[d y s t o] Unser Viertel
2070
"Wir sind doch alle am Ende des Tages nur Kartoffeln die übers Wetter reden, weil wir keine Faszination mehr haben fürs Kleine und Feine und Visionen fürs Große und Ganze. Ja, nichtmal einen Moment den wir an dem Tag lustig fanden und dadurch als mitteilenswert befinden könnten. Gar nichts mehr haben wir"
Ich weiss zwar nicht, was meine 21 jährige Urgroßmutter damals in ihrem Tagebuch mit "Kartoffeln" meinte, jedoch verstehe ich ihren Gedanken, dass das Wetter und dessen Bewertung wohl die einfachste Sache ist, um ein gemeinsames Gesprächsthema zu finden. Wir gucken alle nach oben und die Luft streift alle unsere Körper.
Etwas später schrieb meine Urgroßmutter, die damals wohl nicht ahnte dass sie so etwas einmal werden würde, dass es doch eh komplett bescheuert ist, dem Wetter eine subjektive Meinung zuzuordnen. Das Wetter ist viel größer als wir. Und als wir dachten, wir wären größer, da machte es uns wieder klein. Und das war richtig so.
Leider hat es auch alles andere klein gemacht.
Das finde ich aber irgendwie so bitter und perfekt - und witzig. Auch wenn ich aber am Anfang so lange geweint habe bis mir schwindelig geworden ist.
Wenn du das nächste mal an einer Baustelle vorbei kommst wo ein Abriss geschieht, nimm dir mal 5 Minuten Zeit, ganz egal zu welchem wichtigen Termin du dich dann verspäten wirst. Nimm dir Zeit und schau dir den Stahl und die Steine an, wie sie da zertrümmert liegen. Und dann stell dir vor, darunter sind deine Bücher, Bilder, dein Bett. Dein Laptop und auch seine externe Festplatte, all deine Erinnerungen. Alles. Wenn du Glück hast, ist alles auf ner Cloud. Wenn nicht, dann nicht. Aber Orte sind auch Erinnerungen und dein Zuhause ist sowieso mehr als ein Ort. Zum Beispiel: ein absolutes Grundbedürfnis.
Und jetzt? Du schaust hoch zum Himmel und schreist, oder herunter auf die Erde und schweigst. Was wird es ändern? Such dir ein Dach, oder bleib halt wach. Mir doch egal, komm klar. Sei froh, dass du in dem Moment nicht selbst in diesen vier Wänden warst, sonst wärs das gewesen, das Ende. Und jetzt schau dich um, für alle um dich herum bricht durch deren zusammengekrachtes Haus auch bloß ihr kleines Herz.
Als ich also meine Hilflosigkeit versuchte durch meine Augen herauszuspülen, mir das aber kaum zu gelingen schien, da dachte ich: Kann ich genug weinen um diesen Staub unter mir wieder zu Erde zu machen? Bebt mein Körper nach? Bin ich auch als Teil von der Welt abgesplittert, gerade? Sie will uns doch eh nicht mehr haben.
Und da lief sie du zum ersten mal an mir vorbei und blieb kurz stehen. Ich war immernoch benommen, nunmehr irritiert, doch sie blickte mir fest in die Augen. "Bitte, du musst nicht weinen, ich meine, das Viertel wird doch nur seinem Namen gerecht.", sagte sie und ich vergaß vor Verwirrung, weiter zu weinen. Sie stand da so idiotisch, mitten in den Trümmern. Und sah mich dabei ganz neutral an, so als wäre alles okay.
Verdutzte Wut, mein Kopf tat weh. Arschloch, dachte ich und rief: "Unser Viertel hat doch eh keinen Namen!". Irgendwie klang es beleidigt und ich fragte mich, wieso. Ich wischte mir über die Augen, das Salz von der Haut, die Tränen waren eh schon getrocknet, der Sand brannte, doch das kannte ich schon.
Sie störte sich nicht an meiner Wut und sagte: "Aber wir nennen es doch jeden Tag irgendwie. Wir nennen es einfach: 'unser Viertel'. Und das funktioniert doch. Und jetzt passt der Name noch besser. Komm mit, ich zeig es dir.".
Hm. 'Jeden Tag irgendwie' beschrieb es ganz gut. Und da ich nicht wusste, wo ich sonst hingehen sollte, ging ich mit ihr mit. Ich hatte immerhin das Gefühl, irgendetwas tun zu können, also stützte ich mich auf einen Stein, der sofort abbrach. Es gab wirklich gar keinen Halt mehr, nirgendwo. Ihr war das egal, sie war bereits losgelaufen, ich stolperte ihr hinterher und brach mir dabei wahrscheinlich einen Zeh. Sie lief zielgerichtet weiter, wir schwiegen, man hörte nur das Knirschen der Kiesel, das Bröckeln des Betons.
Wir gingen auch nur wenige Meter, da blieb sie plötzlich stehen und ich lief beinahe in sie hinein, fing mich gerade noch. Vor uns ein drei oder vier Meter tiefer Abgrund. Das ließ mich erstarren und so standen wir beide da, die leidvolle Statue und der akzeptierende Übermensch.
"Schau.", sagte sie so ruhig wie vorher. Sie bewegte den Arm einmal nach links und rechts, einmal nach oben und unten, als würde sie das Trümmerfeld im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes segnen.
Als ich mit meinem Blick ihre Armbewegung nachverfolgte, da erkannte ich, wie bei dem Erdbeben der ausgetrocknete Boden einmal horizontal und einmal vertikal aufgebrochen war und tiefe Furchen gezogen hatte, da wo einmal Straßen und Wohnungen und so etwas in der Art existiert hatten. Zwei tiefe Furchen, in rechten Winkeln zueinander.
Kurz sahen wir schweigend darauf hinab. Dann sagte sie: "Siehst du. Es ist geviertelt. Es ist das perfekte Viertel."
Ich musste lachen.
Und es bebte, nicht ganz so stark, aber fast so wie vorher. Doch viel schöner. Ich hatte vergessen, dass man das auch noch fühlen kann. Sogar jetzt noch. Vielleicht fühlte es sich so an, wiederbelebt zu werden. Mir tat zwar immernoch alles weh und ich war an mehrerer meiner Grenzen, doch die Mundwinkel auch, und ich liebte es. Aber plötzlich fiel es mir auf und ich hielt inne.
"Warte.", ich starrte sie an "Das ist kein Viertel.".
Ich zeigte auf eines der vier Teile. "Das ist ein Viertel. Aber wir leben nicht mehr in einem Viertel. Wir leben jetzt..." ich breitete beide Arme aus, wild und wach war ich jetzt.
"Wir leben jetzt in einem.. einem GANZEN!".
Ich stand da, als hätte man mich gerade zum ersten mal in die Welt gestellt
und genauso schaute sie zurück.
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