10 - Teilzeit-Mehrbettzimmer vs Vollzeit-Obdachlosigkeit

Monty riss sich zusammen und rauchte nur genug, um seine Entzugserscheinungen zu killen. Nicht mehr, nicht einen Zug, egal wie sehr alles in ihm danach schrie. Er packte alles in seinen Rucksack und fragte Odessa, ob sie vielleicht einen Schluck Wasser für ihn hätte.

„Ausnahmsweise", erwiderte sie streng und grinste dann leicht, als sie aufstand und ein Glas aus dem linken Hängeschrank holte. Sie füllte es mit Leitungswasser und stellte es Monty hin, der eilig versuchte sich den Geschmack der Magensäure aus dem Mund zu spülen.

„Das ... war irgendwie echt krass", meinte Tilo in die entstehende Stille hinein und fragte sich im gleichen Moment, wieso er nicht den Mund gehalten hatte. Auf eine derart qualifizierte Aussage hätten die beiden sicherlich verzichten können.

„Echt krass, ja", stimmte Odessa zu und Tilo war nicht sicher, ob sie die Worte ernst meinte. Wahrscheinlich eher nicht.

Hitze stieg ihm in die Wangen und er wandte den Blick ab. Betrachtete die ungleichmäßigen blauen Ringe, die auf die Obstschale gemalt worden waren.

„Ich bin nicht ... ich mein, ich bin nicht naiv oder so", versagte er bei dem Versuch, die Situation irgendwie besser zu machen. „Ich bin viel gereist, ich hab schon viel gesehen!"

„Hörst du das, Monty? Gereist ist er und das viel", wiederholte Odessa. Sie nickte übertrieben und spätestens jetzt wurde ihre Ironie deutlich.

Ja, die heiße Drogendealerin machte sich über ihn lustig. Sie war aber auch offensichtlich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als er.

Monty nickte, aber entgegen Tilos Erwartungen stimmte er nicht mit ein. Stattdessen spürte Tilo seinen Blick auf sich ruhen und hörte dann die folgenden Worte: „Dankeschön! Du hast mir das Leben gerettet, ernsthaft!"

In seinem Gesicht erblickte Tilo ein Lächeln, als er ihn anschaute. Es kam so tief aus Montys Herzen, dass er es in seinem eigenen spüren konnte und er wusste nicht, ob er jemals zuvor jemanden so hatte lächeln sehen.

„Keine Ursache", murmelte er und schüttelte leicht den Kopf, während er nicht verhindern konnte, dass seine Lippen sich ganz automatisch ebenfalls zu einem Lächeln verzogen.

„Dankeschön auch dir, Odessa. Du bist echt ein Engel", wandte sich Monty nun an die junge Frau, die eine wegwerfende Handbewegung machte.

„Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, Süßer", lachte sie, aber es lag nichts Sexuelles in dem Wort. Es gab keine Spannungen zwischen Monty und Odessa, sie verhielten sich eher wie alte Freunde, fand Tilo. „Engel verkaufen kein Gift."

„Nein, die backen Plätzchen und färben dabei den ganzen Himmel rot", stimmte Monty zu und versetzte Tilo damit für einen Augenblick in seine Kindheit zurück. Genau das hatte seine Mutter ihm auch immer gesagt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Immer, wenn die Wolken am Horizont eine rosa Farbe angenommen hatten, was vorzugsweise in der Vorweihnachtszeit geschehen war. Wenn er jetzt darüber nachdachte, erschien ihm das irgendwie unlogisch. Die Wolken waren doch sicher auch zu anderen Zeiten im Jahr rosa gewesen, was hatte seine Mutter ihm denn dann für eine Erklärung gegeben?

„Du bist viel zu unverdorben dafür, dass du als Junkie auf der Straße sitzt", lachte Odessa und diesmal schien sie wirklich amüsiert. Sie lachte mit Monty, nicht über ihn, wie sie es bei Tilo getan hatte.

Monty zuckte mit den Schultern und stand dann auf. Er nahm seinen Rucksack vom Nachbarstuhl und schwang in sich wieder auf den Rücken, Rohans Leine schlug gegen die Stuhllehne.

„Danke nochmal", lächelte er und blickte von Odessa zu Tilo. Dann setzte er sich in Bewegung.

„Wir sehen uns", erwiderte Odessa gleichgültig, obwohl sie das Seufzen in ihrer Kehle nur knapp unterdrücken konnte. Für Gefühle war hier nicht viel Platz, Monty war ihr Kunde. Aber bevor er das geworden war, waren die Dinge anders gewesen. Manchmal, in Bruchstücken von Augenblicken so wie diesem, vermisste sie diese Zeit, so wie alle Leute die guten, alten Zeiten herbeisehnten.

Sie warf Tilo einen Blick zu. Eilig stand er auf und folgte Monty zur Tür.

„War nett deine Bekanntschaft zu machen", verabschiedete er sich schnell, deutete eine winzige Verbeugung an und folgte Rohan dann auf den Hausflur.


„Ich könnte das ja nicht."

Nilam gesellte sich zu Odessa in die Küche, holte ein Glas mit Nuss-Nougat Creme aus dem Schrank über dem Gefrierfach und einen Löffel aus der Besteckschublade. Sie schraubte den Deckel ab, schmiss ihn auf die Ablage und ließ sich dann auf dem Stuhl nieder, den eben noch Monty besetzt hatte.

In Sachen Schönheit stand sie Odessa in nichts nach, in Sachen Verdienst ebenso wenig. Ob es da eine Korrelation gab? Schon möglich.

„Was meinst du?", fragte Odessa. Sie holte ihr Smartphone aus ihrem BH hervor und überprüfte es auf neue Nachrichten.

Nilam steckte den Löffel in die Nuss-Nougatcreme und dann in ihren Mund.

„Na, Shore an meine Freunde verticken", erwiderte sie undeutlich, während sie an dem Löffel herumlutschte.

„Berufliches und Privates sollte man trennen", meinte Odessa und steckte ihr Handy wieder zurück.

Nilam nahm den Löffel aus dem Mund.

„Ja eben." Sie leckte sich etwas Creme aus dem Mundwinkel. „Deswegen gibt es eine Gruppe von Leuten, die meine Freunde sind und eine, die meine Kunden sind. Aber diese Gruppen überschneiden sich nicht."

Odessa zog die Schultern hoch.

Sie wusste nicht, ob sie alles nochmal genauso machen würde oder versuchen würde, Monty abzuhalten. Jetzt nicht mehr an ihn zu verkaufen war keine Option, denn so wusste sie zumindest, dass er sauberes Heroin bekam. Keine gestreckte, verunreinigte Scheiße. Sie legte viel Wert auf die Qualität ihres Stoffs, nicht umsonst hatte sie Sonja mit ins Boot geholt. Mit Chemikalien war sie top und die Reinheit von so ziemlich jeder Droge überprüfen kein Problem für sie.

Es war auch nicht Odessa gewesen, die Monty an die Shore herangeführt hatte. Es war bloß ein Zufall gewesen, dass sie in demselben mit dem Dealen begonnen hatte, in dem er obdachlos geworden war.

Wenn man überhaupt einen Schuldigen an Montys Situation finden wollte, wäre es wohl Isak. Aber Schuldige gab es nicht, nur eigene Entscheidungen, die sich in Sucht verwandelten.

„Ich komm damit klar", sagte sie zu Nilam und stand auf.


Zwischen Monty und Tilo herrschte Schweigen. Seite an Seite liefen sie durch die Straßen zurück in Richtung Innenstadt. Es war Nachmittag und dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Noch war es trocken, aber der Regen lag fast spürbar in der Luft.

„Ich kann dir elf Euro geben. Den Rest hab' ich leider gerade nicht", durchbrach Monty schließlich die Stille. Er steckte seine Hand in die Hosentasche, in der das Kleingeld schwer wog und klimperte, wenn er sich zu schnell bewegte.

„Lass stecken", erwiderte Tilo. Er schien tief in Gedanken versunken.

„Bist du dir sicher?"

Monty streckte die Finger der anderen Hand aus und strich Rohan, die direkt neben ihm lief, über den Kopf.

„Du kannst es besser gebrauchen als ich."

Womöglich, ja.

„Vielen Dank. Das ist wirklich großzügig!"

Monty war wirklich herzlich aber gleichzeitig hatte Tilo immer das Gefühl, er hielte ihn auf Abstand.

„Tut mir leid", sagte er, ohne viel über seine Worte nachzudenken, obwohl tausend Gedanken durch seinen Kopf flossen.

Monty zog die Augenbrauen zusammen, sah ihn von der Seite her an.

„Was?"

„Dass es so weit gekommen ist ... Dass du süchtig bist und auf der Straße sitzt."

„Du kannst doch nichts dafür", erwiderte Monty und strich Rohan erneut durch ihr Fell. Er hätte es schlimmer treffen können, definitiv. Ja, die Winter waren hart, aber dieses Leben hatte auch Dinge zu bieten, die ein Bürohengst nie sehen würde.

„Trotzdem ..."

Tilo wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, das merkte Monty. Das Ganze war zu viel für ihn und wer konnte es ihm verübeln? Egal, was er auf seinen Reisen alles gesehen hatte – er hatte gewusst, dass er wieder gehen konnte. Es waren fremde Länder, zum Teil arme Länder gewesen. Er hatte sich darauf vorbereiten können, dort auf arme Menschen zu treffen.

Aber das hier war Deutschland und, wenn Monty sich richtig erinnerte, sogar die Stadt, in der Tilo aufgewachsen war. Da fiel es schwer zu sehen, dass nicht alles so war, wie die Nachbarn und die Politik einem immer vorlebten. Nicht so, wie man es selbst sein ganzes Leben lang wahrgenommen hatte.

Nicht nur das. Für jemanden, der noch nie mit Sucht in Kontakt gekommen war, musste das Bild, das Monty abgegeben hatte, beängstigend gewesen sein. Viele verstanden oder wussten nicht, dass Sucht eine Krankheit war. Dass es, sobald man diesen Punkt erreicht hatte, keine persönliche Entscheidung mehr war. Natürlich, einen Entzug konnte jeder von ihnen machen. Aber in erster Linie brauchte der Körper den Stoff, um zu funktionieren.

Am Mittag hatte Tilo gesehen, was passierte, wenn dieser fehlte.

„Mach dir keinen Kopf, ich komm klar", versuchte er ihn zu beruhigen. Er untermalte seine Worte mit einem freundlichen Lächeln.

Tilo nickte und verabschiedete sich recht bald, denn Monty behielt Recht: Er musste erstmal über die ganzen Ereignisse nachdenken. Musste verarbeiten, was er heute gesehen hatte.

Um ein wenig Ruhe zu haben, zog er sich in Emilés Schlafzimmer zurück und drehte den Schlüssel im Schloss, ehe er sich unter dessen Decke legte. Nicht, ohne vorher zu duschen und frische Kleidung anzuziehen, denn auch wenn er sich bei dem Gedanken schlecht fühlte, konnte er nicht wissen, ob Monty irgendwelche Krankheiten hatte. Das Bedürfnis sich zu waschen war übermächtig gewesen, mächtiger als die Schuldgefühle, die Tilo deshalb heimsuchten.

Aber Monty sah ja nichts davon. Er tat ihm nicht weh damit, zu duschen, und wenn er das Bedürfnis dazu hatte, war es doch okay dem nachzukommen.

Er hatte die Möglichkeit dazu – im Gegensatz zu Monty, der heute sicherlich unter keine Dusche mehr kommen würde und der auch kein bequemes Bett besaß, in das er sich legen konnte. Er hatte nicht mal eine Tür, hinter die er sich verziehen konnte. Keinen Ort, an dem Ruhe und Sicherheit auf ihn warteten.

Auf seinen Reisen hatte Tilo oft genug in Mehrbettzimmern von Hostels übernachtet, in denen teilweise noch zwanzig andere Reisende geschlafen hatten. Er war gut damit klar gekommen, aber das alles war nur auf Zeit gewesen. Das war ihm klar gewesen. In jeder einzelnen Nacht hatte er gewusst, dass wieder gehen würde.

Aber Montys Obdachlosigkeit war nicht zeitlich begrenzt und vor allem nicht selbst ausgesucht. Zumindest glaubte Tilo das, aber bei Monty konnte man sich nie sicher sein.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top