Der Rubix
In seinen Händen hielt er einen Rubix. Er drehte und verdrehte ihn, aber er konnte ihn nicht lösen. Der verschachtelte Rubix passte nicht zusammen. Die Farben wollten sich einfach nicht zusammensetzen lassen, weder eine, geschweige denn, der gesamte Würfel. Er drehte und hörte gar nicht, was vor ihm passierte. Als man ihn darauf hinwies, dass es doch wesentlich wichtiger sei, auf das Geschehen zu achten, als seinen dämlichen Würfel zu lösen, da sagte er flüsternd: » Ich beschäftige mich schon genug mit solchen Blödheiten, wie Sie selber sagten. Ich muss mir diesen Quatsch nicht auch noch direkt in dieser Situation geben. «, dann sah er wieder hinab auf seinen Würfel und versuchte, ihn zu lösen. Aber wieder war es ihm unmöglich gewesen, die Farben richtig zuzuordnen und während ihn die anderen, die neben ihm gesessen hatten, ihn verstohlen beäugten, legte er schließlich genervt den Würfel weg, guckte die Personen, von denen er wusste, dass sie ihn anstarrten, mit weit-geöffneten Augen an und sank anschließend in seinen Stuhl hernieder. Er wollte hier nicht sein. Er kannte das Ende. Er kannte das alles und war genervt von dem, was er mitbekommen hatte. Er rollte die Augen und starrte zurück auf den Rubix, den er vor sich liegen sah. Die anderen sahen ihn wieder an und er schnaufte ermüdet aus.
Im Zentralbahnhof hatte man einen Menschen getötet. Schließlich wurde es nicht nur einer, sondern zwei. Dann waren es vier, irgendwann fünfzig und schließlich hunderttausende, beinahe Millionen, die im Bahnhof für immer verschwanden. Zu seinem Bedauern war das aber nicht der Grund gewesen, weshalb an diesem Tag die Menschen zusammengekommen waren und man im Publikum, das sich für klug und gebildet hielt, weil es die besten Abschlüsse vorzuweisen hatte, wieder hartgekochte Eier aß, deren Duft sich im Raum verbreitete und jeder mitbekam. Schließlich stank der ganze Saal danach. Wieder roch der Gerichtsraum nach alten, stinkenden, kalten Eiern. Er verdrehte die Augen. Vor ihm positionierte sich ein Richter, der oben auf einem erhöhten Podest erblickt werden konnte. Links saßen die Ankläger, rechts die Geschworenen, in der Mitte stand ein Sockel, der mit Asche gefüllt gewesen war, und im Zeugenstand saß einer der Beschuldigten. Er war einer von vielen, die vor dem Richter saßen und versuchten, ihre Position zu erklären. Der Vorwurf der Kläger war mehr als redundant gewesen, aber das Publikum, der Richter und die Geschworenen blickten gespannt auf das, was dort vor ihren Augen geschah. Was die Beschuldigten getan hatten, gaben sie zu. Dadurch war der Prozess de facto unnötig geworden, aber dennoch hielt man ihn ab und gab dadurch den Beklagten wenigstens noch die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Schließlich ging es gar nicht mehr darum, was die Angegklagten taten, sondern darum, ob es richtig gewesen war. Aber beim Anblick des gelangweilten Richters, der sich in die Hände reibenden Geschworenen und den durchaus fragwürdigen Klägern, war es dem Rubixspieler wieder bewusst, welches Urteil gefällt würde. Es war ein Scheinprozess, das wusste er. Denn die Entscheidung fällte nicht der Richter, der den Prozessen schon müde gewesen war, der auf seinem Tisch die blinde Justizia zu stehen hatte. Es fällten die Geschworenen die Entscheidung, die jedes Mal gleich aussahen und gleich geblieben waren. Bis auf den Rubixspieler war jeder im Publikum gespannt darauf gewesen, was passieren würde. Alle anderen wussten es und vor allem der RIchter langweilte sich, denn er konnte seine Zeit auch anders nutzen. Er verdrehte die Augen, sah hinterrücks auf das eingeritzte „Demokratia" und auf die leere Stelle, wo vor Jahren ein einschlägiges Symbol gehangen hatte. Selbst nachdem man die Schuldigen des Staates Politeia verurteilte, hatte man es immer noch nicht geschafft, die leere Stelle aufzufüllen. Er war müde und schnaufte wie der Rubixspieler einmal aus. Am anstrengendsten hatten es die Angeklagten, die wieder und wieder die Intention ihrer Taten erklärten. Aber die Anwälte der Ankläger, und letztere natürlich selbst, hatten alle logischen Argumentationspunkte abgelehnt und als diskreditierung ihrer selbst bezogen.
Die Klagenden waren Personen gewesen, die die Morde im Zentralbahnhof entweder überlebten oder Angehörige der ermordeten Opfer waren. Sie waren die Kinder ihrer Zeit, die sie darin lehrte, stets an sich selbst zu denken, in allem eine Bedrohung zu sehen, jeden Verstoß gerichtlich zu behandeln, um daraus Kapital zu schlagen und schließlich auch sämtliche Tendenzen, die den Staat kritisierten und moralisch verwerflich darstellten, auszumerzen. Von alldem hatten sie aber nichts gewusst und waren so im Endeffekt nur Spieler eines Systems geworden. Während die Angeklagten versuchten, einen erneuten Mord im Zentralbahnhof zu verhindern, postulierten die Kläger und Klägerinnen, wie verwerflich es doch sei, mit den Überresten ihrer Angehörigen und Bekannten Moral zu evozieren. Gleichsam wie die Beklagten ein Symbol für alle gewesen waren, die sich über die Gefährlichkeit der Zentralbahnhofmorde im Klaren waren, waren die Klagenden das Symbol für ein System gewesen, das verlernt hatte, Gefahren wirklich zu erkennen. Im gesamten Prozess ging es nicht mehr um den Mörder, denn der war vor Jahren schon gestorben, sondern darum, dass der Versuch, erste Morde aufzuhalten, be- und verhindert werden sollte. Denn die Kläger und Klägerinnen hatten zeitlebens nicht verstanden, dass ein millionenfacher Mord nicht durch eine Person bewerkstelligt werden konnte und sie dadurch viele tausend Mitarbeiter brauchte, die sie unterstützten, indem sie schwiegen oder halfen. Die Beteiligten wurden weder ermittelt, noch verurteilt, was wohl daran lag, dass in allen Bereichen des öffentlichen Lebens jemand jemanden kannte, der vielleicht mal etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Ebenso war es fraglich, ob und wie viele der Geschworenen Kinder der Beteiligten oder die Beteiligten selbst gewesen waren. Für den Rubixspieler war es langweilig geworden, immer und immer wieder dieselben Geschworenen zu sehen, die die Klagenden verwendeten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Ihre finsteren Mienen verrieten ihm, was sie eigentlich von dieser Welt wollten, er hatte es gewusst, der Richter war sich ebenfalls im Klaren. Aber das Publikum, dass durch die Kläger und Klägerinnen darauf getrimmt wurde, auf die widerlichen Angeklagten zu sehen, verfolgte mit immer steigender Wut und Missverstanden die Verhandlung. Irgendwann schmissen sie ihre Eier. Das Publikum schmiss die Eier auf die Angeklagten, auf den, der im Zeugenstand saß. Die Eier flogen an den Geschworenen vorbei, so wütend war die Menge!
Als die Geschworenen zurückkamen, beruhigte sich der laute Saal. Die Richterin, die den gelangweilten Richter abgelöst hatte, klopfte einmal mit dem Hammer und sorgte für Ruhe. Die Geschworenen verkündeten ihr Urteil und spuckten auf den Boden, der vor ihnen war. Sie sprachen über die moralische Verwerflichkeit, dass man Tote benutzen würde, um vor einem Verbrechen zu mahnen, dass doch schon so lange her gewesen war. Sie sprachen über Schande, Gutmenschen und Volksverräter und auf den Gesichtern der Kläger und Klägerinnen breitete sich ein breites Grinsen aus. Ihr Blick überflog die Asche ihrer Angehörigen und starrte auf den Sack voller Geld, den die Geschworenen im Hintergrund bereits deponiert hatten. Die Beschuldigten sahen ernüchternd zu Boden und falteten ihre Hände. Ab und an guckten sie auf die Säule mit der Asche und dann rollte eine Träne. Als das geschah, zeigten die Geschworenen mit dem Finger auf die Angeklagten und skandierten: „Ein Schuldeingeständnis!" Dann wurden die Beklagten wütend, aber sagten nichts.
Noch bevor das Urteil gänzlich verkündet wurde, stürmte ein Reporter der freien Presse in den Gerichtssaal, wodurch der, fast schon einschlafende, Rubixspieler aufgeweckt wurde. Beinahe hätte der Journalist sein Spielzeug zertreten und verärgert sagte er dann: „Hey!" und sah ihn böse an. Der Journalist machte eine Miene, die nach einem „Tut mir leid, aber jetzt gibt es etwas wichtigeres" aussah. Der Mann steckte seinen Rubix in die Innenseite seiner Jackentasche und klopfte einmal darauf. Das Publikum tuschelte, als der Reporter über den breiten Mittelgang lief und vor der Richterin erzählte, dass im Zentralbahnhof ein neuer Mord passiert war. Das Publikum erstaunte und fasste sich über ihren Mund. Man tuschelte: » Wie ist das nur möglich? « Da fragte die Richterin: » Im selben Bahnhof, wo vor vielen Jahren die schrecklichen Morde geschahen und den wir renoviert haben, soll man sich nun erdreistet haben, erneut einen Mord vollübt zu haben? « Darauf antwortete der Journalist: » Ja! Und an der Wand wurde mit dem Blut des Opfers geschmiert, dass es wohl noch weitere Opfer geben würde. Aber das ist noch nicht alles «, die Richterin riss die Augen auf, » es wurde ein Totenkopf abgelegt, der als Relikt für die Morde im Zentralbahnhof einst ausgestellt worden war. « Die Menge erschrak wie die Richterin. » Nun gut «, sagte sie dann. » Aber zuerst müssen wir die Beschuldigten ihrem gerechten Urteil überführen. « Daraufhin ging der Journalist aus dem Raum und der Mann mit dem Rubix verfolgte seine Schritte.
Nachdem das Urteil gesprochen worden war, blieb der Mann mit dem Rubix im Raum sitzen und versuchte wieder, den Würfel zu lösen. Der Richter kam herein und setzte sich auf einen leeren Platz, aber sprach nicht. Er faltete die Hände und schloss die Augen. Der Rubixspieler beachtete ihn nicht weiter. Schließlich kam der Journalist hinein und schoss ein paar Fotos. Dann bemerkte er den Rubixspieler und war verwundert, dass jemand im Raum geblieben war. Den Richter ignorierte er. Er setze sich zu dem Mann, dessen Spielzeug er beinahe zertreten hatte. Er wartete und schwieg, bis der Mann mit dem Rubix das Gespräch begann. Er sagte: » Wissen Sie, wie man Rubix schreibt? «, fragte er, während er weiterhin versuchte, den Zauberwürfel zu lösen.
» Man nennt ihn Rubik und man schreibt ihn R-U-B-I-K«, antwortete, als sei er überlegen.
» Falsch «, sagte der andere dann. » Und genau das ist der Punkt «, sagte er, als wäre es selbstverständlich gewesen. Da erstaunte der Journalist.
» Und wieso? «, fragte er, als hätte er es gewusst, dass der Rubixspieler sich erklären wollte.
» Weil «, antwortete er, » der Rubixwürfel vom ungarischen Ingenieur Ernõ Rubik erfunden wurde. Und weil es sein Würfel ist, muss ein -s angefügt werden. «
» Dann würde es aber immer noch Rubiks heißen. Warst du denn nicht in der Schule? «
Verdutzt antwortete der Gegenüber dann: » Es geht immer nur um die Schule. Man meint, alles zu wissen, wenn man die Schule mit dem höchsten Abschluss verlassen hat. Bestimmt haben Sie einen 1,0er Durchschnitt. Dennoch schaffen Sie es nicht mal, mich zu duzen, weil sie einerseits denken, dass ich noch nicht alt genug wäre, mich zu Siezen und andererseits, weil sie Respekt am Alter ausmachen. Das hat Ihnen Ihre Schule wohl nicht gelehrt «, er lachte. » Es ist auch interessant, dass sie zwar meinen, zu wissen, dass es R-U-B-I-K-S geschrieben werden würde, aber Sie nicht die Regel kennen, dass aus K und S ein X wird. Vielleicht sollten Sie Latein lernen oder einfach verstehen, dass Wissen und Verstehen nicht immer etwas miteinander zu tun haben. Lernt man sowas in der Schule nicht? «, sagte er und schaute verstört, aber wenig überrascht hinauf auf die gekachelte Decke.
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