21.Oktober 2022: Ein Ausweg


In Windeseile hatten die Piraten uns an Deck zusammengetrieben.

Die Nacht wich bereits einem matten Taubenblau, und am Horizont zeichneten sich die ersten Anzeichen eines gelblichen Leuchtens ab. Doch der schwache Schimmer, der über das Schiffsdeck kroch, stärkte die Schatten, statt sie zu verscheuchen.

Klebrige, dunkle Flecken spickten Boden und Reling. Überall stank es nach Algen, Seetang und Blut. Aus dem Hauptmast ragten die Griffe dutzender Dolche und Messer, und dort, wo man ihre Schneiden sah, blitzte das Zwielicht. Dazwischen steckte Noah. Seine Jeans war blutgetränkt, sein Kopf auf die Brust herab gesackt. Das dichte, dunkle Haar, das sich sonst quirlig lockte, verdeckte sein Gesicht wie ein Vorhang aus mattem, löchrigem Samt. Entsetzen schüttelte mich von innen heraus. Er sah aus wie tot! Und ich hatte nichts getan, um ihn zu retten!

„Noah!" Kaum, dass sie ihn erkannte, stürzte Bea zu ihm, fühlte nach seinem Herzschlag und schob die Hand auf seine Stirn, als könnte sie ihn damit zurückholen. Ich wünschte es so sehr, dass ich anfing, zu zittern. Doch es war aussichtslos. Schließlich wandte ich mich ab. Auch die anderen blieben auf Abstand. Der Schock war zu groß und gleichzeitig so seltsam unwirklich, dass ich fest glaubte, Noah würde den Kopf heben und lächeln, wenn ich das nächste Mal zu ihm sah. Beas lautes Weinen und unsere erstickten Schluchzer schwappten in Wellen über das Deck. Doch darüber hinweg tönte ein Knarzen und Klappern, als würden Knochen im Wind aneinanderstoßen. Die Gänsehaut auf meinen Körper verstärkte sich und ich zitterte noch heftiger.

„Da! Am Baum!" Auch Lisa hatte es gehört. Ihr Aufschrei war vom Weinen noch halb erstickt. Ich folgte der Richtung, in die sie zeigte und schlug mir die Hand vor den Mund. Michael hing noch immer an der Saling festgeknotet. Doch neben ihm baumelte ein menschliches Skelett! Selbst, um mich zu übergeben, war ich zu geschockt. Da ruckte Michaels Kopf und Bewegung kam in seinen Körper, als hätte Lisas Schrei ihn eben erst geweckt.

„Heiliger Strohsack!" Entfuhr es ihm, als er uns gute zehn Meter unter sich entdeckte. „Was zur Hölle mache ich hier?" Langsam wanderte sein Kopf nach rechts, folgte unseren Blicken oder dem unheilvollen Klappern, vielleicht auch beidem. „Alter! Der hier ist noch mehr am Arsch als ich!" Seine Stimme klang schrill und er zappelte vor Panik in den Seilen, wobei er dem Skelett einen Tritt versetzte. Die Beine des Knochenmannes krachten aufeinander und im nächsten Augenblick stürzte ein Wadenbein samt Fuß herab. Mit einem abscheulichen Knacks zersplitterte es direkt vor meinen Füßen. „Alter, was hab ich nur angestellt, um so zu enden?", jammerte es von oben.

Ein Schluchzen drängelte meine Kehle empor und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, ein Lachen unterdrücken zu müssen. Das schaffte nur Michael. Dabei war mir nach Kichern ganz und gar nicht zumute. Im Gegenteil. Doch wenn ich jetzt anfinge zu weinen, würde ich nie wieder aufhören.
Um mich zu sammeln, richtete ich den Blick vor mir auf den Boden. Die zerstreuten Knochensplitter bildeten einen Kreis wie bei okkulten Orakeln. Doch, was nützte das, wenn man von diesen Dingen nichts verstand. Michael hatte völlig Recht. Was hatten wir angestellt, um auf einem Geisterschiff zu enden? Und vor allem: Wie sollten wir entkommen? War das überhaupt noch möglich?

Mit den Augen suchte ich Christian. Wenn jemand einen Plan hatte, dann er. Doch jetzt hatte er sich tief in seine Kapuze zurückgezogen, und Schatten verdeckten sein ganzes Gesicht, als wäre er selbst darin verschwunden.

Schuld drückte mein Herz kalt zusammen. Weder für Michael, noch für Noah oder einen der Anderen hatte ich bisher etwas getan. Dabei waren sie alle nur meinetwegen an Bord. „Keine Panik, Mike! Wir holen dich da runter!" Der Ruf kam aus meinem Herz, und ich meinte ihn tot ernst, auch wenn ich keinen Schimmer hatte, wie ich das anstellen sollte.

„So?" Eine mir nur allzu vertraute Stimme ließ mich zusammenzucken. Hongjoong trat mitten in die Knochen und musterte mich prüfend. „Dann tu dir keinen Zwang an!" Er lächelte und sein Tonfall spottete, doch sein Blick verriet die Absicht, mich festzuhalten und anzubinden, sollte ich nur den Versuch wagen. „Aber mit aktiv werden, hast du es ja nicht so, stimmt's?" Sein Grinsen sagte mehr als nötig und er zwinkerte so, dass mein Herz den nächsten Schlag verpasste. Natürlich war mir klar, woran er dachte. Zu allem Überfluss bekam ich rote Wangen.

Zu meinem Glück drehte er sich um, als wäre damit alles gesagt. Er brauchte sich ja auch nicht sorgen, dass ich etwas anstellte. Wie viele Stunden waren vergangen? Und was hatte ich bewirkt? War ich es nicht, die die anderen eher zurückgehalten hatte? Mein Blick kehrte sich nach innen und verschwamm. Brennend und trüb wie faules Salzwasser.

„Der Morgen nähert sich! Ihr wisst, was das bedeutet!" Hongjoong unterbrach meinen düsteren Gedankentauchgang. Das Dämmerlicht hüllte den Piratenkönig in zwielichtiges Schimmern. Vergnügt klatschte er in die Hände. „Aber da ich kein Unmensch bin", dabei klang das Kichern zwischen seinen Worten alles andere als menschlich, „schenke ich euch die Freiheit! Hier und Jetzt!"

Er öffnete die Arme in einer Pose, als fordere er Applaus. Ein Schauspieler am Ende des großen Stücks. Bravo! Von Anfang an hatte alles auf diesen Moment hingesteuert.
Und doch blieb uns nichts, als vor Staunen Augen und Münder aufzureißen. Stummen Statisten gleich warteten wir auf die nächste Anweisung des Regisseurs; Piratenkönig Kim Hongjoong. Mein Magen zog sich vor Angst zusammen, während das Meer in Aufruhr toste. Die Wellen peitschten gegen das Schiff, das ächzend unter ihrer Last stöhnte, bis es mit einem Ruck zur Seite kippte.

Doch niemand schrie. Alle fixierten nur ihn. Hongjoong. Das Schneidende in seinem Blick; endgültig und scharf wir die Klinge des Todes, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Aus einer der Ecken löste sich unvermittelt ein Schatten. Ich zuckte mit keiner Wimper. Denn egal, was da kam, schlimmer, ging es ja nicht mehr. Er entpuppte sich als der Pirat mit dem roten Haar, der ein etwa zwei Meter langes Brett über der Schulter balancierte. Hongjoong nickte ihm zu. „Mingi zeigt euch den Ausgang." Dann drehte er sich erneut zu uns und zeigte mit seinem Arm raus auf das tobende Wasser. „Ihr seid nun frei, dorthin zu gehen, wohin die Wellen euch tragen, denn von allem, was auf dem Boden der Meere ruht, ist die Sonne am stärksten; ihre Strahlen durchdringen die Tiefen wie flüssiges Gold!" Die Poesie und Inbrunst mit der er seine kleine Ansprache hielt, passte hervorragend zu dem tiefgoldenen Ton seiner Augen und zeigte einmal mehr, wie der Piratenkönig tickte. Aufmerksamkeit um jeden Preis.

„Jetzt also die Schatzinsel?" Ich applaudierte tatsächlich als er einen meiner Lieblingssätze aus Stevensons Meisterwerk rezitierte. Aber es war ein hohler und schleppender Ton, fast mechanisch. Doch auf verrückte Weise ergab jetzt alles einen Sinn.
„Dein letztes Stück?" Ich zog verächtlich die Brauen nach oben, so wie ich es schon zig Mal beim Piratenkönig gesehen hatte. Das erste Mal in dem kleinen Spätshop, als er in die Rolle des Verkäufers geschlüpft war.
„Dabei weiß doch jeder, dass echte Piraten ihre Gefangenen nicht wirklich auf einer Planke von Bord gehen ließen!" Ich zielte auf seinen Stolz, zwar hatte ich nicht mehr, als dieses Sandkorn zum werfen, aber was blieb mir sonst übrig? Sein Ehrgefühl war bisher das Einzige, in dem er sich verletzbar gezeigt hatte.

Statt zu antworten wies Hongjoong dem rothaarigen Piraten in einer Seelenruhe die Stelle für das Brett und zuckte dann mit den Schultern.
„Meine Auswahl ist begrenzt. Und es ging schließlich die ganze Zeit darum." Er sprach ruhig und sah mich an, als hätte ich das wissen müssen. Und tatsächlich, die ganze Zeit hatte er danach gebohrt, wo meine Ahnen den Piratenschatz versteckt hielten. Blöd nur, dass ich darüber nicht die Bohne Bescheid wusste.
„Zudem töte ich nicht. Ich lasse euch frei!" Er war und blieb ein elender Rechthaber und hatte diebischen Spaß dabei. So wie Herr Schreier, wenn er in mündlichen Kontrollen jedes Mal selbstgefällig lacht, wenn er die Antworten korrigiert. Doch Hongjoongs Grinsen war diabolisch. Und erst da machte es Klick. Der Fluch würde uns nicht schützen, da der Piratenkönig nicht aktiv etwas tat. Das Meer würde die Sache übernehmen und damit wäre er uns los. Ein für alle Mal.
Und er konnte sich auch beruhigt von uns verabschieden; immerhin war klar, dass niemand etwas über seinen Schatz wusste. Aber warum jetzt? Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Und was war mit dem Astrolabium? Würde er jetzt doch darauf verzichten?

„Also, wer möchte als Erstes?" Sein Blick drehte die Runde, bis er an Bea hängen blieb. „Du! Deine Zunge durftest du behalten. Aber nun gehört der Vortritt dir." Seine Geste zur Planke wirkte, als würde er ihr ein Geschenk machen.

Bea schnappte nach Luft. Doch statt zur Reling trat sie näher an den Mast heran. Es sah aus, als wolle sie sich Noah um den Hals werfen, stattdessen stürzte sie vor und zog mit ganzer Kraft an einem der Messergriffe. Sie zerrte und zog – doch vergebens. Der Griff rührte sich nicht einen Millimeter.

„Spar dir die Kraft! Du brauchst sie zum schwimmen!" Hongjoong trat gemächlich auf sie zu.

Hinter ihm gluckste es. Dieser Mingi freute sich ganz offensichtlich über das gelungene Spektakel.

Hannah nutzte den Moment der Ablenkung und schlich an meine Seite. Ihr Blick drückte aus, was ich dachte. Wir müssen ihr helfen. Nur wie? Mit jeder vergehenden Sekunde verhärtete sich die Angst in meinem Bauch, fast so, als würde sie mich von innen heraus in Stein verwandeln.
Meine Nackenhärchen stellten sich auf, als ich das ganze weiter als Zuschauer verfolgte. Gleichzeitig beschlich mich das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich riss meinen Blick von Beatrice, Hongjoong und dem rothaarigen Piraten los und schickte ihn über das Schiff. Da! Auf dem Achterdeck lehnte der erste Maat und sah zu uns herab. Genau in meine Richtung. Schnell drehte ich mich wieder um. Der hatte jetzt noch gefehlt!

Der Piratenkönig blieb einige Schritte vor Beatrice stehen, verbeugte sich leicht und deutete ihr an, ihm zur Planke zu folgen. Ihre Beine zitterten und sie schüttelte unentwegt den Kopf, brachte aber keinen einzigen Laut hervor. Auch Hongjoong sagte nichts. Mit einem entnervten Seufzen zog er mit einem Ruck die Pistole aus seinem Gurt und richtete sie mit gestrecktem Arm auf Noahs eingefallene Silhouette.

„Mag sein, dass der Fluch mir verbietet, auf lebende Menschen zu schießen, doch bei deinem Freund macht er sicher eine Ausnahme."

Bea schrie, als hätte er abgedrückt und sie getroffen und für den Moment befürchtete ich, sie würde sich dazwischen stürzen. Doch stattdessen ließ sie Kopf und Schultern fallen bis die platinblonden Strähnen ihr Gesicht verdeckten und setzte sich gehorsam in Bewegung.

„Oh nein! Wir müssen etwas tun!" Hannah neben mir war ganz aufgebracht und kaute nervös auf ihren Fingernägeln.

„Ja! Das müssen wir endlich!" Schweiß tropfte aus meiner durch die Meerluft verfilzten Mähne und brannte in den Augen. Mit der freien Hand zerrte ich das Astrolabium hervor. Der große Zeiger zitterte hektisch, genau wie mein Herz. Bitte! Hilf! In Gedanken betete ich für einen Ausweg.

Und wirklich! Es reagierte! Der Zeiger wirbelte und drehte sich, bis er vor meinen Augen verschwamm. Abwechselnd starrte ich von der Scheibe hin zu Beatrice und wieder zurück. Bea hatte die Planke erreicht. Sie wackelte gefährlich hin und her.

Endlich stoppte der Zeiger. Doch er zeigte genau auf die Planke! Oder auf Beatrice, die gerade ihren Fuß darauf setzte? Nein, auf Hongjoong! Immerhin stand er von mir aus gesehen vor Beatrice. Oder deutete er etwa auf das tosende Meer hinter allen? Verwirrt runzelte ich die Stirn, in meinem Kopf drehte es sich, wie der Zeiger kurz zuvor. Ich fluchte leise, wünschte, das Astrolabium wäre deutlicher geworden, doch dann ließ ich es fallen und rannte los.




Bevor mich jemand aufhalten konnte, stürzte ich an allen vorbei. „Stop!" Auf dem schmalen Brett balancierend, breitete ich die Arme aus und drehte mich gefährlich schwankend um. „Niemand wird springen!"

„Ach nein?" Hongjoong neigte den Kopf und mir schien, als versuche er, abzuschätzen, wie weit ich gehen würde. Der satte Goldton in seiner Iris war etwas Rauchigem, Warnenden gewichen.
„Im Übrigen wärst du auch noch drangekommen. Kein Grund sich vorzudrängeln." Sein Tonfall klang ruhig, verdeckte aber nicht die Missbilligung seiner Worte. Und obwohl mich das ärgerte, stach es mir ins Herz. Ich verfluchte mich dafür, in ihm mehr als das Monster gesehen zu haben, das er war.

Unter seinen stahlgrauen Blick tastete er in meinem Geist, rüttelte an meinem Entschluss. Doch ich blieb, wo ich war, stemmte mich gegen ihn und hielt die Mauer intakt, bis er schließlich fluchte, Beatrice zur Seite stieß und selbst einen Stiefel auf die Planke setzte. Das Brett kippelte gefährlich und ich schrie auf.

Sofort streckte er die Hand nach mir aus. „Komm her!"

Im letzten Moment fing ich mich und schnaubte. Wie oft war ich darauf schon hereingefallen? Hatte mich bezirzen lassen von ihm und seinem Charme? Stur schüttelte ich den Kopf und setzte den Fuß noch etwas zurück.

„Bleib stehen! Keinen Schritt weiter sage ich!"

Doch ich wich gleich mehrere Schritte zurück. Sollte er mich zu packen kriegen, hätte ohnehin mein letztes Stündlein geschlagen, das erkannte ich in seinem Gesicht.

Doch der Wind war schneller als Hongjoong. Mit einem Stoß erfasste er die Segel. Das Schiff kippte erneut zur Seite und ich rutschte.

Zum Schreien blieb keine Zeit. Zu schnell brauste ich hinab in das tosende Meer.

Das aufgepeitschte Weiß fauchte und schlug gegen meinen Körper. Die Wellen schüttelten mich, als wollten sie mir zeigen, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Und statt mich zu tragen, drückten sie mich hinab in die Tiefe. Dahin, wo die Dunkelheit lauerte.

Verzweifelt strampelte ich mit Armen und Beinen, während mein Herz vor Hilflosigkeit raste. Alles, woran sich meine Gedanken klammerten, war die panische Angst Wasser statt Luft einzuatmen. Die Furcht vor dem Ertrinken schnürte mir langsam aber sicher die Kehle zu. Schließlich wurden meine Bewegungen kleiner und ich gab mich ihr hin; der endlosen und kalten Umarmung des Meeres.

Hongjoong hatte gelogen.

Da war kein Licht am Grund des Ozeans.

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