick bohrte sich in seinen Rücken; genau zwischen seine Schulterblätter. Seine sehnigen Muskeln zeichneten sich an Schultern und Nacken deutlich ab und die bestickte Weste hob und senkte sich mit jedem Atemzug.
Lebendiger ging es nicht, aber wie zum Teufel funktionierte das?
Ich hatte so viele Fragen, doch alle verschwanden in dem Augenblick, da ich am anderen Ende des Raumes blondes Haar entdeckte.
Und jetzt waren mir selbst die Spinnen egal. Ich rannte los.
„Lisa!" Der Kopf meiner Freundin lag auf der Tischplatte, die Haare ringsum aufgefächert, beide Arme nach vorn gestreckt. Schlief sie? „Lisa!" Ich rüttelte sie an den Schultern, da sie nicht reagierte.
Endlich bewegte sich der Blondschopf. „Illliana!" Ihr Gesicht sah aus wie zum Karneval geschminkt; das kleine Stupsnäschen und die Wangen glühten rot. Ein Geruch wie von Opas Weinbrandbohnen hing in ihren Haaren.
Donnerwetter, der zweite Alkohol innerhalb weniger Stunden. Kein Wunder, dass sie sich nicht rührte.
Doch nun stierte sie mich aus aufgerissenen Augen an; ich konnte förmlich beobachten, wie ihre Pupillen kämpften, das Bild scharf zu stellen. Ihr kleiner Kopf schaukelte dabei von einer Schulter zur anderen. Mir wurde schon vom Zusehen schwindelig. Um die Bewegung zu unterbrechen, legte ich den Arm um sie.
Und da sah ich das komplette Unheil!
„Ja, wie siehst du denn aus?" Anstatt zu antworten, lächelte sie mich entzückt an.
„Beachtlich oder? Da sag nochmal einer, nur Bea hätte Holz vor den Hütten!" Stolz reckte sie ihre viel zu weiße Oberweite vor.
„Sollte es nicht Tee geben?" Höchste Zeit, sich wieder an Seonghwa zu wenden. „Und wer hat ihr überhaupt diesen Fummel angezogen!"
Er lächelte breit. „Es ist nur ein Geschenk von Wooyoung an unseren Gast." Bei der Erwähnung dieses Namens ekelte ich mich mehr, als vorhin bei den Spinnenweben. Genervt verdrehte ich die Augen.
Doch Seonghwa sah mich tadelnd an: „Du solltest froh sein, dass Wooyoung sich damit zufriedengegeben hat. Von der Idee mit der Galionsfigur war er nur schwer abzubringen."
Bevor ich mich weiter aufregen und uns damit in Gefahr bringen konnte; wandte ich mich wieder meiner Freundin zu.
Diesem Piratenpack war doch eh nicht zu trauen!
„Wie geht es dir? Haben diese Typen dir was getan?" Ich hörte, wie Seonghwa scharf die Luft einzog, doch es war mir egal. Wenn ich meine Freundin statt in ihrer Bluse und dem dünnen Bolerojäckchen, in einem viel zu knappen Kleid mit Ledercoursage vorfand, die über der Brust so weit geschnürt war, dass sie einen Einblick bis zum Bauchnabel gewährte, musste er sich diese Fragen gefallen lassen, ob es ihm passte oder nicht.
Auch Lisa schien trotz ihres Zustandes zu wissen, was ich meinte: Mit rot glühenden Wangen, rutschte sie auf der Sitzbank hin und her und zupfte unbeholfen an dem viel zu tiefen Ausschnitt herum.
„Nein. Er hat sich nur da hingesetzt." Sie deutete auf die Bank ihr gegenüber. Mit einem Seufzer zog ich meinen Pulli aus und reicht ihn ihr.
Durch den Schlitz schimmerte ihre helle Haut und dennoch verdeckte er mehr als das freizügige Coursagenkleid.
„Bis gerade eben hat Wooyoung noch da gesessen", erzählte Lisa weiter und zeigte auf den Platz „und aus diesem goldenen Pokal getrunken. Aber irgendwann hat der da", sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Seongwha, "ihn rausgeschickt."
Lisa sprach leise, während sie einen scheuen Seitenblick rüber zu dem dunkelhaarigen Piraten warf. Er hielt eine Pistole wie die von Hongjoong in der Hand und ließ gerade Schwarzpulver aus einem kleinen Säckchen in die Mündung rieseln. Er tat so, als wäre er voll und ganz bei der Sache, doch ich wusste es besser. Er lauschte.
Die hielten uns doch hier alle völligst zum Narren!
Ich war dankbar, dass die Piraten Lisa nichts getan hatten, doch gleichzeitig verärgert, dass sie meine Freunde, einen nach dem anderen vorführten und lächerlich machten.
Doch davon würden wir uns nicht ins Bockshorn jagen lassen!
Ich nutzte es, dass Lisa noch in meinen Armen lehnte und meine freie Hand vor Seonghwas Blicken verbarg. Schnell griff ich nach einem Dolch und steckte ihn in den Bund meiner Jeans.
Dann stupste ich Lisa an und malte mit dem Finger eine Uhr auf den Tisch.
Doch so, wie sie ihr Näschen kraus zog, vorwärts und rückwärts schwankte und sich dabei entweder an mir oder der Tischplatte festhielt, begriff ich, dass ich bei meinem Plan auf mich gestellt war.
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Der Ruf des Meeres hat beim Popcornaward in der Kategorie "bester furchteinflößender Auftritt" gewonnen und dafür möchte ich besonders
Trude441danken. Deine Worte beim Voting waren echt schön und haben mich gleich so motiviert, dass ich das neue Kapitel heute noch fertig gemacht habe ^.^
Privat ist bei mir gerade vieles im Umbruch und dadurch hatte ich in den letzten Tagen wirklich keinen Kopf zum Schreiben.
Dieser Motivationsboost heute war genau das, was ich gebraucht habe!
Danke an Trude441 und alle Leser, die die Geschichte unterstützen <3
Ohne Euch geht es nicht <3
Und eines muss ich unbedingt noch klarstellen: ich liebe Wooyoung genauso wie alle anderen und nichts in dieser Geschichte geht gegen ihn als Person. Ihr wisst schon; alles frei erfunden ;)
Mir schwebt auch eine Storyidee im Kopf herum, in der er eine ganz positive Rolle erhält ^.^ Aber so ganz ohne "Bösewichte" wäre es ja auch langweilig. Also bitte nichts übel nehmen und bis bald hoffentlich ^.^
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