20.Oktober 2022: Die Legende des Piratenkönigs
Als ich in unser Zimmer kam, war ich trotz der Kälte draußen total erhitzt. Klar, ich war den ganzen Weg zurück bis zur Jugendherberge gerannt, aber besonders hing mir noch die Begegnung mit dem seltsamen Verkäufer in diesem kuriosen Spätshop nach und ließ mich innerlich glühen.
Hannah und Lisa lagen auf Lisas Bett und schauten auf ihrem Tablet noch immer den Anime 'Fena: Pirate Princess'. Sie waren bereits bei Folge 4 angelangt. Ich liebte diesen Anime, da er vor Abenteuern und Meer nur so strotzte, schön gezeichnet war und Prinzessin Fena, mit ihrer sanften, gleichwohl abenteuerlustigen Art, schlichtweg bezaubert; hatte ihn aber schon komplett gesehen.
Hannah drückte nun auf Pause und drehte sich zur mir um. „Und? Hast du was bekommen?", fragte sie und sah dann auf ihre Armbanduhr. „Du warst ganz schön lange unterwegs", stellte sie fest.
„Ja. Es war schwer überhaupt einen Laden zu finden." Das war zumindest nicht gelogen. Es widerstrebte mir, meinen Freundinnen von dem komischen Spätshop und dem eigenwilligen Verkäufer zu erzählen. Ich meine, was gab es da schon groß zu berichten? Sie könnten es sich eh nicht vorstellen, so abgedreht, wie sich die ganze Atmosphäre dort angefühlt hatte. Oder hatte mir meine Fantasie am Ende nur einen Streich gespielt und ich hatte in alles zu viel reininterpretiert?
Ich war nicht sicher. Fest stand jedenfalls, dass ich diese Begegnung lieber für mich behalten wollte.
Ich ging hinüber zu dem kleinen Tisch, der vor dem Fenster stand, zog meine Jacke aus und stellte meinen Rucksack darauf ab. Die Flasche ließ ich noch drin, denn die Lehrer würden mit Sicherheit zur Kontrolle nochmal ihre Nasen zu uns ins Zimmer stecken.
Hannah schien mein Unbehagen nicht zu bemerken, denn sie fuhr fort: „Das kann ich mir denken. Dieses Kaff hier ist auch nicht viel größer als unseres. Bist du gerannt?", fragte sie und musterte mich aufmerksam. „Du bist so rot im Gesicht."
Mir wurde es noch heißer. „Äh, ja, draußen ist es ganz schön kalt und da es schon spät war, bin ich den ganzen Weg zurück gerannt. War Frau Haubold schon da?", fragte ich, um von mir abzulenken.
Lisa starrte prompt zur Tür und quietschte entsetzt: „Zum Glück nicht, sie hätte ja sonst noch bemerkt, dass du weg warst. Aber sie kommt sicher bald."
Also schlüpften wir in unsere Schlafanzüge, wissend, dass Frau Haubold bei ihrer Abendrunde darauf achten würde und kuschelten uns zu dritt in Lisas Bett um den Anime weiterzuschauen.
Nachdem Frau Haubold pünktlich um 22 Uhr ihren graumelierten Kopf mit der dunklen Hornbrille in unser Zimmer gereckt hat, um uns zu ermahnen, im Raum zu bleiben und alles auf Zimmerlautstärke zu belassen, und wir dies eifrig bejaht und dazu genickt hatten, legten wir das Tablet, kaum das sie weg war, eilig beiseite und sprangen aus dem Bett.
„Na dann zeig mal deine Beute!" Hannah öffnete meinen Rucksack und zog die Rumflasche heraus. "Mensch, krass!", rief sie und ich sah sie verwundert an. Sie machte sich sonst nie etwas aus Alkohol. Sie bemerkte meinen Blick, denn sie lachte: „Was Besseres hättest du für diesen Anlass nicht finden können, der wird definitiv Eindruck machen", versicherte sie und zwinkerte mir zu.
Irgendwie fühlte ich mich jetzt besser. Das Gefühl für sinnlosen Mist und dazu gehörte Alkohol für mich zweifelsohne, einfach so eine riesen Stange Geld ausgegeben zu haben, nagte noch an mir und belastete mich mehr, als ich es hätte zugegeben wollen.
Lisa zupfte sich ein paar Strähnen, die sich aus ihrem Fischgrätenzopf gelöst hatten, zurecht und kam dann ebenfalls hinzu, um die Flasche zu betrachten. „Ich dachte, du bringst Wein mit", sagte sie erstaunt. „Musstest du nicht deinen Ausweis zeigen?"
Stimmt! Daran hatte ich vorher gar nicht gedacht. Ich kaufte sonst nie Alkohol. Wozu auch? Jetzt kam mir dieser Laden gleich noch gruseliger vor. Und obwohl er mir nur verkauft hatte, wonach ich gefragt hatte, missfiel mir der Gedanke, dass der junge Verkäufer damit gegen das Gesetz verstoßen hatte. Aber es war ja auch mit meine Schuld gewesen.
Mein Blick fiel auf den im hellen Licht des Zimmers funkelnden Totenkopf, der die Flasche zierte und seufzte leise. Am Ende war es nur eine Flasche Rum, das war kein großes Drama wert, beruhigte ich mich in Gedanken, und zwar leider eine verdammt teure Flasche. Mir tat jetzt noch alles weh in dem Bewusstsein, dass ich 60 Euro dafür hingeblättert hatte. Wein wäre bestimmt günstiger gewesen.
Sicher hatte mir der Typ deshalb den Rum angedreht. In so einem beschaulichen Ort hatte der kleine Späti bestimmt nicht viel Kundschaft und erst Recht keine, bei der sich so leicht so viel Geld aus dem Geldbeutel locken ließ. Kein Wunder, dass er meinen Ausweis nicht hatte sehen wollen. Mir wurde immer wärmer, obwohl die Heizung aus war. Gott wie peinlich, ich hatte mich vor dem Blauhaarigem komplett zum Deppen gemacht!
Diesen merkwürdigen Laden würde ich nie wieder betreten. So viel war sicher.
Lisa strich unterdessen mit dem Finger über das Etikett. „Das Bild ist toll gemacht", schwärmte sie. „Der Totenkopf wirkt total plastisch und die Farbkombination des düsteren Etikettes mit der sanften Farbe des Rums in der Flasche gibt einen klasse Kontrast." Sie liebte Kunst und hatte für schöne oder außergewöhnliche Designs immer etwas übrig. „Auf dem Totenkopf ist sogar Glitzer aufgebracht", sagte sie nachdenklich und betrachtete erst die Flasche und dann ihre Fingerspitze, mit der sie über das Etikett gestreift hatte. Ich blinzelte. Glitzer? Auf dem Totenkopf? War mir vorhin gar nicht aufgefallen, aber in dem Laden war es ja auch viel zu schummrig gewesen, um deutlich etwas erkennen zu können.
„Hast du noch mehr mitgebracht?"Lisa zog schon die Dose mit den Pringels aus meinem Rucksack, verzog aber gleich das Gesicht „Hot und Spicy?" Ihr Tonfall und ihre hängende Unterlippe brachten ihren Jammer darüber deutlich zum Ausdruck. „Die Sorte mag ich nicht, die brennen im Hals." Sie sah mich aus ihren lichtblauen Augen anklagend an.
Ich blinzelte erneut und nickte betreten. Ich mochte auch keine scharfen Sachen. Warum hatte ich denn keine andere Sorte genommen? Sweet Paprika oder Sour Cream and Onion ? Arrgh, dieser Typ war echt ein Fluch!
„Ich dachte, wir probieren mal was Neues", meinte ich und hoffte, dass die Anderen mein Unbehagen nicht bemerken würden. „Zur Not trinken wir einfach etwas mehr, dann wird das schon gehen", unternahm ich den Versuch, es mir selbst schön zu reden.
Es war mir in diesem kleinen, schlecht beleuchteten Spätshop ohnehin schwergefallen mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf ihn mit seinen dunklen Augen, den leuchtend blauen Haaren und dem schönen Tattoo.
Nachdem wir uns wieder umgezogen hatten - keine von uns wollte im Schlafanzug rüber zu den Jungs gehen - vergewisserten wir uns ein letztes Mal, dass die Lehrer nicht mehr auf dem Gang unterwegs waren und schlichen mit dem Rum, den Pringels, der Schokolade, den Limetten, zwei Flaschen Cola und dem Spiel Kakerlaken Poker, das Lisa noch schnell aus ihrem Koffer gekramt hatte, rüber zum Zimmer der Jungs.
Kaum das wir davor standen, öffnete Eric die Tür, als hätte er schon auf uns gewartet. Sein rotschwarzkariertes Holzfällerhemd harmonierte mit seinen blassen Sommersprossen, die nur den oberen Teil seiner Wangen zierten und sein kantiges Gesicht, etwas weicher wirken ließen. Seine semmelblonden Strubbelhaare waren so kurz geschnitten, dass ihm nur die Spitzen in die Stirn fielen. „Herr Schreier ist gerade erst in seinem Zimmer verschwunden", informierte er uns flüsternd.
Lisa, die neben mir stand, schüttelte es bei dieser Information merklich. Sie zog ihr dünnes, rosa Bolero Jäckchen, das sie über den Schultern trug vor der Brust näher zusammen. Ihre größte Sorge war es, von den Lehrern erwischt zu werden. Schnell schlüpfte sie an Eric vorbei ins Zimmer. Hannah und ich folgten und Eric schloss leise die Tür hinter uns.
Die Jungs hatten ebenfalls zu dritt ein Viererzimmer. Sie hatten von den unteren Betten die Matratzen auf den Fußboden gelegt und Christian, der in einem dunkelblauen Sweatpulli steckte, dessen Kapuze fast sein ganzes schmales Gesicht verhüllte, schmiss von oben Kissen und Decken nach unten.
Noah saß auf dem Boden und wischte auf seinem Handy herum, sah aber auf, als wir eintraten und legte es neben sich ab. „Kommt rein", sagte er, obwohl wir ja schon drin waren.
Wir legten unser Mitgebrachtes in der Mitte der Matratzen auf dem Boden ab. Doch ich zögerte, mich neben ihn zu setzen. Etwas unschlüssig blieb ich mitten im Raum stehen. Gerade als ich den nötigen Mut gesammelt hatte, um mich neben Noah zu setzten, klopfte es hinter mir leise an der Tür.
Vor Schreck zuckte ich zusammen. Lisa versteckte sich schnell hinter mir. Alle Augenpaare waren auf die Tür gerichtet und jeder hielt die Luft etwas länger an bis zum nächsten Atemzug. War das etwa der Schreier? Würde der tatsächlich klopfen oder nicht in seiner ruppigen Art einfach die Tür aufreißen?
Ich überlegte noch, was ich für wahrscheinlicher hielt, als die Tür auch schon aufging. Zum ersten Mal war ich erleichtert Beas blondgefärbten Schnittlauchschopf und ihren karminroten Kussmund zu sehen und nicht die borstigen Koteletten und den grauen Oberlippenbart von Herrn Schreier. Ich hätte beinahe aufgeseufzt und auch Lisa ließ nun meinen Pulli, an den sie sich vor lauter Anspannung geklammert hatte, los.
„Habe ich euch erschreckt? Ihr steht hier wie bestellt und nicht abgeholt." Bea lächelte spöttisch und stolzierte ins Zimmer direkt auf Noah zu. Sie nahm für meinen Geschmack viel zu dicht neben im Platz. Gut. Damit hatte sie mir meine Entscheidung abgenommen.
Ich setzte mich neben Hannah, gegenüber von Noah und Beatrice und lehnte mich mit den Rücken ans Bett. Christian kam von oben runter und setzte sich rechts neben mich und Lisa nahm links neben Hannah Platz. Eric setzte sich auf die andere Seite, neben Noah.
Ich wunderte mich, warum Bea ohne ihre Freundinnen hier war, traute mich aber nicht danach zu fragen. Hannah hatte anscheinend den gleichen Gedanken, aber weniger Hemmnisse: „Wo hast du denn dein Gefolge gelassen?", fragte sie und sah Bea aus ihren grünen Augen neugierig an. Sie musste nicht näher spezifizieren, wen sie meinte, da alle ohnehin Bescheid wussten.
„Die schauen lieber Bridgerton, als mit euch abzuhängen", erwiderte Bea ohne den Vorwurf, der in ihrer Stimme lag zu kaschieren.
'Es zwingt dich ja keiner dazu, hier zu sein' dachte ich und spürte den Ärger aus meinem Bauch den Hals hochsteigen.
„Also wenn du lieber woanders wärst, kannst du gern abziehen", entgegnete Eric trocken und mit einem Blick, der deutlich ausdrückte, dass er keinen Bock auf Zickenterror hatte. Christian neben mir feixte leise hinter seiner Kapuze und Noah, der sich schon das Spiel geschnappt hatte und auf der Rückseite der kleinen Schachtel begonnen hatte die Beschreibung zu lesen, sah Bea ausdruckslos an.
Die wurde unter ihrer dick aufgetragenen Foundation sichtbar rot. „Ach schon gut, ich habe die Staffel ja schon gesehen." Sie wedelte mit der Hand in der Luft, wie als wollte sie eine Fliege verscheuchen, dann fragte sie mit Blick auf das Spiel, das wir mitgebracht hatten und das Noah in seinen Händen hielt: „Aber wir spielen keine Kinderspiele, oder? Wie wäre es stattdessen mit Flaschendrehen?"
Ihr grüner Giftblick heftete sich an Noahs volle Lippen.
Oje, Flaschendrehen. Ich hasste solche Partyspiele und mir wäre angesichts Beas Gehabe und der Aussicht auf dieses verhasste Spiel sicher übel geworden, wenn nicht die Erinnerung an ein paar superweiche Lippen mir ein sanftes Kitzeln in den Bauch gezaubert hätte.
Noah hatte mich letztes Jahr (aus welchem Grund auch immer) auf seine Geburtstagsparty eingeladen und da ja anscheinend keine Party ohne diese dämlichen Spiele auszukommen scheint, wurde auch damals fleißig an der Flasche gedreht. Als es dann schlussendlich um einen Kuss ging, hatte ich aber leider nicht das Glück Noah als Partner zu bekommen, sondern der langgezogene Flaschenhals zeigte schließlich auf Christian.
Ich würde jede Wette eingehen, dass es das bestgehütete Geheimnis des Joliot-Curie-Gymnasiums war, dass Christian so weiche, sanfte Lippen hat. Ich sah verstohlen zu ihm rüber und auch er musste zu mir gesehen haben, denn er sah nun schnell weg. Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er dieses Ereignis schon lange wieder vergessen hatte, aber anscheinend war dies nicht der Fall.
Tja, wie dem auch sei, ich wollte das Ganze trotzdem nicht wiederholen. Ich hasste diese Art von Spiele wie die Pest.
Noah schnalzte mit der Zunge. „Tja, dafür sollten wir erstmal eine Flasche leer machen, meint ihr nicht?" Er lehnte sich vor und griff nach der Rumflasche. „Die ist doch nice." Er zog erstaunt eine Augenbraue hoch, als er das Etikett betrachtete. "Der Totenkopf ist mega."
Christian und Eric lehnten sich vor, um einen Blick darauf zu werfen.
„Hast du den aus eurer Kneipe?" Christian warf mir über seine Schulter einen fragenden Blick zu. Seine eisblauen Augen leuchteten unter der Kapuze und seine braunen, seidig glänzenden Haare, lugten unter ihr hervor, als wollten sie sich, trotz seiner Bemühungen sie zu verstecken, um jeden Preis zeigen.
„Nein. Die ist von hier", sagte ich knapp und hoffte, dass niemand weiter nachfragen würde.
„Na dann lasst uns den guten Tropfen mal probieren." Noah öffnete im Handumdrehen die Flasche und Eric reichte ihm Plastikbecher. Noah goss sich als Erstes ein und zwar nicht zu knapp. Sein Becher war schon mehr als halb voll, als Eric ihm die Flasche mit einem „Hey, wir wollen auch noch was!", aus der Hand riss. Ein Aroma, das mich entfernt an das Plätzchenbacken zu Weihnachten erinnerte, entrömte der Totenkopfflasche. Doch der Duft war herber als der Geruch der legendären Schoko-Rum-Plätzchen meiner Mutter.
Ich sah, wie Eric die goldene Flüssigkeit in die Becher goss und erinnerte mich an die Worte, die mir der Junge mit den geheimnisvollen braunen Augen im Spätshop mit seiner ozeangleichen Stimme zugeraunt hatte: ‚Du kannst ihn mit frischem Limettensaft, einigen Spritzern Zitronensaft, Zuckersirup, Eiswürfeln und Minzblättern mixen und heraus kommt ein fruchtiger Zauber, den du nie vergessen wirst.' Ich schluckte erneut bei dieser Erinnerung, aber der Geschmack, der sich nun in meinem Mund bildete, war nur ein fader Abklatsch von dem intensiven Geschmackserlebnis, das ich in seiner Gegenwart verspürt hatte.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, um den Gedanken abzuwehren, wahrscheinlich ging meine Fantasie nur wieder mit mir durch. Schnell streckte ich die Hand nach vorn. „Das reicht", sagte ich, denn Eric hatte, für meinen Geschmack, schon viel zu viel in meinen Becher gegossen.
Bedröppelt stellte ich fest, dass dieser bis fast zu einem Viertel mit Rum gefüllt war. Ein knapp bedeckter Boden hätte mir doch schon genügt. Bevor ich mich jedoch darüber beschweren konnte, wurde ich abgelenkt.
Noah lehnte sich zu mir und streckte mir seinen Becher entgegen, offensichtlich wollte er anstoßen. Sein bezauberndes Lächeln und die strahlenden grünen Augen, verhinderten, dass ich Hannah die Hälfte meines Rums anbot, denn jetzt wollte ich einfach die Chance nutzen, die sich mir bot.
„Der ist was Besonderes, das riecht man schon", raunte er mir zu, während er sich noch weiter zu mir lehnte. „Wenn du meinst. Ich kenne mich da nicht so aus", nuschelte ich schüchtern. Hoffentlich war er das! Immerhin hatte er mich 60 € gekostet!
Als ich den schmalen weißen Plastebecher mit der gerillten Oberfläche dann an meine Lippen führte, stieg mir das intensive Aroma direkt in die Nase. Es roch köstlich. Vorsichtig nippend, wappnete ich mich gegen das Brennen im Mund. Zu meiner Überraschung blieb dies aber aus und erst beim Schlucken, ganz weit hinten im Hals, spürte ich das, für hochprozentigen Alkohol typische Brennen, das von dem wahrhaft betörenden Geschmack jedoch locker wieder wettgemacht wurde.
Der Rum roch und schmeckte total intensiv. Intensiv wie der Typ aus dem Spätshop. Mit seinen atlantikblauen Haaren, dem flammenden Blick und dem dämonischen Lächeln.
Ich entschied mich dazu, es langsam angehen zu lassen und goss noch Cola und ein paar Spritzer Limettensaft in meinen Becher. Die Cola schäumte im Glas hoch und die kleinen Bläschen sprudelten gegen meine Nase, die ich immer noch nah am Becher hielt, um das tolle Aroma zu riechen.
Der süßlich klebrige Coladuft legte sich zunächst über das Rumaroma, wie Kaugummipapier um eine edle Nougatpraline. Und doch stellte ich beim nächsten Schluck erstaunt fest, dass vom vorzüglichen Geschmack des Rums nichts verloren gegangen war. Die Cola ergänzte diesen unterschwellig und nahm ihm durch ihre vielen Süßstoffe und die Kohlensäure auf prickelnde Art sanft die Schärfe.
Während ich an meinem Becher nippte, breitete sich eine angenehme Wärme von meinem Hals bis in meinen Bauch aus und strömte von dort langsam in den Rest meines Körpers. Und mit der sich in mir ausbreitenden Wärme, kam mir das Bild einer mit schwarzgrauer Tinte gezeichneten Seekarte und einer aus einem starken Handgelenk entspringenden, feingliedrigen Rose in den Kopf. Doch bevor ich mich in diesen Erinnerungen verlor, unterbrach Erics Stimme meine Gedanken und löste die Bilder in meinem Kopf auf.
„Und wie funktioniert das nun?" Eric hatte sich das Spiel geschnappt und hob den Deckel ab. Lisa strahlte ihn an, denn es war ihr absolutes Lieblingsspiel. „Das ist Kakerlakenpoker. Ein Bluff Spiel - wer durch gutes Bluffen den Anderen das meiste Ungeziefer unterjubeln kann gewinnt", erklärte sie fröhlich.
„Bluffen kann ich gut." Eric griff nach den Karten.
„Wer zuerst vier Tiere der gleichen Sorte angedreht bekommen hat, verliert", fasste Lisa den Ausgang des Spiels knapp zusammen, nachdem sie die Regeln erklärt und die Karten an alle verteilt hatte.
Wir hatten erst ein paar Runden gespielt, als sich schon deutlich herauskristallisierte, wem es leicht fiel, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen, wer es schaffte sich nie in seine Karten oder hinter seine Fassade blicken zu lassen, und wer trotz angestrengtester Bemühungen um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck immer beim Flunkern ertappt wurde.
Und so sammelten Christian und ich schneller Karten als Noah und Eric ihre Becher leeren konnten.
Noah, Lisa und Eric schlugen sich erstaunlich gut und selbst Bea hatte nach ihrer anfänglichen Skepsis dann schnell ihren Spaß und konnte es nicht lassen mir eine Kakerlake oder Stinkwanze nach der anderen anzudrehen.
Christian und ich hatten schon bald beide von jeweils zwei Tierarten drei Karten vor uns liegen. Derjenige, der als erster seine vierte Karte bekommen würde, hätte verloren.
Noah hielt mir nun eine Karte verdeckt vor die Nase: „Eine kleine Fliege für dich", meinte er und ich versuchte angestrengt in seinem Blick zu erkennen, ob er die Wahrheit sagte oder ob er mich anlog und sich auf der Rückseite der Karte ein anderes Tier verbarg.
Ich sah in seine grünen Augen mit den bräunlichen Sprenkeln und konnte außer blanker Schönheit absolut nichts darin erkennen. Schnell nahm ich noch einen Schluck aus meinem Becher und versuchte es mit einer anderen Strategie.
„Ich gebe die Karte weiter", entschied ich und schnappte sie mir schnell. Als ich sie umdrehte, hätte ich fast aufgestöhnt. Es war ein Skorpion. Na toll, hätte ich ihm geglaubt - und das hätte ich fast getan, hätte ich den Skorpion nehmen müssen und damit verloren, da ich bereits drei Skorpione vor mir liegen hatte.
Christian hatte ebenfalls schon drei Skorpione, aber auch schon drei Fliegen. Christian, es tut mir leid, aber das muss jetzt sein, gegen die anderen hätte ich ohnehin keine Chance. Mit bemüht starrer Miene schob ich ihm die verdeckte Karte zu und sagte mit neutraler Stimme: „Stimmt, eine Fliege."
Er strich sich die Kapuze vom Kopf, in der Hoffnung, dadurch eine bessere Sicht auf mich zu haben und studierte mein Gesicht. Dann nickte er langsam.
„Ja, das ist eine Fliege", bestätigte er und ich merkte wie meine Mundwinkel sich immer mehr meiner Kontrolle entzogen und nach oben wanderten.
„Yippie!", quietschte ich und drehte triumphierend den Skorpion um. Noah lehnte sich grinsend zurück und Christian hob ergeben die Hände. „Ok, Leute ihr habt mich."
Seine Wangen glänzten leicht rosa, und er rappelte sich hoch und fragte in die Runde: „Ist euch eigentlich auch so warm?" In Socken tappte er zum Fenster und kippte es an.
Ja, mir war auch warm und ich war froh um das kalte Lüftchen, das nun aus der Dunkelheit von draußen zu uns hereinwehte. Der eiskalte Luftzug streifte meine erhitzten Wangen und ließ mich leicht frösteln.
Obwohl das Zimmer auf der dem Meer abgewandten Seite des Gebäudes lag, hörte ich es laut und deutlich rauschen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich meinen können, die Wellen schwappten draußen direkt an die Hauswand und die Gicht schäumte daran hoch.
„Wie wäre es jetzt mit der Geschichte?" Noah schnappte sich ein Kissen und Bea lächelte zufrieden, denn sie nahm wohl an, dass er es ihr reichen würde, stattdessen stopfte er es sich in den Rücken und streckte die Beine lang aus.
„Ja! Eine Spannende!", stimmte Eric zu und goss sich und Noah nochmal vom Rum nach. Wieder hing das schwere, intensive Aroma in der Luft.
„Also gut", ich nippte nochmal an meiner Rum-Cola, rutschte mich ebenfalls auf meinem Platz so zu Recht, sodass ich bequem sitzen konnte und fing an zu erzählen:
„Ihr habt sicher schon von den Geschichten um die bekannten Piraten Klaus Störtebecker, Francis Drake, Kapitän Morgan, Captain Kidd oder Blackbeard, gehört, doch so gefürchtet sie auch waren"- ich machte eine Pause und sah in die Runde, „es gab einen Namen, der sie alle überstieg."
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Das Geräusch des tosenden Meeres erfüllte den Raum und der kalte Windzug zog durchs Zimmer und sorgte dafür, dass Hannah und Lisa sich in die dicken Steppdecken huschelten und Bea näher an Noah heranrückte.
Ich lehnte mich an Hannah, die ihre Decke mit über mich ausbreitete und fuhr fort:
„Kim Hongjoong. Er war der letzte und bedeutendste Piratenkapitän des goldenen Zeitalters. Er galt als der unbestrittene König der Seeräuber - ein furchtloser und überragender Seemann und zugleich der mächtigste und grausamste Pirat, den die Welt je gesehen hat. Er soll für seine Grausamkeiten sogar verflucht worden sein."
„Ein Fluch?", fragte Eric mit einem Funkeln in den Augen. „Erzähl uns davon!" Gierig setzte er den Becher an und soff ihn in einem Zug leer. Er wäre auch ein guter Pirat gewesen, dachte ich amüsiert und nickte als Antwort auf seine Bitte.
„Doch im Gegensatz zu anderen Piraten, war Kapitän Kim Hongjoong kein Seebär mit verfilztem Bart und Holzbein, nein, sein Auftreten hatte stets etwas aristokratisches, königliches. Seine Vorliebe für elegante Kleidung stellte er selbst in der Schlacht zur Schau. Er trug immer zwei Paar Pistolen, in einem seidenen, über die Schulter geschlungenen Gurt, sowie ein scharfes Entermesser mit vergoldetem Griff, seine bevorzugte Waffe."
Beatrice setzte sich aufrecht hin und schien nun doch ganz bei der Sache zu sein.
„Zunächst bekannt als der Schrecken des Südchinesischen Meeres, beherrschten er und seine Männer schon bald die komplette Südsee.
Sie waren gefürchtet auf allen Ozeanen dieser Welt, auf allen Inseln und in allen Küstenstädten, denn Sie kamen wie die Phantome aus dem Nichts, griffen an, plünderten und verschwanden wieder.
So kaperte der Piratenkönig mit einer einzigen Schaluppe, die mit 10 Kanonen bestückt war, 22 Galeonen, die in einer Bucht vor Anker lagen. Seine Mannschaft, bis an die Zähne bewaffnet und kampferprobt, enterte und plünderte ein Schiff nach dem anderen, während die verängstigten Mannschaften der ankernden Schiffe in die Rettungsboote flüchteten und an Land ruderten. Kapitän Kim versenkte alle Schiffe bis auf eines, das er benötigte, um seine Beute fortzubringen.
Den unglücklichen Seelen, die den Piraten in die Hände fielen, schnitten sie die Ohren ab, fesselten sie an den Mast, um sie als Schießscheiben zu benutzen, peitschten sie zu Tode oder begingen noch andere Abscheulichkeiten an ihnen.
Hongjoongs Flotte war derart schlagkräftig und gefürchtet, dass selbst Marineeinheiten, die zu seiner Ergreifung ausgesandt worden waren, beim Anblick seiner Flagge das Weite suchten.
Doch er war kein Unhold oder Trunkenbold, denn obwohl die Piraten im Kampf ihrer Mordlust freien Lauf ließen, herrschte auf seinem Schiff strenge Disziplin: Er verbot seinen Männern zum Beispiel das Spielen um Geld. Man erzählt sogar, dass er selbst nie einen Tropfen Alkohol trank, sondern als Befehlshaber Tee dem Rum vorzog, um stets einen kühlen Kopf zu bewahren."
Eric schüttelte den Kopf und schenkte sich mit betretener Miene nach. Doch ich fuhr unbeirrt mit meiner Erzählung fort:
„In einem Hafen, in dem 42 portugiesische Schiffe beladen worden, suchte sich Hongjoong das größte und mit 40 Kanonen bewaffnete Schiff des Admirals aus und segelte mit solcher Unverfrorenheit mit nur einem kleinen Schiff darauf zu, dass seine Männer bereits an Bord waren, bevor die Portugiesen überhaupt begriffen, wie ihnen geschah.
Die Piraten erbeuteten einen beträchtlichen Gold- und Silberschatz und waren verschwunden, ehe die anderen Handelsschiffe oder gar die Marine eingreifen konnten.
Nach jedem seiner Streifzüge, quollen die Laderäume von Hongjoongs Schiffen über vor Beutegut, oft nahm er gekaperte Schiffe mit, nur um die erbeuteten Schätze zu seinem Versteck zu transportieren."
Die anderen sahen mich mit glänzenden Augen an, niemand rührte sich und so fuhr ich fort:
„Um das Versteck des Piratenkönigs ragten sich bereits seinerzeit viele Legenden und Mythen. Man erzählte sich, dass er seinen Schatz auf der Teufelsinsel versteckte.
Nur ein einziges Mal soll es einer Schiffsbesatzung gelungen sein, diese Insel zu finden. Sie fanden einen so großen Schatz vor, dass sie nur einen kleinen Teil desselben auf ihre Schiffe laden konnten und damit davon segelten. Doch der Piratenkönig schwor Rache und verfolgte die Räuber."
Ich machte eine Pause. Mein Mund war trocken und ich nahm einen Schluck von meiner Rum-Cola um ihn zu befeuchten. Die anderen hingen wie gebannt an meinen Lippen. Es war mucksmäuschenstill im Raum, nur das Meer rauschte laut und brausend auf, wie als fordere es, dass ich weiter erzähle.
Ich setzte meine Geschichte fort:
„Natürlich konnten die Räuber nicht entkommen, denn es war unmöglich, dem Piratenkönig und seiner nach Rache dürstenden Mannschaft zu entgehen. Er stellte sie schließlich auf einer kleinen Insel in der Südsee.
Dort kam es zum Kampf und obwohl die Piraten zahlenmäßig überlegen waren, gelang es den Räubern mit Hilfe der Einheimischen und eines spanischen Priesters sie erfolgreich zurückzuschlagen, indem sie die örtlichen Besonderheiten der Insel, geschickt für sich zu nutzen wussten.
Gleichwohl gab Hongjoong nicht auf. Er schwang sein Entermesser und metzelte einen Räuber nach dem anderen erbarmungslos nieder.
Doch der spanische Priester war gewieft. Er lockte den Piratenkönig in die Kirche des kleinen Städtchens, die eine massive Wehrkirche war. Dort stellte man ihm einen Hinterhalt und ein Hagel brennender Pfeile ging auf ihn und seine Männer nieder. Die ganze Kirche stand binnen weniger Augenblicke lichterloh in Flammen. Inmitten des lodernden Feuers belegte der spanische Priester den Piratenkönig mit einem Fluch.
Als ihn der Tod ereilte, soll Kapitän Kim eine karmesinrote Damastweste und Kniehosen, einen roten mit Federn geschmückten Hut und eine Silberkette mit einem mit Diamenten besetzten Kreuz getragen haben."
Meine Stimme wurde zum Ende der Geschichte immer schwächer und ich fühlte mich zusehends benebelt. Das Rauschen des Meeres kam mir noch lauter vor als zuvor und hallte regelrecht hinter meiner Stirn nach. Ich wollte meinen Kopf heben, um nach den Anderen zu sehen, aber mein ganzer Körper fühlte sich bleiern an und ich bekam meine Augenlider nicht mehr auf. Sie waren schwer wie Gewichte und hingen aneinander, fast wie verklebt.
Und dann schien ich zu schweben, zu treiben. Umgeben von Wellen im tiefschwarzen Meer.
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