20.Oktober 2022: Hitze, die nicht vom Kamin kam


Sie zogen Noah mit sich nach draußen.

Das durfte nicht sein! Wir konnten das nicht zulassen! Aber die Angst schnürte mir die Kehle zu und das Entsetzen lähmte mich. Verzweifelt sah ich zu den Anderen. Christian schüttelte den Kopf, Hannah kaute auf ihrer Unterlippe, Lisa war kreidebleich und hielt Eric, der das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen verfolgte, zitternd am Oberarm fest, wie als wolle sie verhindern, dass er der Nächste sein würde, der so abgeführt wurde.

„Nein! Nicht!" Bea wandte sich flehend an den Piratenkönig. Dass sie eingriff, rechnete ich ihr hoch an.

Er beachtete ihren Einwand nicht und gab seinen Männern ein Zeichen, dass sie fortfahren sollten. Sie hatten die Tür erreicht und traten nun mit Noah hindurch. Obwohl dieser sich auf das Heftigste wehrte, schienen seine beiden Begleiter keinerlei Schwierigkeiten zu haben, ihn im Griff zu behalten. Es war kein Anzeichen der Mühe auf ihren Gesichtern erkennbar, nicht der winzigste Schweißtropfen. Noahs Stirn hingegen, glänzte nass vor Anstrengung.

An den Augenbrauen des Degentyps erkannte ich seinen Unmut. Noah sollte es nicht übertreiben, das könnte gefährlich für ihn werden. Der Rothaarige wiederum wirkte amüsiert, ob der nichtsnutzigen Gegenwehr.

Kaum das Noah und seine Begleiter aus unserem Blickfeld verschwunden waren, stolzierte Beatrice auf den Kapitän zu und schwang dabei ihre Hüfte mehr als nötig. Was hatte sie vor?

„Lass ihn frei", verlangte sie, wenn auch nicht mit der gleichen Selbstsicherheit, die sie sonst gern zur Schau trug.

Er zog eine seiner akkuraten Augenbrauen nach oben, verschränkte die Arme und sah sie abwartend an.

Ihre Schritte verharrten vor seinem Schreibtisch und sie blinzelte unsicher, verlangte aber erneut: „Lass uns gehen!"

Er schnalzte amüsiert mit der Zunge "Weißt du denn, was ich von euch will?" Er lehnte sich bei diesen Worten nach vorn und pustete sie ihr förmlich ins Gesicht.

Bea schien es zu frösteln, sie fing sich aber schnell wieder „Vielleicht können wir verhandeln", schlug sie vor. Sie saß jetzt mit einer Pobacke auf seinem polierten Tisch, ähnlich wie Frau Haubold sich manchmal auf den Lehrertisch setzte und warf ihm unter ihren getuschten Wimpern einen koketten Blick zu.

Mir blieb die Luft weg. Die hatte sie doch nicht mehr alle!

Dass ihre Stimme nur leicht zitterte, war zwar bewundernswert, aber ihr Verhalten gegenüber dem Piratenkönig ließ mich erschaudern.

Sein linker Mundwinkel wanderte nach oben, seine Augenlider senkten sich leicht, aber sein Blick war starr auf Beatrice gerichtet. Er sah sie an wie ein Löwe, bevor er sich auf eine Antilope stürzt.

Die Spannung, die in der Luft hing, war deutlich zu spüren. Fast konnte ich sie knistern hören, wie die Scheite im Kamin.

Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Die Fingernägel schnitten in meine Handflächen. Auch wenn Bea und ich keine Freunde waren, sorgte ich mich. Sie wusste nicht, wen sie da vor sich hatte. Das war nicht nur irgendein verdammt attraktiver Typ mit fragwürdigen Manieren und Machogehabe. Das war der gefährlichste Piratenkapitän aller Zeiten. Und ich hegte die Befürchtung, dass sie das Schicksal der Antilope erwartete.

„Du willst handeln?" Er lachte sein helles Möwenlachen und seine Zähne blitzten dabei auf.

„Was hast du denn zu bieten?" Im nächsten Augenblick war er direkt vor ihr und lehnte sich über sie. Wie hatte er das gemacht? Wie war er so schnell um den Tisch herumgekommen? Ich hatte doch nur kurz geblinzelt? Er stand so nah vor ihr, dass sie die Augen zusammenkniff. Er legte seinen Zeigefinger, der für einen Mann erstaunlich grazil war, unter ihr Kinn um ihren Kopf leicht anzuheben.

Sie öffnete widerstrebend ihre Lider. Sie wollte den Blick abwenden, doch er ließ es nicht zu. Er sah ihr in die Augen und mit Bea passierte etwas. Ihre Augen weiteten sich und es schien, als könnte sie nicht wegsehen. Oder wollte sie nicht?

Ihre Wangen färbten sich rot, wie reife Äpfel und ihre Augenlider zitterten wie Schmetterlingsflügel. Ihr Blick hing an seinen Lippen. Er verzog den Mund zu einem Lächeln. Die Röte breitete sich über ihr gesamtes Gesicht bis zum dunklen Haaransatz aus.

In Beas grünen Augen loderte etwas. So ähnlich hatte sie Noah auch schon angesehen, aber dieser Blick war intensiver.
Sie hob eine Hand zu seinem Gesicht und ihre Finger streckten sich nach seinen Lippen aus, doch bevor sie sie berührten, nahm er ihre Hand in seine und hielt sie fest.

Ihr Mund öffnete sich leicht wie eine Rosenblüte am Morgen und obwohl er bereits dicht bei ihr war, drängte sie sich gegen ihn.

Sie schien Noah komplett vergessen zu haben.

Ihre Beine zitterten und sie hatte Mühe, sich aus eigener Kraft auf ihnen zu halten. Der Tisch stützte sie und der Kapitän hielt sie nun an den Oberarmen fest, als wolle er verhindern, dass sie umfiel. Den intensiven Blickkontakt unterbrach er nicht eine Sekunde. Beas Augen waren glasig, ihr Blick entrückt und ich war mir sicher, dass sie von ihrer Umgebung überhaupt nichts mehr mitbekam.

Sie hing verloren und willenlos in seinen Armen.

Verloren. Sie hatte ihr kleines, kokettes Spiel gegen ihn verloren.

Und wir würden alle gegen ihn verlieren.

Was zur Hölle machte er mit ihr? Bea schien es kaum mehr ertragen zu können. Er hingegen wirkte, bis auf sein arrogantes Lächeln, seltsam teilnahmslos.

Bea schwitzte. Kleine Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. Sie litt an einer Hitze, die nicht vom Kamin kam.

Sie wandt sich gequält unter seinem Griff.

Was zum Teufel geschah da direkt vor unseren Augen? Ich verstand es nicht, aber ich war dabei all meinen Mut zu sammeln, um einzugreifen, als das seltsame Schauspiel abrupt abbrach.

Er ließ sie los. Bea sank mit einem leisen Aufstöhnen zu Boden und er trat zurück.

„Du hast nichts, was für mich von Interesse wäre", konstatierte er und richtete sich mit einer Hand seinen sicher sündhaft teuren Mantel.

„Möchte sonst noch jemand verhandeln?", fragte er und sah mit einem Lächeln in die Runde.

„Nein? Nun, wer es nochmal wagt, mit mir handeln zu wollen, dem schneide ich die Zunge ab." Sein Grinsen war verschwunden und keiner von uns zweifelte daran, dass er diese Drohung todernst meinte.

Bea saß am Boden. Sie zitterte. Ich lief zu ihr, half ihr auf die Beine und zog sie von ihm weg zum Kamin.

Sie sagte nichts und vermied meinen Blick. Das Ganze schien ihr furchtbar peinlich zu sein. Sie glühte wie eine heiße Kohle, aber die Röte veränderte ihre Farbe. Ihre Wangen waren jetzt eher pink als rot. Ich strich ihr unbeholfen über den Rücken. „Danke, dass du Noah helfen wolltest", flüsterte ich ihr zu. Sie nickte stumm.

„Wie hast du das gemacht? Was...?" Eric verschluckte sich fast an den Worten vor Aufregung.

Oh nein! Ich warf ihm einen strafenden Blick zu und Hannah boxte ihn in die Seite. Konnte er nicht wenigstens versuchen, seine Bewunderung für die zweifelhaften Künste des Piratenkönigs zu verbergen? Wie konnte er in so einer Situation so begeistert klingen?

Dem Kapitän schien es zu schmeicheln. Er lächelte gönnerhaft, als wolle er Eric tatsächlich in sein Geheimnis einweihen und bekundete knapp: „Jahre lange Erfahrung" und mit einem abfälligen Blick auf Eric setzte er hinzu: „Da wirst du niemals hinkommen."

Ok. Er war ein Macho. Definitiv.

Und wir mussten hier weg. Schnellstmöglich.

Seine Worte von vorhin geisterten mir noch im Kopf herum. Rechtzeitig. Es klang wie eine Drohung und erzeugte einen grauenhaften Widerhall in meinem Kopf. Mein Instinkt sagt mir, dass uns die Zeit davon lief. Krampfhaft versuchte ich, mich zu erinnern, was er noch gesagt hatte. Wir sollten ein Geheimnis lüften. Das Geheimnis, weshalb wir hier sind. Nichts lieber als das. Ich legte meine Hand auf meine Brust, an die Stelle unter der das Astrolabium verborgen war und atmete tief ein.

Dann ließ ich Bea los und stand auf.

„Welches Geheimnis sollen wir lösen? Was genau willst du von uns?", fragte ich den Piratenkönig und trat einen Schritt auf ihn zu. Wir hatten keine Zeit für seine Spielchen und ich hatte keine Lust mehr, zuzusehen, wie er meinen Freunden weh tat und sie schikanierte.

Das Astrolabium unter meinem Pulli surrte. Ich fragte mich, ob die Anderen es hören konnten, sah sie aber nicht an. Mein Blick blieb auf den Piratenkönig gerichtet, der nun gemessenen Schrittes auf mich zukam.

Oje.


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