21. Oktober 2022: Sauerstoffmangel an frischer Luft
Schneller als ich blinzeln konnte, fand ich mich in einer absoluten Ausnahmesituation wieder. Und trotzdem war es wie ein Déjà-vu.
Hongjoong hatte mich an den Mast geknotet. Die Fesseln waren so straff gezogen, dass es mir die Luft aus den Lungen quetschte.
„Tight is right", bemerkte er grinsend und wirkte sehr zufrieden mit seinem Werk, das er nun von allen Seiten begutachtete.
Gerade als ich den Mund öffnete, um ihn anzufahren, ob er jetzt völlig den Verstand verloren hat, wurde sein Blick butterweich.
„Sicher, dass du das willst?" Er neigte den Kopf und bestimmt lag es am mangelnden Sauerstoff, aber ich bildete mir ein, kurz so etwas wie Bedauern in seinen Augen zu entdecken. Vor Verblüffung blieb mir der Protest in der Kehle stecken.
Ja, ich war so perplex, dass ich überhaupt nicht antwortete. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und der Piratenkapitän zuckte mit den Achseln. „Nun, du brauchst nur zu callen, dann wird alles vorbei sein, Iliana. Gib mir, was ich will - und ich werde dich mit Vergnügen aus dieser misslichen Lage befreien."
Oh, er war voll in seinem Element! Seine Bewegungen und sein Tonfall waren so geschmeidig wie die einer Raubkatze. So ganz in Schwarz war er der Panther, der seinen Fang umkreist.
Ich schnaubte frustriert - das musste genügen als Erwiderung. Selbst wenn meine Luft reichte, um zu reden, wäre es eh vergebens.
Der zog doch schon wieder ne Show ab! Und diese Show hieß dann wohl: Harte Schale, weicher Kern und zugegeben: Sie war unterhaltsam. Aber nachgeben würde ich deshalb nicht.
„Du denkst, du bist so unbeugsam wie der Ozean - dass du dich da mal nicht täuschst. Sogar das Meer gehorcht mir." Seine Brauen waren jetzt streng zusammengezogen und die Linie zwischen seinen Lippen wirkte so hart, als wäre sein Mund aus Holz geschnitzt. Die katzenhafte Geschmeidigkeit, die eben noch seine Bewegungen bestimmte, war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Jeder Muskel an ihm war angespannt und die Adern an seinem Hals traten deutlich hervor. Er hatte schon wieder die Rolle gewechselt, doch irgendwie beschlich mich der Eindruck, dass ihm diese selbst am wenigsten gefiel.
Ich sag's ja; Sauerstoffmangel.
Nein, DAS IST ER! Das ist zum ersten Mal keine Rolle, die er spielt, sondern sein wirkliches Ich - Piratenkönig Kim Hongjoong, der mordet, raubt und ach, was weiß ich nicht noch alles. Und das Schlimme war: Ich kaufte sie ihm ab. Ganz und gar.
„Ich vergaß! Du versuchst ja alles positiv zu sehen, nicht wahr? Nun, du hattest dir gewünscht, das Leid deiner Freunde zu teilen: Herzlichen Glückwunsch, jetzt bekommst du die Gelegenheit dazu!" Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas so Bedrohliches gesehen, wie sein Grinsen in diesem Moment.
Aber, so war das doch nicht ... Scheiße!
Egal, ob Rolle oder nicht; die Show, die er diesmal abzog, wirkte; mein Herz hämmerte so heftig, dass ich sicher war, dass er es hörte.
Hongjoong sah in mein Gesicht und dann auf die Fesseln. Dann beugte er sich zu mir herab, sodass seine Nase fast an meine stieß. „Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Bist du sicher, dass du das willst?"
„Nein." Es war die Wahrheit. Warum sollte ich ihn anlügen? Ihn, der meine Gedanken lesen kann, wie ein offenes Buch.
„Du kennst den Preis." Er lächelte mich an, als hätte er bereits gewonnen.
Ich nickte, blieb aber stumm. Am liebsten hätte ich das Astrolabium jetzt fest in meiner Faust eingeschlossen. Sein Gewicht drückte leicht auf meine Brust und mir war, als würde es im Takt meines hämmernden Herzens pulsieren. Unwillkürlich rüttelte ich an den Fesseln - was natürlich sinnlos war.
„Gib es mir jetzt und es ist vorbei, bevor es richtig begonnen hat!" Der Piratenkönig klang so, als würde er sich das tatsächlich wünschen.
Seltsam. Müsste das nicht andersherum sein? Müsste ich es nicht sein, die sich wünscht, dass das hier alles vorbei ist?
Obwohl meine Lage so bedrohlich war, wie nie zuvor in den letzten Stunden, herrschte in mir - mal abgesehen von dem kräftigen Herzschlag - eine absurde Stille. War das die Ruhe vor dem Sturm? Stand ich vielleicht kurz vorm durchdrehen und merkte es nur nicht? Steckte ich in einer Art Schockstarre?
Schon möglich. Diese Stille trug den Geschmack von Trauer und Grauen. Wie ein Spaziergang über den Friedhof an einem nebligen Novembertag. Dann ist alles vorbei.
Ich will nicht, dass es vorbei ist! Nicht so!
Hongjoong zog sich zurück, wartete aber noch einen Moment. „Also gut. Dann auf die harte Tour." Er drehte sich abrupt um und lief über das ganze Poopdeck bis zur Reling.
Als er sich wieder zu mir umdrehte, verdunkelten nachtschwarze Schatten sein Gesicht. Und erst da begriff ich: Er machte es zur Chefsache.
Keine Horde Piraten mit Messern bis an die Zähne bestückt, die mich gleich umzingeln würde. Vermutlich sollte ich erleichtert sein, doch diese grausige Stille in meinem Inneren unterdrückte jedes Gefühl im Keim.
„Du kennst die Regeln!", rief Hongjoong mir über den Wind hinweg zu.
Der Nebel umkreiste mich und schien sich dabei, wie das Seil, um meinen Körper, immer fester zu ziehen. Angestrengt spähte ich zum Piratenkönig.
Statt eines Messers zog er eine Pistole hervor.
Nicht sein Ernst.
Selbst aus der Entfernung erkannte ich, dass sie uralt war, trotzdem zweifelte ich nicht eine Sekunde an ihrer Funktionalität.
„Du kannst es jederzeit stoppen!" Sein Ruf hallte klar in meinen Ohren wieder.
„Aber warte damit nicht zu lange!" Er lachte gepresst.
Er scheint es wirklich nicht zu wollen. Die ganze Situation wurde immer verrückter. Meine beharrliche Weigerung, ihm den Anhänger zu geben - schließlich hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass es das Objekt seiner Begierde war; und sein Unvermögen endlich mal klar Schiff zu machen und sich das Teil einfach zu nehmen. Immerhin war er hier doch der Pirat. Aber sicher würde er genau das jetzt tun.
Nein. Es ist ein Test.
Der Gedanke war so klar, dass ich augenblicklich von seiner Richtigkeit überzeugt war.
Ich nickte, als Bestätigung für mich selbst, doch Hongjoong nahm es als Ermutigung fortzufahren.
Seine Gedankenlese-Fähigkeiten schienen auf große Distanz nicht zu funktionieren. War das jetzt gut oder schlecht für mich?
„Dann lass uns loslegen." Er hob seinen Arm. Der Lauf der Waffe glänzte.
Die Stille brach - meine Seele schrie, aber meine Zähne bohrten sich so fest in meine Unterlippe, dass ich sie nicht auseinanderbekäme, selbst wenn ich es wöllte.
Mein Herz hämmerte jetzt so hoch, dass ich meinte, meine Zunge zitterte im Takt dazu.
Du hast ein Ass im Ärmel! Die seltsame Idee, noch einen Trumpf in der Hinterhand zu haben, war zwar noch da, kam aber kaum mehr an, gegen die Angst, die mich beherrschte.
Wem machte ich denn hier etwas vor? Wenn ich es falsch anstellte, würde mir auch die beste Karte nichts nützen. Und ich hatte mehr zu verlieren, als nur dieses Spiel und damit das Astrolabium - ich könnte mein Leben verlieren.
Es ist bloß ein Test, ein Teil meines Hirns versuchte, die Wogen zu glätten - vergeblich.
Hongjoong beendete den Disput. Sein Finger zuckte am Abzug. Funken stoben und ein Knall zerriss die Nacht und meine Trommelfelle gleichzeitig. Die Explosion ereignete sich direkt in meinem Kopf.
Alles an mir presste sich unter der Wucht zusammen, wobei sich die Fesseln noch fester in meine Haut fraßen.
Der Schmerz war so überwältigend, dass ich zunächst gar nicht hätte sagen können, wo der Schuss mich getroffen hatte.
Erst als der schmerzende Nachhall hinter meinen Ohren nachließ, spürte ich das Brennen auf meiner Stirn. Und etwas Warmes. Blut.
Er hat mich getroffen! Er hat mich getroffen! Mein Herz, das bis eben so heftig gehämmert hatte, dass es auf dem ganzen Schiff zu hören gewesen sein musste, setzte aus.
Mein Glück war, dass ich in Bio bessere Noten hatte, als in Chemie und mein Verstand jetzt wieder die Führung übernahm. Hätte Hongjoong dich tatsächlich getroffen, hättest du jetzt überhaupt keine Schmerzen oder Ängste mehr. Und über deinen Herzschlag bräuchtest du dir auch keine Gedanken mehr zu machen. Dann wäre nämlich wirklich Ruhe. Tote Hose. Tatsächlich hat er überhaupt nicht auf dich gezielt. Es ist wie bei Noah!
„Na, wie oft hältst du das noch aus? Bevor du es mir gibst?" Hongjoongs Stimme klang hämisch, drohend und lockend zu gleich. Aber mir war's egal.
Ich kannte nun mein Blatt genau und wusste, was unser Trumpf war: Er kann nicht töten! Ja, ich wettete sogar, er kann noch nicht mal jemanden ernsthaft verletzen!
Und mit dem schneidenden Seil an meiner Haut, dem Blut auf meiner Stirn und dem blanken Holz im Rücken erkannte ich, dass es erneut um Wahrheit ging:
Um die wahren Beweggründe des Piratenkönigs. Wie viel Wahrheit steckt hinter seiner Legende und was hat es mit dem Fluch, der auf ihm liegt, auf sich? Kann er wirklich nicht töten? Nicht rauben? Und seine Crew, was ist mit denen? Und was passiert eigentlich mit den Piraten, wenn die Sonne aufgeht?
Das lässige Schulterzucken, dass ich Hongjoong als Antwort gab, misslang aufgrund der Fesseln. Und dennoch ... der Piratenkönig schien den Umschwung zu wittern. Er stieß sich von der Reling ab und kam gemessenen Schrittes auf mich zu.
Er hielt die alte, aber gut gepflegte Pistole noch in der Hand, als er vor mich trat.
„Warum gibst du es nicht her?" Aus seinem Tonfall sprach die reine Ungeduld, doch in seinem Blick flackerte Neugier und bevor er in meinen Gedanken lesen konnte, gab ich ihm selbst die Antwort:
„Es ist Teil des Ozeans." Ich merkte, dass ich rote Wangen bekam. Es war mir peinlich, aber er würde es eh erfahren, wenn er wollte.
„Was ist es, was dich so ans Meer zieht?" Meine Antwort schien ihn nicht Mal überrascht zu haben. Abwartend und interessiert sah er mich an.
Ich drehte meinen Kopf ein Stück zur Seite, um zu vermeiden, dass er selbst anfing, in meinen Gedanken zu wühlen. Seltsamerweise schien er gerade nicht darauf aus zu sein. Dennoch spürte ich den Drang, es ihm zu erzählen. „Du willst wissen, was ich denke? Warum es mich ans Meer zieht?"
Ich sah an ihm vorbei, dorthin, wo der Mond die weiße Gischt der Wellen silbern krönte.
Meine Stimme war rau und kratzig, wurde dann aber fest. „Das Meer ist faszinierend; es scheint unendlich und ist doch ein ewiges werden und vergehen. Es ist Quelle von Freiheit und Abenteuern, aber es birgt zugleich Gefahr und Verlust. Es ist ein Ort, an dem wir uns selbst finden und dennoch verloren gehen können. Das Meer ist ein Spiegel unserer eigenen Seele."
Hongjoongs linke Augenbraue zuckte. Ich nahm es ihm nicht übel, da ich selbst überrascht von meinem kleinen Vortrag war. Poetisch! Wirklich poetisch! Irgendeine fiese Stimme in meinem Kopf klatschte sarkastisch Beifall. Ich schob sie beiseite, denn für die Wahrheit wollte ich mich nicht schämen.
Der Teil mit Freiheit und Abenteuer war eine Überzeugung, zu der ich schon als Kind gelangt war - Opas Geschichten sei Dank. Doch den Rest hatte ich hier gelernt - vom Meer und von Kim Hongjoong, dem Piratenkönig höchstpersönlich.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und sah ihm in die Augen.
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