*Zu Hause ist kein Ort - Es ist ein Gefühl!*
Ob ein gutes oder schlechtes bleibt dir überlassen!
Ein Ort, ein Ort, ein Ort. So wie ich keinen im Moment habe. So wie wir den gleichen hatten. So wie wir ihn uns gegenseitig genommen haben. So wie mir alle Orte fremd geworden sind. Die Schule, die Turnhalle, der Marktplatz, unser Haus, mein Zimmer, mein zu Hause. All diese Orte sind mir fremd geworden, weil sie mir keine Bekannten mehr machen kann.
Es ist einen Tag her, dass Dr. Hansen gekommen ist. Meine Eltern und ich haben an dem Abend noch zusammen gegessen und die Beerdigung besprochen. Vielmehr haben das meine Eltern getan, ich saß stumm daneben und hab meine Ohren zugesperrt. Ich wollte nichts davon wissen und will es jetzt immer noch nicht. Ich kann ihre Urne nicht in ein tiefes Loch hinablassen und wertlos Erde darüber schütten, nur um sie dann jeden Tag zu besuchen und mit Blumen zu versehen. Das steht ihr nicht zu! Das hätte sie nicht gewollt! Sie hätte das alles nicht gewollt! Sie hätte mich nicht gewollt, wenn sie gewusst hätte, dass ich sie in den Tod treibe!
Ich sehe sie wieder, das Auto, die Sonne blendet, ein Regentropfen fällt auf meine Brille, ich lass mich ablenken, der Knall, die Autobremsen quietschen, der Autofahrer fährt weiter, ich sehe sie auf der Straße liegen, renne zu ihr und kann ihr nicht mehr helfen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen, weil ich sie ins offene Messer laufen gelassen habe. Weil ich nicht da war, um sie zu beschützen. Weil ich an diesem Tag einfach alles falsch gemacht habe. Es verschwimmt, es verschwimmt und wird zu Sternenstaub. Und diesmal so richtig, als würde ich niemals mehr zurückkehren.
„Rebecca, Rebecca, Rebecca, jetzt komm doch!"
„Lotte, ich unterhalte mich gerade!" Schmunzelnd drehe ich mich um und schüttele ihren Arm ab.
„Schon okay." Lächelnd winkt Melanie uns zu. Entschuldigend blicke ich sie an und lasse mich von Lotte mitziehen.
„Komm schon, komm schon, komm schon!"
„Jaaa!"
Sie zieht mich durch den ganzen Kindergarten, durch den Flur, an den Toiletten und der Küche vorbei, bis hin zur Spieleecke mit den vielen kleinen Bällen. Sie springt hinein, hält mich noch immer fest und ich stolpere ihr hinterher. Die Bälle werden zur Seite gedrückt, als wir mit einem lauten Knall hineinfallen. Sofort fängt sie an, sich einzugraben, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Schließlich schießt eine Hand aus dem riesigen Berg hervor und zieht mich zu sich nach unten. Lachend legt sie sich auf mich und ich stemme mich mit ihr im Schlepptau nach oben, woraufhin ich einen Ball an den Kopf bekomme.
Der Ball rollt zu Boden und bleibt neben dem Krankenhausbett liegen. Gleich kommt noch ein zweiter hinterher.
Das war wieder ein Untergang, ein Untergang, der größere Folgen hatte. Mein Vater hat mich in meinem Zimmer auf dem Boden liegend aufgefunden und meine Eltern sind mit mir ins Krankenhaus gefahren.
Nun liege ich hier und starre die Decke an, starre die Decke an, so wie sie es auch immer getan hat. Die Ärzte finden keine medizinischen Ursachen für meine Ohnmacht. Kein Wunder! Ich weiß, warum und ich weiß auch, was die Ursache ist und meine Eltern wissen es auch: LOTTE! Lotte, ist die Ursache, sie ist in der letzten Woche immer die Ursache. Und Mum und Dad wissen es und trotzdem sagen sie nichts. Sie sehen eine andere Ursache, sie sehen immer andere Ursachen, sie wollen immer andere Ursachen sehen, weil sie es sonst selbst nicht verkraften. Die Beerdigung ist morgen. Ich glaube, sie wünschen sich, dass die Ärzte etwas finden, mit dem sie mich hier in diesem stickigen kleinen Raum festnageln können. Dann kann die Beerdigung nicht stattfinden und sie haben eine Woche länger Zeit. Eine Woche länger Zeit, sich und mich vor diesem Tag zu beschützen. Vor diesem Tag, der sie nochmal sterben lässt und diesmal richtig. Sie ist nicht richtig tot, das ist sie erst, wenn ein Haufen Erde über ihr liegt, den sie nicht mehr abschütteln kann. Ich werde ihr versuchen zu helfen und ich werde scheitern und trotzdem werde ich es immer wieder versuchen, weil sie nicht weg sein darf, nicht wegen mir! Sie darf nicht wegen mir dort sein, wo sie jetzt ist!
Mein Herz ist ein Eisklotz, ein Eisklotz, der immer größer, immer kälter und immer schmerzhafter wird. Mein Herz ist schmerzhaft, weil sie mir die Schmerzen nicht mehr nehmen kann.
Es klopft an der Tür, der Arzt kommt herein, sonst niemand. Wortlos setzt er sich neben mich und schaut mich an. Was auch immer er gerade von mir erwartet, es kann warten. Es kann warten, bis alles vorbei ist. Bis sie es aus meinem Leben geschafft hat, auch wenn ich das nicht will.
„Allein überlegt man nirgends." Der Arzt lächelt mir zu. Ich starre ihn an. Er starrt zurück. Was will er von mir? Dass ich vor ihm in Tränen ausbreche und ihm haargenau erkläre, was mich belastet und wie es dazu kam? Will er das wissen? Dann soll er besser meine Eltern fragen, die erzählen es ihm bestimmt. Ich verstehe einfach nicht, warum sich alles nur um mich dreht. Ich hab meine Schwester verloren, aber meine Eltern haben auch ihre jüngste Tochter verloren. Trotzdem kümmert sich niemand um sie, alle stehen bei mir Schlange. Warum? Warum, tun sie das? Um mir den Abschied noch schwerer zu machen? Den Abschied, der nicht existiert, weil ich sie nicht verabschieden werde. Zumindest nicht so, wie meine Eltern es vorhaben: Mit einem Haufen Erde auf ihren Schultern! Ich werde ihr keine größere Last auftragen als die, die sie sowieso schon hat. Eine Träne schimmert auf ihrer Wange und erst später bemerke ich, dass es meine Träne, meine Wange ist, auf der sie hinabrollt.
„Woran denkst du gerade?" Jetzt starrt er mich nicht mehr an, er blickt aus dem Fenster. Ich schweige, ich schweige, weil sie es auch tut. Weil da keine Stimme mehr ist, die mir sagt, was ich sagen soll und wie ich es sagen soll. Diese innere Stimme ist fort, sie ist mit ihr gegangen und sie wird niemals zurückkehren, genau wie sie.
„Gibt es vielleicht irgendetwas, das du mir noch sagen kannst?"
Jetzt stellt er mir eine Frage, er hat mir eben auch eine Frage gestellt und trotzdem weiß ich die Antwort nicht. Ich würde ihm noch etwas sagen, aber ich kann nicht. Etwas in mir drin verschluckt meine Gedanken und wirbelt sie durcheinander, wirbelt sie zu einem Sturm und ich hab keine Ahnung, wie lange es noch dauert, bis dieser Sturm ausbricht. Ich hab keine Ahnung, zu was das hier führen soll, der Arzt anscheinend auch nicht.
„Du wirst gleich zu einer weiteren Untersuchung abgeholt." Mit diesen Worten verlässt er den Raum und schlägt die Tür zu.
Noch eine Untersuchung? Mein Hirn schreit, noch mehr Menschen, weiße Kittel, piepende Geräte, Krankenhausflure, Desinfektionsmittel? Ohne nachzudenken, stehe ich auf, das Bett quietscht, es quietscht wie ihres. Ihr Bett fängt an sich zu drehen, doch in Wirklichkeit ist es mein Bett. Mein Bett, das sich dreht. Und mein Drehen, das ich nicht stoppen kann. Meine Sachen, die ich packe und mein Rucksack, den ich mir auf den Rücken schnalle. Meine Beine, die mich zur Tür, aus dem Zimmer und in den Flur tragen. Mein Herz, das dabei pocht, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Mein Leben ist ein Marathon und ich laufe an letzter Stelle, weil ich einen Fehlstart hatte und keine Chance habe, nach vorne zu gelangen. Es sind meine Augen und mein Orientierungssinn, die mir Sicherheit geben. Aber ihre Gedanken, die mich leiten. Ihre Gedanken, die gleichzeitig auch meine sind. Ihre Gedanken, die mich bis in die Nacht verfolgen. Ihre Gedanken, die im Krankenhaus noch schlimmer gewesen waren. Und ihre Gedanken, die ich nicht mehr hören konnte. Ihre Gedanken, die mich Nacht für Nacht wach halten. Und wegen ihnen ich tagsüber keinen Ort als mein zu Hause wahrnehmen kann. Weil sie mein Zuhause war. Und das niemand ersetzen kann.
Sie ist fort, zusammen mit ihm. Mit dem Ort, den ich für mein zu Hause gehalten habe. Darum rede ich kaum noch, darum bin ich in Ohnmacht gefallen, darum läuft alles nur noch falsch. Unsere Herzen schlagen wie zwei, nicht mehr wie eines. Ihres setzt immer öfter aus und meines schlägt es wieder an. Es ist eine Frage der Zeit, bis mein Herz ihres nicht mehr retten kann, nicht mehr anstupsen kann, nicht mehr erwecken kann. Bis ihr Herz auch verschwindet, genauso wie ihr Körper es getan hat. Und mein Herz allein schlägt und verzweifelt nach ihrem sucht. Und ich nicht mehr weiß, wofür ich noch die Kraft aufbringen soll, sie zu suchen.
Weil sie einfach weg ist, schon länger ist sie fort und doch ist sie da. Und doch steht sie gerade neben mir und feuert mich an, das Krankenhaus zu verlassen. Ich höre ihre Stimme, sehe ihre Umrisse, die mich zum Ausgang leiten wollen. Sehe sie die Tür öffnen und in den Regen gleiten, sie dreht sich im Kreis, lässt die Regentropfen auf ihre langen Locken herabfallen und grinst mich an. „Lass uns nach Hause gehen." Sie verschwindet aus meinem Blickfeld, rennt hinaus in den Regen. Ich renne auf den Ausgang zu, öffne die Tür, schaue nach draußen, doch ich kann sie nicht mehr sehen. Sie ist weg, sie hat mich abgehängt. Jetzt stehe ich in dem Fluss von Wasser, der von oben herab kommt, starre auf den Fleck, wo sie gestanden hat, bevor sie wegrannte. Lasse die Regentropfen auf meine Locken fallen und renne ihr hinterher, auch wenn ich weiß, dass ich niemandem folge. Dass es eine Verfolgungsjagd auf meine Erinnerung ist.
Aber ich renne, ich renne immer weiter, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Die Tropfen klatschen gegen meine Brillengläser, die Brille beschlägt. Ich gehe, laufe, renne immer weiter, ihr hinterher. Sie darf mich nicht abhängen, weil ich eigentlich die wäre, die sie abhängen müsste. Die sie beschützen müsste. Die sie hätte beschützen müssen. In diesem einen Augenblick. In dem ich es nicht geschafft habe. In dem ich es nicht geschafft habe und ich alles verloren habe. Sie, meine Gefühle und mich selbst. Ja, ich habe mich selbst verloren und ich weiß nicht, ob ich mich wiederfinden möchte. Weil ich es selbst schuld bin, weil ich ihr jeden Tag eine SMS schreibe, doch sie nicht abschicke. Weil ich Angst habe, dass sie sie nicht lesen würde, weil sie mich nicht mehr will. Weil ich ihr Leben kaputt gemacht habe, weil ich alles habe enden lassen.
Ich renne weiter, ohne zu wissen, wo ich bin, weil es mir egal ist. Weil sie mich geleitet hat, was sie jetzt nicht mehr tut, was ich auch nicht mehr tue. Weil sie mir gezeigt hat, wo es lang geht und sie es jetzt nicht mehr kann. Weil wir uns einfach so gut verstanden haben und sie so an mir gehangen hat. Und ich an ihr. Weil sie mir vertraut hat. Und ich ihr.
Bis ich dann alles habe zugrunde gehen lassen und zugelassen habe, dass sie geht - für immer.
„Nein, ich will nicht!"
„Och komm schon, das Wasser ist doch gar nicht so kalt!" Zitternd hält sie die Hand in das flache Wasser und zieht sie blitzschnell wieder zurück.
„Das Wasser ist eiskalt!" Verzweifelt stehe ich in dem Nichtschwimmerbecken, das Wasser reicht mir gerade mal bis zum Bauch. Lotte steht vor mir mit ihren Schwimmärmchen, mit den Füßen halb im Wasser und mit trotzigem Dickkopf-Gesicht. Ich sollte sie eigentlich überreden ins Wasser zu kommen, was ich allerdings nicht sonderlich gut schaffte. Meine Eltern stehen neben uns, Lotte gut zuredend, was aber alles nichts nützt. Meine kleine Schwester steht da mit Schwimmärmchen vor dem Becken und will nicht ins Wasser, weil es ihr zu kalt ist, obwohl es mir schon fast zu warm ist. Langsam greife ich nach ihrem Arm, den sie ruckartig zurückzieht. Den Zipfel des Schwimmärmchens kriege ich allerdings noch zu fassen und halte ihn fest. Lotte ist ein riesengroßer Fan von Winnie Pou, sowie ich es auch mal war. Auf ihren Schwimmärmchen ist der gelbe Honigliebhaber abgebildet, wie er gerade das letzte bisschen Honig aus dem Glas löffelt.
„Komm, Winnie Pooh wäre stolz auf dich, der kommt bestimmt mal zu dir und bringt dir ganz viel Honig mit, wenn er sieht, dass du so mutig bist und dich ins Wasser traust!"
„Ehrlich?" Ihre Augen fangen an zu leuchten.
„Ja, ehrlich!" Unsicher schaue ich in das Gesicht meiner Eltern, sie nicken mir zu. „Und wer weiß, vielleicht bringt er ja auch seine Freunde mit."
„Mit noch mehr Honig?"
„Ja, mit noch mehr Honig."
„Super!"
Danach ist sie ganz langsam und vorsichtig zu mir ins Wasser gekommen und hat sich an mich geklammert. Sie hat rumgemeckert, aber am Ende hat sie es geschafft, sich von den Schwimmärmchen tragen zu lassen. Ein paar Tage später haben wir dann schon zusammen im Wasser gespielt und rumgetobt. Das Ganze hatte allerdings auch einen Nachteil. Eine Woche später hat sie mich nach Winnie Pooh gefragt und wann der denn kommen würde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und einen Tag später fand ich mich auch schon in einem zu engen und zu warmen Kostüm mit einem Glas Honig vor Lotte stehend. Sie war so glücklich, sie hat nie erfahren, dass ich es war.
Ich gehe immer weiter, der Regen hat mittlerweile aufgehört, die Sonne scheint. Irgendwann sehe ich ein paar Gestalten, die mir mal bekannt vorgekommen waren. Die mir mal nett vorgekommen waren. Ich laufe an ihnen vorbei, sie starren mich an, es ist mir egal. Es ist mir egal, was die anderen denken, weil es ihr auch immer egal war. Weil sie einfach sie war und sich nicht für andere verstellt hat, so wie ich es im Moment tue. Ich verstelle mich, mein Körper tut so, als wäre nichts passiert, aber meine Seele schreit vor Schmerzen, sie schreit meinem Körper etwas zu, das er und ich einfach nicht verstehen wollen. Das ich nicht verstehen kann. Ich kann mich selbst nicht mehr verstehen. Warum ich jetzt gerade hier lang sprinte. Warum ich nicht einfach stehen bleibe und wieder zurückgehe. Warum ich glaube, dass ich ihr folge. Warum ich nicht dieses eine mal besser aufgepasst habe.
Irgendwann ragt ein Haus vor mir empor, es ist mir fremd, es ist mein Zuhause, es ist mir fremd. Es ist mir fremd geworden. Es ist mir fremd geworden in drei Wochen. In drei Wochen, die sie jetzt weg ist, ist es mir fremd geworden. Ich sehe die Trauerfeier vor mir, auf der ich nichtmal anwesend gewesen war, sondern sie mir nur vorstellte, und sich selbst das schon falsch anfühlt. Ich weiß, dass ich daran hätte teilnehmen sollen, Lotte zu Liebe, aber wie soll ich das anstellen? Wie soll ich mit meinen Augen die ganzen Leute anschauen, von denen keiner weiß, dass ich der Grund bin, warum sie hier sind, dass ich der Grund bin, warum Lotte nicht mehr hier ist. Dass ich selbst der Grund bin, warum sich einfach alles, was ich tue fremd anfühlt. Fremd, fremd, fremd, fremd! Es wiederholt sich immer wieder, dieses Wort wiederholt sich immer wieder in meinen Gedanken. Es ist mir fremd geworden, doch was genau? Alles? Ist sie mir auch fremd geworden, weil ich ihr nicht in die Augen schauen kann, wegen den Schuldgefühlen und ich sie doch so sehr vermisse? Ist mir alles fremd geworden? Bin ich mir fremd geworden? Und hab ich je die Kraft mir wieder bekannt zu werden? Und möchte ich das überhaupt?
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