2 - Freunde in Ketten und Betten

Montys bester Freund, seine große Liebe und seine Familie fanden alle in einem einzigen Körper zusammen.

Rohan.

Er brauchte niemanden sonst, aber echte Freundschaften gab es auf der Straße ohnehin nicht. Mit einem Bier in der Hand liefen er und seine Hündin durch einen dunklen Park, die Leine hatte Monty sich um die Schultern gehängt. Eigentlich brauchte er sie nicht und jedes Mal, wenn er Rohan in Ketten legen musste, tat es ihm in der Seele weh. Aber die Regeln sahen es vor, dass Hunde angeleint werden mussten, und da er seine beste Freundin nicht verlieren wollte, blieb ihm nichts anderes übrig.

Jetzt jedoch rannte Rohan ausgelassen über die dunkle Wiese, kreuzte manchmal den Weg und tauchte dann Meter voraus im Schein einer Laterne auf. Kein Mensch begegnete den beiden, niemand, der meckern konnte. Bald bog Monty ab, bahnte sich seinen Weg durch ein kleines Waldstückchen – Wald konnte man das nicht mal nennen, eher eine Anhäufung mehrerer Bäume – und kletterte durch ein Loch in dem Maschendrahtzaun, der die eine Hälfte des Wäldchens von der anderen trennte.

Fürsorglich hielt er das Loch für Rohan offen, die elegant hindurchsprang, ehe er aus dem Unterholz auf den unbeleuchteten Pfad trat.

„Wünsche eine gute Nacht, Herr Schafberger", sagte er leise und prostete dem moosigen Grabstein zu, an dem er auskam. Die abnehmende Sichel des Mondes war zu schwach, um den Namen des Verstorbenen offenbaren zu können, aber Monty kannte ihn.

Michael Schafberger, geboren am 28.03.1928, gestorben am 24.12.2011. Er hatte auf jeden Fall ein beschisseneres Weihnachten verbracht als Monty, seine ganze Familie wahrscheinlich ebenso.

Aber 83 war ein gutes Alter zum Sterben. 83 war voll okay. Seit er auf der Straße lebte, hatte Monty genug Leute sterben sehen, deren Midlife Crisis wohl mit neun hätte stattfinden müssen.

Sein Weg führte Monty zur Friedhofstoilette, die sich nicht weit von seinem kleinen Einstieg entfernt an einem Brunnen in einem kleinen Häuschen befand. Niemand machte sich die Mühe sie für die Nacht zu verschließen, deshalb stieß Monty die cremefarbene Tür mit dem stilisierten Mann darauf einfach auf und trat ins Innere. Die Wärme der Windstille schlug ihm sofort entgegen, aber er nahm sich keine Zeit, sie zu genießen. Stattdessen stellte er sich auf die Zehenspitzen, um das hochgelagerte Fenster zu öffnen, das mit einem leisen Knarzen nachgab.

Rohan legte sich in den Eingangsbereich und beobachtete, wie Monty einen lockeren Stein unter dem vorletzten Pissoir von der Wand löste und aus dem kleinen Hohlraum dahinter in Grammtüten verpacktes Gras hervorholte. Er steckte ein paar in seine Socken und die restlichen durch ein kleines Loch zu dem Innenfutter in seine Jacke. Dann setzte er sich in den Schneidersitz und holte aus seinem Rucksack einen Streifen Alufolie hervor.

„Nur ein bisschen", sagte er zu Rohan. „Nur genug, um den Affen zu töten, dann müssen wir weiter."

Er positionierte die Shore auf der Folie, klemmte sich sein silbernes Röhrchen zwischen die Lippen und erhitzte dann den kleinen weißen Punkt auf dem Blech.

Rohan beobachtete ihn, während er rauchte. Nicht einmal nahm sie den Blick von ihm und wenn sie weinen könnte, hätte sie es wahrscheinlich getan. Vor niemanden schämte Monty sich so sehr zu konsumieren wie vor ihr und gleichzeitig wollte er keine Sekunde ohne sie verbringen. Sie vor die Tür setzen würde er nicht fertig bringen, keine Mauer dieser Welt sollte sie trennen, wenn es sich vermeiden ließ. Er teilte seinen Schlafplatz mit ihr und damit auch die schönsten und härtesten Zeiten.

Die Zeiten von Glück und Gleichgültigkeit und die endlose Jagd nach einem Phantom.


Monty packte alles wieder ordentlich ein, auch die leere Bierflasche verstaute er in seinem Rucksack, ehe er die Toilette wieder verließ. Das Fenster ließ er offen stehen, damit der Geruch des Heroins bis zum nächsten Morgen verschwunden war und keinen der Friedhofsbesucher belästigte. Niemanden, der herkam, um um einen geliebten Menschen zu trauern.

„Es war mir wie immer eine Ehre", lächelte Monty, als er und Rohan auf dem Rückweg erneut Herr Schafbergers Grabstein passierten. Die Hündin rannte voran und sprang vom Friedhof zurück in den Park, noch ehe Monty das Unterholz betreten hatte.

Diese Nacht würde eine gute werden, das spürte er.


Es machte keinen Unterschied, dass Tilo die Serie schon mindesten zweihundert Mal gesehen hatte, Scrubs war jedes Mal aufs Neue verdammt lustig. Émile und er hatten genug geredet, genug geraucht und genug gegessen, jetzt war Zeit zum Lachen.

„Ich hätte schwören können, dass du aus Thailand eine Frau mitbringst", feixte Émile und trank einen Schluck aus seiner Limonade.

„Für dich?", grinste Tilo ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. JD verlor sich gerade in einem seiner unzähligen Tagträume.

„Für mich", spottete Émile. „Als bräuchte ich die Hilfe eines Weltenbummlers wie dir, um eine Frau abzubekommen. Ich hab' meine eigenen Qualitäten!"

„Na ja, hast du eine?"

„Was?"

„Eine Freundin."

Tilo nahm sich eine Gummischlange aus der Plastikbox auf dem Tisch und steckte sie sich zwischen die Zähne. Eine saure Geschmacksexplosion breitete sich auf seiner Zunge aus, während das gummiartige Zeug sich auf seine Kauflächen klebte.

„Nein", erwiderte Émile und wollte noch etwas hinzufügen, aber sein bester Freund unterbrach ihn.

„Siehst du? Du brauchst eindeutig meine Hilfe!"

„Idiot", lachte Émile und trat nach Tilo, ehe er sich wieder auf den flackernden Bildschirm fokussierte.


Vorm Schlafen gehen gönnte Tilo sich noch eine heiße Dusche, dann richtete er sein Bett auf Émiles Couch her. Bis er wieder eine eigene Wohnung hatte, würde er hier schlafen, frühstücken und leben.

Für nicht mehr als einen Augenblick erinnerte er sich an Monty und fragte sich, wo der heute nächtigen würde. In einer Unterkunft? Oder draußen auf der Straße?

„Gute Nacht", sagte Émile, ehe er in sein Schlafzimmer verschwand und damit war der Augenblick vorbei. Das Bild von dem Dreadhead und seiner Hündin verschwand und Tilo erwiderte den Gruß, ehe er seinen Kopf auf das Kissen bettete.

Das Einschlafen hatte ihm selten Probleme bereitet und seine Reisen hatten ihn gelehrt an jedem Ort und unter jeder Bedingung schlafen zu können. So dauerte es auch dieses Mal nicht lang, bis er ins Reich der Träume hinüberglitt, während der Geruch von fettiger Pizza, süßer Limonade und flüchtigem Cannabis noch immer seine Nasenflügel füllte.


Tilos erste Amtshandlung am nächsten Morgen war die Fotografie eines Selfies. Er retuschierte seine geröteten Augen und postete dann die Hashtags #goodmorning #bedhair #backhome und #wanderlust.

Ich wünschte mein Haar würde nach dem Aufwachen so aussehen, postete eine Userin gefolgt von einem weinenden Smiley.

Did you sleep well honey? :), fragte eine andere, aber Tilo legte das Smartphone weg ohne einem von ihnen zurückzuschreiben. Stattdessen streckte er sich und wankte dann schlaftrunken ins Bad hinüber, um seine Morgentoilette zu erledigen.


„Rutsch mal, Baby", raunte Tilo mit tiefer Stimme. Ein Tablett in der Hand stand er an Émiles Bett, die wärmenden Strahlen der Morgensonne drangen durch schmale Lücken im Vorhang herein. Es roch ein wenig muffig nach Mensch und Mundgeruch, da Émile es vorzog mit geschlossenen Fenstern zu schlafen. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass die ständige Luftzirkulation nicht gut für die Atemwege war, außerdem störte ihn der Straßenlärm, der unter der Woche ab sechs Uhr in die Wohnung drang.

Émile rutschte ohne die Augen zu öffnen.

„Klar, Baby", nuschelte er im Halbschlaf und entlockte Tilo damit ein Grinsen. War ziemlich leicht seinen besten Freund rumzubekommen. Wenn er erstmal das prächtige Frühstück sah, das Tilo angerichtet hatte, würde er ihn vermutlich gleich heiraten wollen.

„Ich habe Orangensaft gepresst und es gibt Pancakes mit Brombeeren", raunte er und Émile lächelte zufrieden.

Tilo setzte sich auf die Matratze und stellte das Tablett vorsichtig neben sich ab.

„Du musst schon die Augen aufmachen, mein Schatz", säuselte er und die angenehme Stimmung hielt genau so lange, bis Émile dieser Aufforderung nachkam.

Das zufriedene, leicht dämliche Lächeln verschwand.

„Oh, ach ... Du bist's nur."

„Danke auch. Dir ebenfalls einen guten Morgen, ich kann das Frühstück auch alleine essen."

„Jetzt hab dich nicht so", stöhnte Émile, gähnte und rieb sich ausführlich die Augen. Sie waren genauso rot wie die von Tilo. „Ich bin doch dankbar!" Er setzte ein zerknittertes Lächeln auf und Tilo schob ihm lachend das Tablett zu.

„Bon appétit!", grinste er und die beidenstarteten gemütlich in den neuen Tag.

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