20. Oktober 2022: Es wird nass
Er war im Dunkeln verschwunden, einfach so.
Schon dieses angesichts der beängstigenden Lage, in der wir steckten, nebensächliche Detail, genügte um mich vollends aus der Bahn zu werfen.
Ich starrte auf die Stelle, an der bis eben der junge Mann in den edlen, antiquierten Klamotten gestanden hatte und versuchte angestrengt den Trick, der sich hinter diesem Kunststück verbergen musste oder überhaupt wenigstens irgendetwas von dem, das hier vorging zu begreifen.
Aber mein Hirn glich einer stehengebliebenen mechanischen Uhr, deren Räderwerk sich weigerte, flüssig ineinanderzugreifen, da das empfindliche Zusammenspiel aus Anker, Hemmung und Unruhe gravierend gestört war.
Denn so sehr ich mich an den Rettungsanker klammerte, dass eine Legende nur eine erfundene Geschichte war und ein darin vorkommender, verfluchter Piratenkönig nicht Knall auf Fall vor mir stehen konnte, so hemmte gleichzeitig eine tiefverwurzelte Unruhe in meinem Inneren jeglichen Versuch, die Geschehnisse logisch zu betrachten.
Diese extreme Unruhe, war wie ein Urinstinkt, eine Urangst, deren kalte Wurzeln aus meinem unteren Rückenmark zu kommen schienen und die nach mir griffen und meinen ganzen Körper in einer Art Schockzustand fest umklammert hielten.
Mir war, als sollte diese eiskalte Umklammerung mir deutlich zu verstehen geben, dass es sich hier um eine Gefahr handelte, die ich nicht unterschätzen durfte, auch wenn ich sie nicht mit meinem Verstand begreifen konnte.
Die Erinnerung an das große Segelschiff, das ich zeitiger am Abend in dem kleinen Hafen gesehen hatte und das genauso plötzlich in der Dunkelheit verschwunden war, wie eben der junge Mann, war das Einzige, dass mein Verstand in diesen Sekunden hervorzubringen im Stande war. Er spülte das Bild des riesigen Segelschiffes aus meinem Unterbewusstsein hervor, wie eine Meereswelle eine Muschel an den Strand spült und sie dann einfach da zurücklässt, um sich selbst wieder ins Meer zurückzuziehen.
Ich schüttelte leicht den Kopf, wie als Antwort auf das was in mir vor sich ging. Es gab zu viele Ungereimtheiten, die sich nicht als Einbildung abtun ließen und die das Getriebe in meinem Gehirn störten, wie kleine Steinchen das Räderwerk einer Uhr. Nur, dass es eben keine Steinchen waren, sondern ein mysteriöses Segelschiff, ein kurioser Spätshop und ein zwielichtiger Typ, der sich zunächst als Verkäufer und dann als Kapitän ausgegeben und sich überdies in Luft aufgelöst hatte.
„Holy Shit!" Eric hatte seine Stimme angesichts der Unmöglichkeiten, mit denen wir hier konfrontiert waren als Erster wiedergefunden.
Und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, denn ich war unfähig, es selbst in Worte zu fassen und hätte es gleichzeitig nicht besser auf den Punkt bringen können.
„Wie hat er das gemacht?! Habt ihr das gesehen?" Eric sprang auf seine Füße und starrte auf die Stelle, an der bis eben der junge Mann gestanden hatte. Er schien so begeistert, dass ich schon fürchtete, er würde Beifall klatschen. Jetzt waberten nur noch ein paar Staubkörnchen in der Luft herum, die von einer kleinen Petroleumlampe, die am Rand auf einer Holzkiste stand, erhellt wurde.
Er hat das Licht der Lampe wie einen Scheinwerfer für seinen eindrucksvollen Auftritt genutzt, dachte ich amüsiert, als das Räderwerk in meinem Kopf sich nun doch langsam wieder in Gang setzte.
„Jetzt ist es also keine Halluzination mehr?" Noah sah zu Eric, zog genervt die Augenbrauen hoch und stand ebenfalls auf. Es war offensichtlich, dass er wegen vorhin noch sauer auf seinen Kumpel war.
Eric zuckte gelassen mit den Schultern „Es ist auf jeden Fall krass. Das musst du zugeben."
„Kann mich mal einer kneifen?" Hannah hielt Christian ihren Arm hin. Doch der reagierte nicht, sondern starrte nur weiter auf die Stelle, an der der angebliche Kapitän verschwunden war. Seine Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht und gab seine seidigen schokobraunen Locken frei, doch er schien es nicht zu bemerken.
„Ich glaube, hier will uns jemand verarschen", sagte er und ignorierte weiter Hannahs Arm, die ihn wieder sinken ließ und mit einem leisen Seufzen aufstand.
„Das glaube ich auch", brummte Noah und zog Christian auf die Füße.
„Das ist alles deine Schuld!" Bea hatte sich ebenfalls hochgerappelt, strich sich den Staub von ihrem pinken Top und funkelte mich böse an. Ihre giftgrünen Augen schossen spitze Pfeile in meine Richtung. „Ich wette, Eric hat Recht und es hat mit diesem komischen Rum zu tun, den du angeschleppt hattest. Der war verdorben und jetzt liegen wir mit quälenden Halluzinationen im Krankenhaus." Sie fasste sich an die Stirn und verzog leidend das Gesicht. "Ich habe solche Kopfschmerzen."
„Hörst du dir selbst zu, wenn du so einen Quatsch redest?" Hannah fuhr zu ihr herum und zeigte ihr einen Vogel. „Ok, jetzt weiß ich wenigstens, dass das hier real sein muss. Du bist schließlich genauso lästig wie immer", ergänzte sie und verdrehte die Augen genervt Richtung Decke. Hannah reagierte sonst nie auf Beas Gezicke, sondern zeigte ihr meist die kalte Schulter. Jetzt war sie blass und ihre sonst so schönen Sommersprossen stachen fast kränklich von ihrem fahlen Teint hervor. Ihre moosgrünen Augen wirkten gestresst und hilflos.
Lisa strich sich die Tränen von den Wangen und schniefte laut. „Wo sind wir?", wollte sie wissen und fingerte automatisch an ihrem Fischgrätenzopf herum, der in Begriff war sich aufzulösen.
Ich hatte noch nichts gesagt und auch sonst keinen Ton von mir gegeben. Der Schreck steckte mir wie ein Kloß im Hals.
Auch wenn mein Verstand versuchte, sich dagegen zu wehren, so hatte ein Teil von mir, tief in meinem Bauch, die Situation bereits analysiert. Der Teil, der auch bei Gefahr reagierte. Und dieser Teil übermittelte nun seine Lösung an mein Gehirn. Es war wie eine Matheaufgabe, die nur ein einziges Ergebnis zulies: riesiges Segelschiff+merkwürdiger Laden+unheimlicher Typ = Übernatürliche Bedrohung. Mein Bauch zog sich so fest zusammen, wie er nur konnte und es schien, als wöllte er seiner Schlussfolderung damit mehr Nachdruck verleihen.
Unsicher sah ich zu meinen Freunden: Ihren Gesichtern war anzusehen, dass keiner von Ihnen verstand, was hier los war, dennoch sahen sich alle eifrig um.
Auch ich ließ meinen Blick schweifen. Im Beisein dieses Kapitäns war es unmöglich gewesen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als auf ihn. Es war sogar schwierig, auf seine Worte zu hören und sich nicht von seinen geheimnisvollen, onyxfarbenen Augen und seiner rauen, aber melodischen Stimme ablenken zu lassen. Was hatte er gesagt? ‚Willkommen auf meinem Schiff.'
Wäre das gleichmäßige Schwanken unter meinen Füßen nicht gewesen, hätte ich den riesigen Raum, der sich hallenartig um uns aufspannte für eine geräumige Lagerhalle gehalten.
Aber es passte alles perfekt zusammen: der Geruch nach Seetang, die schwankenden Holzdielen, der riesige dunkelschummrige Raum um uns herum, der durch nichts erleuchtet wurde außer, der kleinen Petroleumlampe und der vollgestopft war mit Kisten, Fässern, Truhen, Seilen und Tauen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser: Wir befanden uns in der Tat im Bauch eines großen Schiffes. Er hatte die Wahrheit gesagt.
Ein seltsames Kribbeln stieg aus meinen Fußsohlen in mir hoch. Der Gedanke, auf einem Schiff zu sein - und es musste ein großes Schiff sein, wenn schon ein einziger Raum, solche Ausmaße hatte,- ließ nie gekannte Abenteuerlust in mir prickeln, wie Kohlensäurebläschen in einem Glas Sekt.
Und wieder sah ich das gewaltige Segelschiff im Hafen vor mir.
Ich hatte schon so viele Geschichten vom Meer gehört, ohne es je gesehen zu haben, ohne je einen Fuß auf ein richtiges Schiff gesetzt zu haben. Mal abgesehen von den kleinen Ausflugsbooten auf der Müritz, aber die zählten nicht. Staunend sah ich mich weiter um.
Was hatte er noch gesagt?
„Wir müssen einen Ausgang finden", sagte ich laut, als ich die Antwort, trotz des verhakten Räderwerks in meinem Kopf gefunden hatte. Der Kloß im Hals war verschwunden, weggesprudelt von den kribbelnden Kohlesäurebläschen, der in mir aufsteigenden Erregung.
Aufgewühlt erforschte ich weiter die Umgebung. Es war dunkel. Der fahle, staubige Lichtschein der kleinen Lampe erreichte kaum die Ecken und die gestapelten Kisten warfen schwarze Schatten. So weit ich es erkennen konnte, sah ich weder einen Ausgang, noch eine Tür. Die Wände waren allerdings so vollgestellt mit Kisten, Truhen und Fässern, dass man überhaupt nicht sah, was sich dahinter verbarg.
„Ich möchte wissen, was er von uns will", auch Beatrice schien über den Kapitän nachzudenken. Aufmerksam sah ich sie an. Ihre froschgrünen Augen blitzten und ihr kirschroter Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Ich könnte mit ihm verhandeln, so hot wie der aussieht." Ich hielt es zunächst für einen Scherz, aber sie warf selbstsicher ihre glatten Haare über die Schulter zurück und wölbte ihr Rückgrat nach hinten. Mir blieb der Mund offen stehen.
Hannah neben mir kicherte leise. „Ja versuch's nur. Ich wette, er jagt dir ne Kugel durch den Kopf." Ihre Stimme klang zu schrill, dass war nicht Hannah, die ich kannte.
„Quatsch nicht rum! Hilf mit suchen!", raunzte Noah Bea an und lief großen Schrittes auf eine der mit Kisten vollgestellten Wände zu. Wieso klang der so sauer? Pah, er müsste doch wissen, was für eine Bitch Bea ist. Aber Recht hat er, wir sollten keine Zeit vertrödeln, sondern weiter suchen.
Da hörten wir es.
Zunächst war es nur ein Ploppen, wie wenn Wasser auf Holz tropft. „Plop..Plop...Plop.."
Doch kaum hatten wir das Tropfen gehört, wurde es zu einem Rauschen, wie als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht und kurz darauf standen wir mit unseren Schuhen schon in Pfützen, die in immer größerer Zahl den Boden des Laderaumes bedeckten und sich anschickten sich zu einem See zusammenzuschließen.
„Hier tritt Wasser ein!" Obwohl das mittlerweile mehr als offensichtlich war, freute ich mich, dass es mir gelungen war, mich zu artikulieren, denn oft genug blieben mir in solchen Situationen die Worte im Halse stecken.
„Wir werden sinken!", kreischte Bea entsetzt und kletterte auf eine Kiste um ihre Kunstleder Pumps, deren Spitzen sich schon dunkel verfärbt hatten vor der eintretenden Nässe zu schützen.
„Nein, vorher werden wir ertrinken." Christian sah sich um „Zumindest wenn wir hier nicht rauskommen und sich der Raum weiter mit Wasser füllt."
Alle wurden panisch. Mit großen Augen und hektischen Bewegungen sahen wir uns erneut um. Starrten in die Dunkelheit in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das wir vorher übersehen hatten. Wo war nur der verdammte Ausgang?
Aber die Antwort war so erschreckend wie einfach: Hinter jeder dieser Fässer, Kisten oder Truhen, die sich meterhoch um uns stapelten, könnte er verborgen sein.
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