Kapitel 10
So schnell seine Beine ihn trugen, lief Hizashi über den Campus zurück zur Schule, wo er Nemuri vermutete. Ein quälender Gedanke hatte seinen Griff um sein Herz gelegt: War er damals so blind gewesen? Er hatte immer angenommen, etwas würde zwischen ihr und Shota laufen, aber wenn Shota wirklich nur versucht hatte, Oboro mit ihr zu verkuppeln, dann hatte Yamada sich getäuscht.
Sie wollten sich damals zu viert treffen. An dem Wochenende nach ihrem Praktikum. Das Praktikum, nach dem niemand mehr er selbst war. Das Praktikum, das sie alle zerstört hatte. Aber an dem einen Tag, dem Tag davor, waren sie noch guter Dinge gewesen und hatten Pläne geschmiedet. Kino und ein Abendessen zu viert. Nemuri, Oboro, Shota und Hizashi. Shirakumo hatte es im Scherz ein Doppeldate genannt. Was, wenn es das wirklich hätte werden sollen? Ein Doppeldate und nicht nur ein dämlicher Jungsabend, an dem sie sich bei Videospielen mit Süßigkeiten vollstopften.
Dabei hatte er nie angenommen, dass der andere in ihn verliebt wäre. Eigentlich hatte Yamada immer angenommen, dass Aizawa in einer anderen Liga als er spielte. Es gab nie irgendwelche sichtbaren Anzeichen. Aber vielleicht wollte Shota gerade deswegen Oboros Hilfe. War das denn möglich? Hizashi hatte die Hoffnung, dass Kayama mehr dazu wusste, immerhin war sie schon immer über alles im Bilde gewesen und hatte sich damals ganz gut mit Aizawa verstanden. Vielleicht hatte er mit ihr darüber gesprochen.
Schnellen Schrittes durchquerte er die Gänge des Schulgebäudes, während er froh darüber war, dass die Schüler allesamt nicht hier waren. Die letzten Unterrichtsstunden waren bereits vorüber, sodass ihn niemand daran erinnern konnte, dass man am Schulgang nicht lief, sondern sich normal fortbewegte. Doch dafür hatte er keine Zeit. Er hatte so viele Fragen und diese brannten ihm bereits Löcher in die Zunge. Er brauchte Antworten. Sofort!
Ungeduldig riss er die Tür zur Krankenstation auf, als er sie endlich erreichte. „Nemuri wir müssen reden!", bat er in einem sehr barschen Tonfall und konnte kaum verhindern, dass seine Macke ein wenig mitmischte. Die Fenster klirrten bedrohlich. Wenn er aufgebracht war, hatte er sich selten im Griff.
Genervt und mit bösem Blick wandte die Dunkelhaarige sich von dem Krankenbett ab, an dem sie saß und sah Yamada an. „Bist du irre? Sei doch leise!", mahnte sie ihn und erhob sich. Kurz sah sie noch einmal zu Shota, der friedlich schlief und nichts gehört hatte. Das Fieber war mittlerweile etwas weiter abgesunken, was ihn endlich in Ruhe schlafen ließ. Kein böser Traum weckte ihn mehr, weswegen auch kein dämlicher Schreihals das tun sollte.
„Aber ich muss es wissen. Damals. Am Dach! Doppeldate ... du und er ... ihr wart nie ...?" Zusammenhanglos kam alles über Hizashis Lippen, weil er so viel auf einmal wissen wollte und nicht wusste, wo er anfangen sollte. Schließlich wusste er auch gar nicht, welche Frage er am besten als erstes vorbringen sollte. Wieso dann nicht gleich alles auf einmal auf Kayama einprasseln lassen? Vielleicht schaffte sie es ja, ihn irgendwie zu verstehen.
Stattdessen sah sie ihn weiterhin böse an. „Halt die Klappe! Nicht hier drin!", zischte sie wütend, warf erneut einen Blick auf Shota, der sich ein wenig bewegt hatte, und scheuchte Yamada dann nach draußen auf den Gang. „Sag mir nicht, dass die 1A mit dir geredet hat!", fuhr sie ihn an, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Für gewöhnlich war sie selten sauer auf die Schüler, aber diesmal hatten sie es wirklich zu weit getrieben. Vor allem hatte Kayama sie gebeten, ihre Nachforschungen einzustellen, was sie scheinbar nicht getan hatten. Eine Strafe wäre wohl angemessen, aber im Moment musste sie für Schadensbegrenzung sorgen.
„Doch", antwortete Yamada zu ihrem Bedauern. Er war vollkommen außer Atem, obwohl er nicht lange gelaufen war, doch die Aufregung trug einiges dazu bei, dass er kaum Luft bekam. Er musste sich furchtbar zusammenreißen, seine Macke unter Kontrolle zu halten und das Gebäude nicht gleich zum Einsturz zu bringen. „Waren du und Shota damals zusammen?" Endlich bekam er die Frage so über seine Lippen, wie er wollte und damit sie Sinn ergab.
Nemuri schnaubte belustigt. „Meine Güte, wie kommst du denn darauf? Nein. Shota hat versucht Oboro zu helfen, und wollte mich mit ihm verkuppeln. Dabei hat er sich wirklich ganz niedlich angestellt, aber du kannst Sho ja, sowas ist nicht wirklich was für ihn, auch wenn er sich viel Mühe gegeben hat", erinnerte sich die Dunkelhaarige, „außerdem bin ich eindeutig nicht sein Typ!" Wie konnte Hizashi nur all die Jahre so blind sein? Aber es war wohl zu ihrer beider besten, dass es so war und so sollte es auch bleiben.
Doch Hizashi war das nicht genug. Er brauchte mehr Antworten. „Aber ... aber ... wen sollte Oboro mit Sho verkuppeln? Wer ist sein Typ?" Diese Frage brannte ihn unter den Fingernägeln. Aber wollte er die Antwort wirklich hören? Tief in sich drin kannte er sie bereits und er hatte ein wenig Angst davor, es laut zu hören. Zumindest hatte er sich auf dem Weg hierher etwas zusammengereimt und dafür wollte er nun die Bestätigung.
Mit einem leicht mitleidigen Blick schüttelte Kayama den Kopf und wollte sich abwenden, wenn Hizashi nicht nach ihrem Arm gegriffen hätte, um sie davon abzuhalten. „Du warst schon immer so blind, Zashi ...", seufzte sie schwer, und zwang sich dazu ihn anzusehen, „du ... du bist sein Typ! Oboro sollte dafür sorgen, dass du bemerkst, dass er dich mehr mag als nur als Freund." Nun war es endlich raus. All die Jahre hatte sie mit diesem Wissen leben müssen und hatte schon oft die Möglichkeit etwas zu sagen, doch sie hatte sich stets eingeredet, dass es besser wäre, wenn Yamada weiterhin unwissend blieb. Solange Shota nicht dazu bereit war, sich doch noch irgendwann zu öffnen, wollte sie ihn zu nichts zwingen. Nun blieb ihr allerdings nichts anderes über. Immerhin wollte sie Hizashi nicht anlügen, oder dazu bringen, Shota selbst zu fragen. Letzteres wäre das Schlechteste, was er tun könnte.
Auch wenn er es inzwischen geahnt hatte, fühlte er sich im nächsten Augenblick, als ob sie ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätte. Shota war in ihrer Schulzeit in ihn verliebt gewesen, während Hizashi immer angenommen hatte, dass der Dunkelhaarige mit Nemuri zusammen war. Dabei war der damit so weit falsch gelegen. Damals hatte der Verlust von Oboro sie alle sehr hart getroffen. Shota hatte alle Luken dicht gemacht und sich ins Training gestürzt, während Hizashi versucht hatte, so zu tun, als wäre nichts passiert, obwohl er sich ebenso zurückgezogen hatte, wenn es dazu die Möglichkeit gab. Damals hatte er gedacht, dass Nemuri vielleicht deswegen mit Shota schlussgemacht hatte, weil er sich so von ihnen abgekapselt hatte, doch er lag so falsch damit.
„Sie hatten einen Pakt. Shota hatte mir alles darüber erzählt, weil er der Meinung war, dass er mit Ehrlichkeit weiterkommt, um Oboro zu helfen, als sich irgendwie seltsam zu verhalten", fuhr Nemuri fort, „entweder schaffen sie es, sich gegenseitig zu helfen, oder beide gingen leer dabei aus. Du kennst Oboro ja, er war sich sicher, dass alles glatt laufen würde. Niemand konnte ahnen, dass es anders kommen würde." Da Shirakumo also niemals die Möglichkeit bekam, mit Kayama zusammenzukommen, hatte Shota sie gebeten, niemals ein Wort darüber gegenüber Yamada zu verlieren, bevor er versucht hatte, sie beide aus seinem Leben zu verbannen. Natürlich hatten sie das nicht zugelassen und hatten ihn nicht allein gelassen, doch sie hatte versprochen, Hizashi niemals von dem Pakt zu verraten, oder dass Aizawa etwas für ihn empfand. Das war das Päckchen, dass sie seit mehr als 15 Jahren zu tragen hatte.
Als er diese Worte hörte, hatte er das Gefühl, dass sich etwas Spitzes in sein Herz zu bohren begann. Je mehr Nemuri sagte, umso stärker wurde dieser Schmerz, der ihn schlussendlich zusammensinken ließ. Schnell griff die Dunkelhaarige nach ihm, um zu verhindern, dass er auf dem Flur zusammenbrach und führte ihn an eine Fenstersitzbank, auf die sie ihn sachte auf die Sitzfläche drückte, ehe sie ihre Arme um ihn schlang. Hizashis Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die sich langsam ihren Weg über seine Wangen bahnten, bevor er sein Gesicht in ihre Schulter vergrub.
„Ich wollte niemals, dass du es so herausfindest", flüsterte sie entschuldigend und strich ihm tröstend über den Rücken, „es wäre besser gewesen, wenn er selbst endlich dazu bereit gewesen wäre es anzusprechen. Immerhin schleppt er es schon ewig herum." Shota war noch nie in der Lage gewesen, über seine Gefühle zu sprechen, weil sie für ihn meist unlogisch waren und manchmal keinen Sinn ergaben. Es hatte schon so lange gedauert, bis er überhaupt kapiert hatte, dass er mehr für Hizashi empfand als nur Freundschaft. Als dann plötzlich Oboro starb, hat Aizawa alles, was nicht mit der Schule und dem Ziel, ein Held zu werden, zu tun hatte, aus seinem Leben verbannt.
Es dauerte ein wenig, bis Hizashi sich wieder fing. Er schluchzte leise und weinte, soweit seine Kontrolle über seine Macke es zuließ. „Ich dachte immer, dass ich nie eine Chance bei ihm hätte. Dass er nicht in meiner Liga spielen würde", gab der Blondschopf schließlich zu, nachdem er seine Stimme wieder gefunden hatte. Es war hart, nach all den Jahren zu erfahren, dass er eine Chance gehabt hätte, wenn er nur genau hingesehen hätte. Er war zu blind und eifersüchtig gewesen, weil Shota sich mit Nemuri gut verstanden hatte, und war sofort auf den Holzweg gekommen, weil er Dinge in diese Verbindung interpretiert hatte, die nicht da gewesen waren. Er war ein Idiot.
Immer noch strich sie ihm tröstend über den Rücken und gluckste. „Er spielt nur in deiner Liga, Zashi. Ein Blinder hätte das damals gesehen", scherzte sie. Eigentlich war Hizashi ohne seine Brille wirklich vollkommen blind, doch nicht einmal mit der Brille war ihm etwas aufgefallen. Wenn die Zeit ausgereicht hätte, und das Praktikum anders verlaufen wäre, dann hätte er es gesehen. Aber leider kam alles anders. Nun war die Katze jedoch aus dem Sack, doch das würde die Problematik nicht verändern. Shota hatte dicht gemacht, schloss alle Gefühle aus und wollte schon gar nichts von ihrer Schulzeit oder der Vergangenheit wissen. Wenn sie ihn auf den Pakt ansprechen würden, würde er ihnen nichts weiter erzählen und vermutlich sofort die Stadt verlassen. „Versprich mir, dass du ihn nicht sofort damit konfrontierst!", entfuhr es ihr leise und besorgt.
Hizashi schnaubte und löste sich etwas von ihr. „Du erwartest doch nicht, dass ich weitere 15 Jahre damit warte, etwas zu unternehmen?", fragte er fassungslos. Natürlich wusste er, dass es keinen Sinn machte, nun aufzuspringen und Shota zu gestehen, dass er ebenso damals in ihn verliebt war. Sie waren zum einen Erwachsen und hatten sich verändert und zum anderen war Aizawa kein Mann großer Gefühle. Ihn jetzt im Moment damit zu überrumpeln wäre überhaupt gemein, wo er doch noch krank war. Oder vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit, die Wahrheit aus ihm herauszubekommen. Schließlich gab es da noch eine wichtige Frage: Wie fühlte er heute?
„Nein ... aber ..." Nemuri wusste nicht, was sie sagen sollte. „Wie empfindest du denn heute für ihn?", fragte sie frei heraus an den Blondschopf gerichtet. Es wurde endlich Zeit, Licht in diese Sache zu bringen und Dinge anzusprechen, wenn auch nicht direkt mit Aizawa.
Nachdenklich runzelte Yamada die Stirn. Er hatte sich schon lange keine Gedanken mehr darüber gemacht, ob er für jemanden etwas empfand. Natürlich war er kein Kind der Unschuld gewesen, hatte genug willige Groupies an sich ran gelassen, aber verliebt hatte er sich in niemanden. Seit er an jenem Tag auf dem Dach so viel Eifersucht empfunden hatte, als er Shota mit Nemuri gesehen hatte, hatte auch er seine Gefühle hinter dicken Mauern verschlossen. Nun, da er allerdings darüber nachdachte, spürte er, wie sein Herz höher sprang bei dem Gedanken, dass der Dunkelhaarige auch noch etwas für ihn empfinden könnte. „Ich glaube ... wenn die Möglichkeit bestünde, dass Shotas Herz noch nicht komplett erfroren ist, dann ... ich will mir nur keine falschen Hoffnungen machen. Das würde ich nicht ertragen. Nicht nocheinmal", gestand Hizashi seufzend, „ich meine, ich habe mir damals eingeredet, dass er nichts von mir will und ich mich darauf konzentrieren sollte, ihm ein guter Freund zu sein. Das war damals schon schwer genug. Du verstehst doch ..."
Natürlich verstand sie und nickte daher. „Wenn du mir erlaubst, dann werde ich versuchen, sobald es ihm besser geht, etwas aus ihm heraus zu kitzeln. Versprechen kann ich dir nichts, aber ich werde mein bestes geben", versicherte sie ihm und fand sich prompt in einer stürmischen Umarmung wieder, die sie nur zu gerne erwiderte. Ihre beiden Freunde hatten lange genug gelitten, nun war es endlich Zeit, dass sie etwas Glück fanden. Doch ob das wirklich möglich war, lag nun nur bei Shota.
Etwas abseits von den beiden Freunden, die sich im Arm lagen, gut versteckt hinter einer Ecke, standen Mina, Toru und Denki eng an die Wand gepresst und hatten ihre Lauscher gespitzt. Nun kannten sie endlich die Antwort auf das Rätsel. Ihrer Meinung nach fehlte jedoch immer noch die richtige Lösung dazu. Schließlich fehlte immer noch das Happy End.
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