1 - Kaffee, Brötchen und ein Hund

Drei Jahre waren vergangen, seitdem Tilo zum letzten Mal einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatte, doch zurück in seiner Heimatstadt hatte sich nichts verändert. Die Menschen am Flughafen waren gestresst, die Bahn überfüllt. Die Tauben kackten den Bahnsteig des Hauptbahnhofs voll und die Bettler saßen an denselben Plätzen, wie an dem Tag, an dem Tilo seine Weltreise angetreten hatte. Es roch nach Menschen, nach Parfüm, Backwaren und ein wenig nach Urin. Damals hatte der sechzig Liter Rucksack schwer auf seinen Schultern gelegen, heute war er fast schon ein Teil von ihm.

In der Bahnhofshalle zog Tilo sein Smartphone hervor und streckte den Arm, um ein Selfie zu machen.

Back in Germany, schrieb er unter das Bild, setzte einen Smiley in Form einer Deutschlandflagge dahinter und wählte passende Hashtags aus, ehe er es in seinen Feed postete. Den Blick auf den Bildschirm gesenkt lief er zwischen den einkaufenden Menschen in Richtung U-Bahn.

Sein bester Freund Émile erwartete ihn bestimmt schon mit frisch aufgebackener Tiefkühlpizza und einem fertigen Joint in dessen Wohnung und wenn er sich beeilte, konnte Tilo in dreißig Minuten schon bei ihm auf der Couch sitzen und von seinen Abenteuern berichten. Nicht, dass Émile die nicht hätte auf Instagram mitverfolgen können, aber sein ganzes Leben erzählte er dort ja auch nicht. Die Details hatte er sich für ihr Wiedersehen aufgespart.

Die ersten Likes und Kommentare gingen ein und Tilo las gerade die Worte von Maribelle, als ihn jemand von der Seite ansprach.

„'tschuldige, hast du zehn Cent übrig? Ein bisschen Kupfergeld?" Untermalt waren die Worte von einem metallenen Klappern, das die allgemeine Geräuschkulisse übertönte.

Tilo wandte den Blick nach links und schaute geradewegs in eine Blechtasse, in der ein paar zehn und zwanzig Cent Stücke lagen. Auch ein einzelner Euro war dabei.

Die Hand, die den Becher umschlossen hielt, gehörte zu einem jungen Mann mit unordentlichen, schmutzig-blonden Dreadlocks. Dreck klebte in seinem Gesicht und überall auf seinen Kleidern, aber der Hund, der neben ihm lag, sah überraschend sauber aus. Aus treuen, blauen Augen sah das Tier Tilo an, als bitte es ebenfalls um eine kleine Spende.

Auf seinen Reisen hatte er die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt. Reisende sowie Einheimische, und egal, mit wem er geredet hatte, eins hatte Tilo gelernt: Nur wer zuhörte, lernte wirklich etwas. Die spannendsten Geschichten waren nie die, die er selbst zu erzählen hatte.

„Ich hab's nicht eilig. Wenn du magst, könnten wir uns in das Café da drüben setzen und ich geb' dir ein Brötchen und 'nen Kaffee aus", bot er an und deutete mit dem Daumen auf das Bahnhofscafé hinter seinem Rücken. Er brauchte seinen Kopf nicht umwenden, er wusste, dass es da war. Das war es schon vor seiner Geburt und würde es wahrscheinlich noch, wenn er längst verschieden war.

„Die mögen keine Hunde da drinnen", erwiderte der Obdachlose. Er strich seinem Weggefährten über das rot-weiße Fell. Neben ihm an der Wand lehnte ein ähnlicher Rucksack wie der, in dem Tilo sein gesamtes Hab und Gut mitführte. Er war kleiner, aber wenn es um Abnutzung und Flecken ging, taten die beiden sich nichts.

„Verstehe." Tilo nickte und warf nun doch einen kurzen Blick über die Schulter, ehe er anbot: „Ich kann auch etwas holen und es raus bringen. Magst du irgendwas nicht? Käse, Tomaten?"

Der Obdachlose zuckte mit den Schultern und stellte den Becher zwischen sich und seinem Hund auf den Boden.

„Den Kaffee schwarz?"

Erneutes Schulterzucken, er mied den Blickkontakt.

Vielleicht wollte er gar kein Essen, sondern nur Geld für Alkohol oder andere Drogen. Vielleicht war er gar nicht mehr da, wenn Tilo wieder aus dem Café kam, aber das Risiko war er bereit einzugehen.

Er verschwand im Inneren des Ladens und bestellte zwei Kaffee to Go, sowie zwei belegte Brötchen. Bezahlen tat er mit seiner Kreditkarte, denn Bargeld hatte er zwar dabei, allerdings wahrscheinlich keins in Euro. Dass er Europa bereist hatte, lag bereits zwei Jahre zurück.

„Vielen Dank!", sagte er zu der Kassiererin, nahm seine Bestellung und ging zurück in die Bahnhofshalle, wo gerade eine Frau etwas Geld in den Becher warf. Ihr Kind streichelte den Hund, der ihm wohlig den Kopf entgegenstreckte.

„Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag!", lächelte der Obdachlose und hob die Hand zum Gruß, ehe sein Blick an Tilo hängen blieb. Ausdruckslos schaute er ihm entgegen, vielleicht sogar ein wenig skeptisch.

Tilo drückte ihm den Pappbecher in die Hand und hielt ihm die Brötchentüte hin.

„Schwarz", sagte er. „Ich hoffe, er schmeckt dir so."

„Dankeschön", sagte der Obdachlose, stellte den Kaffee zwischen seinen Beinen ab und öffnete die Tüte, um hineinzuschauen. Dann warf er einen Blick auf den Becher in Tilos Hand und rutschte zu seinem Hund hinüber, um Platz auf der verdreckten Wolldecke zu machen, auf der die beiden saßen. Mit der Hand klopfte er auf die freigewordene Stelle und Tilo setzte seinen Rucksack ab, ehe er sich niederließ und sich gegen die kalte Steinwand lehnte. Sofort stieg ihm der eigentümliche Geruch des Obdachlosen in die Nase. Er konnte nicht mal genau sagen, was er roch, ob da noch mehr war, als alter Schweiß, kalter Rauch und eine Spur Alkohol. Das war allerdings auch nicht wichtig.

In Indien hatte er Schlimmeres gerochen. Wer dort durch die Straßen lief, sollte lieber kein feines Näschen haben, sonst würde er dort sicherlich nicht glücklich werden.

„Ich bin Tilo", stellte er sich vor und streckte seinem Sitznachbarn die Hand hin.

„Monty", erwiderte der mit einem Lächeln, schüttelte Tilos Hand und legte seine dann seinem Hund auf die Schulter. „Das hier ist Rohan."

„Hallo, Rohan", begrüßte Tilo auch den Hund, was Monty ein zufriedenes Lächeln abluchste.

Monty schob das erste Brötchen in der knisternden Tüte weit genug nach oben, um davon abbeißen zu können.

„Möchtest du gar nichts essen?", fragte er nach dem ersten Bissen mit vollem Mund.

„Ich ess' später", winkte Tilo ab. Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher und verbrannte sich die Zungenspitze, während das Handy in seiner Hosentasche nervenaufreibend vibrierte. Neue Likes und Kommentare gingen ein, seine Follower freuten sich wahrscheinlich, ihn nach seiner langen Abwesenheit zurück in Deutschland begrüßen zu können. Während seiner Reisen hatte sich um Tilos Seite eine ansehnliche Fanbase gebildet, die seine Bilder liebten und ihn für seine Stories feierten.

Er warf Monty einen Seitenblick zu und fragte sich im selben Augenblick, was dessen Geschichte war. Wieso er auf der Straße saß, welches Schicksal hinter seinen Lebensumständen steckte.

Es gab Menschen, die glaubten die Antwort zu kennen. Allgemein gesprochen für einen jeden Obdachlosen in jeder Stadt Deutschlands.

Faulheit. Dummheit. Unhöflichkeit.

Aber so einfach war es nicht, das war es nie.

Tilo spürte die Blicke der Vorbeigehenden auf sich ruhen und war gleichzeitig überrascht, wie viele Menschen vorbeigingen ohne Monty eines Blickes zu würdigen. Befand man sich selbst in dem schnell fließenden Strom bemerkte man die Bettler nur am Rande, aber von hier unten war die Perspektive eine ganz andere. Man nahm jedem Menschen wahr, der vorüber eilte. Spürte jeden Blick, für den oft extra der Kopf zur Seite gedreht wurde.

„Warst du im Urlaub?", fragte Monty mit Blick auf Tilos Rucksack. Vorsichtig trank er einen Schluck dampfenden Kaffee, ein vorbeigehender Passant warf etwas Kleingeld in den Becher. „Hab einen wundervollen Tag!", rief Monty dem Mann hinterher, noch ehe Tilo etwas sagen konnte.

„Ich bin um die Welt gereist", erzählte der schließlich und beobachtete, wie Monty sein Brötchen aufklappte. Er zog die angebissene Frikadelle zwischen den Hälften und dem Salat hervor, leckte die Soße ab und reichte das Stück dann Rohan.

„Feines Mädchen", lächelte er, als die Hündin ihm vorsichtig die Leckerei aus den Fingern nahm und dann gründlich zerkaute.

„Bei Rohan hatte ich eher an einen Rüden gedacht", sagte Tilo, denn wahrscheinlich interessierte sich Monty gar nicht für seine Reisen. Wieso sollte er auch, wenn er selbst niemals die Chance bekommen würde, von Steilklippen auf kristallklare Meerengen hinabzublicken, in einem Baumhaus im tropischen Regenwald zu schlafen oder die längste Hängebrücke der Welt zu überqueren.

„Ist doch egal", lachte Monty. „Männlich, weiblich, macht doch alles keinen Unterschied. Sie mochte den Namen, also soll sie ihn haben."

Er nahm einen Bissen von dem Brötchen und streichelte mit der freien Hand über Rohans Kopf.

„Stimmt", lachte auch Tilo.


Er blieb noch, bis er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, und verabschiedete sich dann wieder. Über Monty hatte er im Grunde nichts erfahren, zumindest nicht mehr, als dass er obdachlos war und seine Hündin liebte.

Verwundern tat es Tilo nicht und die Gedanken an diese kurze Zufallsbegegnung waren vergessen, als er Émiles Wohnung betrat. Unterwegs hatte er Kommentare gelesen und beantwortet und in Erinnerung an seine eigenen Reisen hatte er das Interesse an der von Monty vergessen.

Vor Émile erwähnte er ihn mit keinem Wort.

„Drei Jahre, Alter", lachte der, während er seinen besten Freund in die Arme schloss. „Kommt mir vor, als wären es drei Jahre gewesen."

Tilo lachte auf und schüttelte den Kopf.

„Deine Sprüche sind noch genauso grauenvoll wie damals, ich hab echt nichts verpasst."

„Doch, die Pizza, als sie noch heiß und knusprig war", seufzte Émile und ging gefolgt von seinem besten Freund in die Küche, wo er den Mikrowellenofen wieder anschmiss. Er verströmte einen muffigen Geruch durch die Lüftungsschlitze und Émile öffnete das einzige Fenster, um die sich abkühlende Abendluft reinzulassen. „Was hat überhaupt so lange gedauert, hast du dich verlaufen?"

„Ich hab noch einen Kaffee getrunken. Du musst wissen, bei uns Reisenden tickt die Uhr ein bisschen anders, der Stress kann uns nichts", lachte er, auch, wenn es irgendwo stimmte. Wenn man so viel gesehen hatte wie er, schienen viele Hürden des Alltags kleiner und unwichtiger. Nicht mehr wie unüberwindbare Mauern, sondern eher wie eine kleine Anstrengung, die man meistern musste, oder ein Stein, der zwar nicht angenehm, aber auch nicht schlimm war.

„Du hast schon drei Jahre auf mich verzichtet, da war dir die Stunde wohl auch egal. Du hast gelernt ohne mich zu leben", seufzte Émile und wandte in bester Schauspielermanier den Blick ab, um seine nicht vorhandenen Tränen zu verbergen.

„So ist das, sorry, Kumpel."

Tilo zog die Schultern hoch und drehte die Handflächen nach oben, ehe er sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte.

„Zur Entschädigung bau ich schon mal!"

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