20. Oktober 2022: Die Busfahrt
Als der große, schwarze Reisebus endlich da war und alle Koffer und Reisetaschen hinter der Gepäckklappe im Laderaum verschwunden waren, gab es beim Einsteigen ein ziemliches Gedrängel.
Die Plätze ganz hinten und ganz vorne waren am schnellsten besetzt.
Lisa, Hannah und ich erwischten zwei Zweiersitze direkt hintereinander im mittleren Teil des Busses. Das gefiel mir, denn so waren wir weit genug weg von den Lehrern, die natürlich ganz vorn saßen und wurden trotzdem nicht so doll durchgeschüttelt, wie hinten auf der letzten Reihe. So würde Lisa die Fahrt hoffentlich überstehen, ohne sich übergeben zu müssen.
Lisa saß am Fenster und ich neben ihr am Gang. Hannah saß hinter uns und kam mit ihrem Kopf ganz nah an den Schlitz zwischen den Sitzen, sodass wir gut miteinander plaudern konnten.
Lisa winkte ihren Eltern und drückte sich dabei fast ihre zarte, kleine Stupsnase an der Scheibe platt. Sie hatte genauso butterblondes Haar wie ihre Mutter, nur war ihres im Gegensatz zu dem ihrer Mutter, kein wüster Lockenberg, sondern ganz akkurat zu einem Zopf geflochten. Ich staunte jedes Mal, wie viele Flechtvarianten Lisa drauf hatte. Heute hatte sie sich einen tollen Fischgrätenzopf geflochten, in dem jede einzelne Haarsträhne ordentlich an ihrem Platz war und nirgends ein Härchen hervorlugte, wo es nicht sein sollte. Meine Haare waren hingegen so störrisch, dass noch nicht mal ein Zopf sie hätte bändigen können. Daher sparte ich mir die Mühe und raffte meine widerspenstigen, dicken, kastanienbraunen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. So auch heute. Ich konnte über Lisa hinweg einen Blick auf meine Mutter erhaschen, die tatsächlich bis zu letzt geblieben war. Ein Taschentuch zum Winken hatte sie aber zum Glück nicht in der Hand.
„Hallo an Bord Kinners!", ertönte nun aus den Lautsprechern über uns die laute und poltrige Stimme des Busfahrers. „Bevor es gliecks los geht, habe ich kurz was zu schnacken. Aber nun mal eins nach'm anderen. Dat Klo bleibt zu, dat riecht sonst nach Jüüch. De Müll bitte mit raus nähmen, wenn wir Pause machen." Dann erklärte er in seinem breiten Dialekt noch, dass wir die Klimaanlage über unseren Köpfen regeln können und uns während der Fahrt anschnallen sollen, aufgrund der bestehenden Gurtpflicht. Kaum hatte er das mit der Klimaanlage erwähnt, gingen fast alle Hände nach oben und jeder fummelte an seinem Gebläse herum, den Gurt legte hingegen trotzdem niemand an.
Als es dann endlich losging, kramte ich meine Kopfhörer aus dem Rucksack, um mir meine K-Pop-Playlist an zu machen. Ich fragte Lisa, ob sie mithören wolle, aber sie wollte lieber Shawn Mendes hören.
Bei Shawn Mendes musste ich an Noah denken, mit diesen dunklen Locken und dem eher schmalen Gesicht mit der geraden Nase, sahen sich die beiden unglaublich ähnlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich meinen können, sie seien miteinander verwandt. Ich ließ mich also umstimmen und lauschte zusammen mit Lisa dem eingängigen Liebes-Schnulzen-Pop von Shawn Mendes und mein Herz und meine Stimmung hüpften mit zum Beat. Meine Augen suchten ganz von alleine immer wieder Noah. Der saß zufällig schräg vor mir, über den Gang. Seine Kumpels Christian und Eric saßen auf der anderen Seite des Gangs genau neben mir und Lisa. Sie zockten irgendwas auf ihren Handys. Und Noah drehte sich immer wieder zu den beiden um und sie lachten dann.
Saß Beatrice neben ihm? Ich konnte es nicht sehen. Jetzt spielte er jedenfalls die ganze Zeit mit seinem Handy. Ich sah mich möglichst unauffällig von meinem Platz aus im Bus um, konnte Bea aber nirgends entdecken. Wenn sie wirklich neben ihm sitzt, scheinen sie sich zumindest nicht viel zu sagen zu haben. Vergnügt lauschte ich weiter den Liedern von Shawn Mendes.
Als Shawn in meinem Ohr mit seiner butterweichen Stimme aber „If I can't have you" anstimmte, wurde es mir zu viel. Ich nahm den Kopfhörer aus meinem rechten Ohr und gab ihn Lisa, die mich mit großen Augen ansah „Gefällt's dir nicht?", fragte sie. „Doch" sagte ich „aber ich höre jetzt erstmal meine Musik."
Ich suchte mir als erstes „Pink Venom" von Blackpink raus. Das sollte mich auf andere Gedanken bringen und von Noah ablenken, jedoch hatte ich bei Pink Venom dann ständig Bilder von Bea im Kopf, in ihren viel zu knappen, pinken T-Shirts.
So gechillt wie die Fahrt begonnen hatte, blieb es dann leider nicht die ganze Zeit.
Als wir nach der, nach zwei Stunden Fahrt vorgesehenen, Pause an einer Raststätte, alle wieder zurück im Bus waren und uns der Busfahrer wieder mit seinem breitem Dialekt begrüßte „Joou, seids alle wieda daa, Kinners", hörte ich Ryans blöde Feixe von hinten: „Der klingt ja fast so wie Iliana's schrulliger Großvater."
„Ja, wie Kapitän Blaubär", witzelte jetzt auch Klaas neben ihm und Ryan sagte hämisch: „Na eher wie Hein Blöd!"
Da ich meine Musik noch nicht wieder in den Ohren hatte, bekam ich ihre Worte voll mit und sie trafen mich mehr, als ich es hätte zugeben wollen. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, doch ich spürte einen dicken Kloß im Hals.
Ich griff nach meinem Anhänger, den ich immer trug, mein Markenzeichen sozusagen, ein altes Astrolabium an einem Lederband, das ich von meinem Opa geschenkt bekommen hatte, wie um mich daran festzuhalten.
Es lag früher in seiner Schrankwand im Wohnzimmer in einer alten, mit Schnitzereien verzierten, kleinen Holzschatulle. Schon als kleines Mädchen war ich so davon fasziniert, dass ich jedes Mal das kleine Holzkästchen herausholte und das Astrolabium bestaunte. Zu meiner Jugendweihe hatte er es mir dann geschenkt. Und seitdem trug ich es jeden Tag, an einem einfachen Lederband befestigt, um meinen Hals.
„Hein Blöd seid ja wohl eher ihr!", zischte Hannah nach hinten. „Und zwar im Doppelpack!", fügte sie noch hinzu. Auf Hannah war verlass. Ihre grünen Augen funkelten und sie warf angriffslustig ihre ahornroten Haare zurück, die sie wie immer einfach offen trug. Hannah hatte auch die kleinste Reisetasche von uns Dreien dabei; sie kam mit noch weniger Sachen und Kosmetik aus als ich. Sie war aber auch eine echte Naturschönheit. Ihre kleinen Sommersprossen setzten so fröhliche Akzente auf ihren hellen, makellosen Teint, das würde jedes Make-up nur zunichtemachen.
„Was denn? Die beiden haben doch Recht", hörte ich nun eine Stimme, auf die ich gern verzichtet hätte. Beatrice lehnte sich Richtung Gang, um mir aus ihren froschgrünen Augen einen gehässigen Blick zuzuwerfen. Sie lehnte sich dabei über Noah und legte wie selbstverständlich ihre Hand auf sein Knie. Ihre blondgefärbten, geglätteten Haare, bei denen man immer einen dunklen Ansatz sah, streiften Noahs Brust.
Ich wusste nicht, was schlimmer war, dass Bea tatsächlich die ganze Fahrt neben Noah gesessen hatte oder die Worte unserer beiden Klassen-Vollpfosten von der letzten Reihe, die generell nur was zu sagen hatten, wenn sie auf jemandem herumhacken konnten.
„Dein Opa erzählt doch jeden Abend so quatschige Piraten- und Seemannsgeschichten. Das ist doch wirklich lächerlich!" Bea schürzte ihre karminrot geschminkten Lippen. Sie konnte echt nicht aufhören, wenn sie einmal angefangen hatte. Eigentlich passte sie viel besser zu Ryan oder Klaas, als zu Noah. Aber der eine war ihr wohl zu dick und der andere zu pickelig im Gesicht.
"Ja. Die sollte er besser im Altenheim erzählen, da bekommen die Omas sicher feuchte Baumwollschlüpper." Das Grinsen von Ryan war genauso ekelhaft, wie sein dämlicher Spruch.
Klaas kicherte: "Der Jack Sparrow des Seniorenheims."
„Echt? Dein Opa erzählt Piratengeschichten?", fragte Noah nun neugierig. Zum Glück ging er nicht auf die Sprüche der beiden Idioten ein und verzichtete darauf, auf die gemeinen Hänseleien noch eine Schippe draufzusetzen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Er sah mich mit seinen umwerfend grünen Augen an. Ich wäre am liebsten unter meinen Sitz gekrochen oder hätte mich in der kleinen Klokabine, die an Bord war, für den Rest der Fahrt verschanzt, so unwohl fühlte ich mich.
Ich merkte richtig, wie mir heiß wurde.
„Ja, das sorgt aber immer für reichlich Stimmung, nicht wahr Iliana?", kam mir Christian unerwartet zur Hilfe. Ich konnte nur nicken und sah ihn dankbar an. Er war mit seinen Eltern öfters bei uns zu Gast.
„Ach, man erzählt sich doch im ganzen Dorf, dass dein Opa langsam verrückt wird!" Bea wollte echt nicht lockerlassen und mich zünden. „ER IST NICHT VERRÜCKT!," fauchte ich sie an.
"Nein, wahrscheinlich will er mit diesen Märchen nur den Umsatz ankurbeln in eurer runtergekommenen Kaschemme! Aber so viel Rum kann man gar nicht trinken, um diesen Piratenschwachsinn zu glauben." Bea war echt eine Hexe.
Ich war den Tränen nah.
Auf meinen Opa wollte ich nichts kommen lassen. Er war der liebste Mensch auf dieser Welt und ich liebte seine Geschichten. Sie steckten voller Abenteuer, Gefahr und Geheimnisse und seine klaren, blauen Augen funkelten beim Erzählen und ließen bei mir nie einen Zweifel aufkommen.
Nicht am Wahrheitsgehalt der Geschichten, da war sicher so manches Seemannsgarn dabei, sondern an der Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit meines Großvaters. Er hatte diese Geschichten schon von seinem Opa erzählt bekommen und dieser wohl schon von seinem. „Diese Geschichten gehören zur Familie Damper wie gutes Essen und ein guter Tropfen", sagte Opa immer mit einem Augenzwinkern. Außerdem passten sie zu unserem alten Haus, zu der kleinen Gaststätte und ganz allgemein in unseren Landstrich, auch wenn unsere Kleinstadt ein Stück vom Meer entfernt lag.
Aber Bea würde das nicht verstehen. Sie war erst vor drei Jahren mit ihren Eltern aus Berlin hergezogen. Ihr Vater war Anwalt und immer so stocksteif in seinen grauen Anzügen, da war es kein Wunder, dass sie und ihre Familie mit den alten Seemannsgeschichten nichts anfangen konnten. Ich denke, ihre Eltern haben ihr bestimmt auch nie vorgelesen, als sie klein war.
„Vielleicht kannst du uns ja abends mal so eine Geschichte erzählen?", meinte Noah jetzt und haute mich damit fast aus den Turnschuhen. Hieß das jetzt, dass er wirklich einen Abend mit mir verbringen wollte?
„Ja, dann aber eine richtig gruselige!", mischte sich Eric ein. „Mit Mord und Totschlag und so!"
„Äh klar", hörte ich mich sagen und meinte eigentlich das Gegenteil, aber es entging mir nicht, dass Bea genervt ihre Augen verdrehte. Und als sie sich frustriert auf ihren Sitz zurückfallen ließ und damit wieder aus meinem Blickfeld verschwand, lächelte ich. Das war wohl anders verlaufen, als von Bea beabsichtigt. Na, geschieht ihr ganz Recht.
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