*Wenn die Welt von Glücksmomenten umgeben war*
sind die schlechten meistens nicht weit!
Ich schließe die Haustür auf und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen. Nachdenklich schaue ich mich um, in jeder Ecke lauern Erinnerungen, in jeder Ecke droht mich etwas aufzufressen. In jeder Ecke steht sie und lächelt mich verschmitzt an. „Sollen wir Fahrradfahren gehen?" „Können wir Kreide malen?" „Können wir auf den Spielplatz gehen?" „Können wir Ball spielen?" All diese Fragen stellt sie mir immer und immer wieder und ich kann sie nicht mehr beantworten, weil es mich zerreißen würde, ihr erklären zu müssen, warum all das nicht mehr geht. Weil es mich zerreißen würde, ihr erklären zu müssen, warum sie keinen Schabernack mehr machen kann - nie mehr. Warum sie nichts mehr tun kann.
Irgendwann habe ich es geschafft meine Schuhe und meine Jacke abzulegen und nach oben in unser, in mein Zimmer zu trotten.
Mit meinen klatschnassen Klamotten lasse ich mich auf mein Bett fallen, nur um wenig später wieder aufzustehen und mich in ihr Bett zu legen, das viel zu klein für mich ist, dass mir aber trotzdem das Gefühl gibt, dass sie noch immer hier liegt. Dass ich aus ihren Augen auf mein Bett schaue und dort niemand mehr liegt, weil ich ohnehin schon längst gestorben bin, weil meine Seele mit ihr gestorben ist. Ich wälze mich hin und her und starre an die Decke. Ich finde einfach keine bequeme Position, auch weil die Matratze von meinem nassen Körper schon komplett durchgeweicht ist, aber irgendetwas sticht mir in den Rücken. Ich greife unter die Matratze und fühle eine Hülle von etwas. Nein, bitte lass es nicht das sein! Mit voller Wucht ziehe ich die Hülle ans Tageslicht. Es ist das, was es nicht hätte sein dürfen, das was ich nie wieder sehen wollte, das was ihre Kindheit ausgemalt hat, nur um dann alles kaputt zu machen. Es ist die Hülle des Balls, des Balls, der Augenzeuge des Unfalls wurde, mit dem wir gespielt haben, der dann in die falsche Richtung flog und das Todesurteil ankündigte.
Ich drücke den schlaffen ungefüllten Ball an mich und weine, ich weine innerlich, doch ich vergieße keine einzige Träne und lasse auch kein Schluchzen hören. Weil sie mir die Kraft nimmt, mich zu bewegen, weil sie mir die Kraft nimmt, Geräusche von mir zu geben, weil sie mir die Kraft nimmt, die Tränen laufen zu lassen. Weil sie mir die Kraft nimmt, irgendetwas zu tun, weil sie mich nichts tun lässt, weil ich nichts tun kann. Weil ich einfach nur hier liege und mich nicht bewegen kann, weil ich es nicht will, weil ich hierbleiben möchte und einfach nur weg. Weil ich hierbleiben und gleichzeitig einfach nur weg möchte. Einfach nur weg, an einen Ort, wo ich noch nie war und wo alles einfacher ist. Wo sie mich begleiten kann und ich nicht vor ihr flüchten muss. Wo wir eins sind und nicht zwei kaputte Hälften. Wo wir einfach wieder glücklich sein können und ich diesen schrecklichen Tag vergessen kann. Wo sie wieder neben mir aufwacht und mit mir um das Müsli streitet. Ich schließe die Augen und sehe sie vor mir, sie, das Müsli und ...
„Morgen!" Verschlafen grinst sie mich an und taumelt die Treppe hinunter. Ich gehe hinter ihr, immer bereit sie festzuhalten, wenn sie fällt. Als sie unten angekommen ist, rennt sie los in die Küche. „Ich bin Erste!", schreit sie und greift nach der Müsli-Packung. Lächelnd öffne ich die Küchentür, die sie vor meiner Nase zugeschlagen hat, und gehe zu ihr. Jeden Morgen ist es das gleiche, jeden Morgen möchte sie Müsli essen, wie ich früher auch, jetzt kann ich es nicht mehr riechen. Ich hole ihr ein Schälchen aus dem Schrank und greife nach der Kühlschranktür, um die Milch rauszuholen. „Zwei Schälchen!", befiehlt sie. Schmunzelnd drehe ich mich um. „Ich esse kein Müsli, ich hab erst vor einer Woche mit dir Müsli gegessen, obwohl ich es eigentlich gar nicht mag."
„Zwei Schälchen." Sie sieht mich bittend an.
„Dickkopf!" Ich gebe ihr einen leichten Stoß auf den Kopf und hole ein zweites Schälchen aus dem Schrank und stelle die Milch dazu. Lotte greift nach der Packung, reißt sie auf und fängt an, die Schälchen zu füllen. Sie schüttet immer mehr hinein, wovon die Hälfte allerdings daneben geht.
„Lotte, jetzt hör doch bitte auf, du schüttest ja die Hälfte daneben, lass mich das machen." Ich greife nach dem Müsli, doch sie hält mich zurück.
„Nein, ich mach das! Lass mich!" Sie reißt mir die Packung aus der Hand, woraufhin ein großer Teil von dem Gemisch aus Getreide und Schokolade auf den Boden kullert.
„Mensch Lotte!" Mit hängendem Kopf schaut sie auf das Chaos auf dem Küchenboden.
„Ich war das nicht, das warst du."
„Stimmt doch gar nicht! Jetzt gib mir das Müsli."
„Nein!" Sie reißt die Packung noch ein Stückchen weiter auf und fängt erneut an, die Schälchen zu füllen. Ich brauche gar nicht hinzusehen, ich höre auch so, dass die meisten Crisps überall hinkullern, nur nicht in die Schälchen. Schließlich gebe ich auf und setze mich an den Tisch. Zweifelnd schaue ich ihr dabei zu, wie sie die halbe Küche unter Crisps setzt und kann mich irgendwann nicht mehr halten vor Lachen. Sie schaut mich böse an, aber im nächsten Moment lacht sie mit und jongliert die Müslischalen zum Tisch. Dann gibt sie mir die Milch und ich bringe die Schokolade und Getreidekrümel zum Schwimmen. Lachend führen wir die ersten Löffel zum Mund.
Wenig später kommt unsere Mutter in die Küche: „Was ist denn hier passiert?" Lotte und ich schauen uns an und fangen gleichzeitig an zu lachen.
Es klopft, es klopft an der Tür, an meiner Tür, an unserer Tür.
„Ja?", bringe ich mit krächzender Stimme hervor, die eher Lottes Stimme gleicht als meiner. Die Tür öffnet sich und meine Mutter tritt ein. Sie sieht erleichtert aus. „Man, bin ich froh, dass du hier bist. Du kannst doch nicht einfach abhauen." Doch, genau das kann ich und das bin ich.
„Ich gehe nicht mehr zurück." Mit verengten Augen schaue ich in ihre Augen, die Lottes Augen sind, die gleichzeitig auch meine sind und wende den Blick schnell ab.
„Das brauchst du auch nicht, aber trotzdem hättest du mit uns reden können, oder wenigstens mit dem Arzt." Und was ist, wenn ich nicht reden will, weil sie auch nicht reden will, weil sie es nicht kann?
Sie schaut mich an, sie schaut mir tief in die Augen, doch ich kann ihr nicht in ihre schauen. „Wir müssen alle erst lernen, mit der Situation umzugehen und das tut jeder auf eine andere Weise, ich glaube wir sind alle drei dazu erstmal gern allein, aber bitte lass dich nicht auffressen, du musst sie loslassen. Genau das müssen wir lernen." Nein, das müssen wir nicht lernen, weil sie es auch nie lernen musste. Trotzig schaue ich weg. Eine Weile starrt meine Mutter einfach aus dem Fenster, sie scheint nachzudenken.
„Weißt du, sie wollte dir ein Tagebuch zum Geburtstag schenken, in dem wir lauter nette Worte notiert haben, sie hat mich jeden Tag etwas hineinschreiben lassen, wir haben die Sätze zusammen formuliert, aber die Grundidee kam von ihr. Sie wollte es dir nach der Feier geben." Ich schaue auf, schaue durch Mum hindurch, schaue durch Lotte hindurch und schaue sie doch gleichzeitig an.
„Das Buch ist kurz vor dem Unfall voll geworden." Ich starre sie an, sie wollte mir ein Tagebuch schenken, warum? Warum tut sie so etwas?
„Frederike, ihre Freundin hat das gleiche für ihre große Schwester gemacht und dann wollte Lotte es ebenfalls tun. Du warst ihr sehr wichtig und sie hätte dich niemals allein gelassen, wenn sie es hätte ändern können." Mit diesen Worten steht sie auf und verlässt das Zimmer. „Ich lege das Buch im Flur auf den Schrank, wenn du so weit bist, gehört es dir."
Ich schaue ihr nach, sehe wie sie die Tür schließt, höre wie sie das Tagebuch auf den Schrank legt und wie sie dann die Treppe hinunter geht. All das sehe und höre ich, aber ich verstehe es nicht. Ich verstehe es nicht, ich verstehe nicht, warum sie mir das alles jetzt erzählt. Warum nicht schon früher oder warum sie nicht noch etwas gewartet hat. Wie sie so frei darüber reden kann, wie sie über sie reden kann, als wäre es eine Puppe, die wir verloren haben. Als wäre es nur ein Spielzeug und nicht ein Teil meines Lebens. Als wäre es ein Spielzeug, das man ganz leicht ersetzen kann und nicht ein Teil meines Lebens, der für immer fort ist. Als wäre es nicht ihre Tochter gewesen, sondern einfach nur irgendein lästiges Rasselspielzeug. Als wäre es irgendwer gewesen und nicht meine kleine Schwester.
„Ah verdammt, ich glaube es geht los!" Ich höre Mum aus dem Wohnzimmer schreien. Und Dad, der ihr gut zuredet und sie zur Tür und ins Auto bringt. Flink springe ich auf und renne die Treppe hinunter. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht und mit einem Kribbeln im Magen springe ich ins Auto und schnalle mich an. Dad braust los und Mum kann einfach nicht aufhören zu zittern. Dad legt seine Hand auf ihre und versucht sie zu beruhigen. Mum schreit auf und spannt jede Muskeln ihres Körpers an, ich habe etwas Angst, sie würde sich ihre Knochen brechen. Ein weiterer Schrei und ein nicht sehr nettes Kommentar, dann platzt die Fruchtblase. „Halt an!" Mums Stimme ist anders als sonst und ihr Gesicht ist blass geworden.
„Aber..."
„Verdammt, halt an!" Dad tritt schwungvoll auf die Bremse und bringt das Auto zum Stehen. Er löst den Gurt um sich und dreht sich zu Mum. „Ok, wir schaffen das."
Ich weiß nicht, was ich tun soll, ob ich überhaupt etwas tun soll. Das Auto ist zu eng, als das ich etwas tun könnte, ich würde wahrscheinlich nur im Weg stehen. Also warte ich, wie lange weiß ich nicht, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Mum schreit, Dad redet auf sie ein, irgendwelche Worte, die ich nicht verstehe. Ich hoffe, sie helfen ihr.
Irgendwann wird es stiller im Auto und keine Sekunde später ist ein Schreien zu hören, allerdings nicht das Schreien meiner Mutter, sondern das Schreien meiner kleinen Schwester. Meine Eltern schauen sich an und Mum legt erschöpft den Kopf auf Dads Schulter. Ich erhasche einen Blick auf das Gesicht dieses kleinen Wesens. Er ist blutverschmiert, aber so besonders. Es ist meine Schwester, also ist es ein besonderes und einzigartiges Erlebnis, das mir niemand nehmen kann.
Auch nicht das schlimmste, was passieren kann. Auch der Tod kann mir dieses Erlebnis nicht nehmen, er macht es mir nur noch viel schwerer. Aber dennoch kann er es mir nicht nehmen, er löscht es nur stückchenweise immer mehr aus und lässt die glücklichen Momente zu traurigen werden, aber nehmen wird er es mir nie, weil ich mich dagegen wehre, weil das das Einzige ist, wozu ich noch die Kraft aufbringen kann, wozu sie mir die Kraft gibt. Und doch zerstört es mich, meine Erinnerungen, Lotte und mein Ich. Mein Ich, das schon lange fort ist und vermutlich nie wieder zurückkehren wird. Mein Ich, das ihrem geglichen hat und es jetzt nicht mehr tut. Mein Ich, das mit ihrem verschwand.
„Herzlichen Glückwunsch!" Meine Tante steht vor mir und nimmt mich in den Arm. Es ist mein 14. Geburtstag und die ganze Familie ist gekommen. Meine Großeltern, meine Tante, mein Onkel und meine Cousinen, unsere Cousinen. Und Mum und Dad sowieso, Lotte steht ebenfalls neben mir, mit einem Grinsen auf dem Gesicht steht sie neben mir und schaut stolz zu mir auf. Sie starrt mich an und ich weiß ganz genau, was sie denkt, weil sie die Gedanken irgendwie immer zu mir in den Kopf schickt. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich nicke ihr lächelnd zu und sie läuft zur Tür hinaus. „Liah, Lukas, kommt ihr?" In der nächsten Sekunde kommt sie mit den Zwillingen zurück, die ein Jahr älter sind als sie, was man allerdings nicht wirklich merkt. Ich hole einen Fußball und zusammen gehen wir nach draußen auf die Spielstraße. Ich sorge dafür, dass die drei relativ weit am Rand stehen und stelle mich danach mitten auf die Straße. Dann fange ich an zu kicken, ich schieße den Ball zu Lotte. Sie schaut mich an, ihre Mundwinkel erheben sich und sie formt mit den Lippen die Worte: „Du bist meine Heldin!" Ich grinse zurück und zeige auf den Ball, der an ihr vorbei rollt. Sie schaut nach unten und stolpert über ihre eigenen Füße, als sie versucht den Ball noch zu erwischen, doch er rollt ungerührt weiter. Lachend läuft sie dem runden Spielzeug hinterher und nimmt es schließlich in die Hand, sie kommt zurück und spielt den Ball zu Liah, sie spielt weiter zu Lukas und Lukas wieder zu mir. Tante Maria erscheint hinter der Hecke und schaut uns lächelnd zu, ich lächle zurück und verpasse den Ball.
Eine halbe Stunde später werden Liah und Lukas von ihren Eltern gerufen und wenig später bin ich mit Lotte allein. Lotte hat den Ball, sie schießt zu mir und ich halte den Ball an, ich schaue zu Tante Maria, die gerade ein Gespräch auf ihrem Handy angenommen hat und hinter der Hecke verschwindet. Ein Regentropfen fällt auf meine Brille und läuft am Glas hinunter. Ohne den Blick von Tante Maria abzuwenden, schieße ich den Ball wieder zurück. Ich würde zu gerne wissen, mit wem Maria telefoniert.
Das Geräusch eines Autos, das mit voller Geschwindigkeit um die Kurve braust, reißt mich aus meinen Gedanken. Ruckartig reiße ich den Kopf herum, die Sonnenstrahlen spiegeln sich in dem Regentropfen und es bildet sich ein wässriger und funkelnder Regenbogen vor meinen Augen. Hektisch nehme ich die Brille ab und kann verschwommen das Auto erkennen, das mit voller Geschwindigkeit auf Lotte zu braust. Der Ball rollt auf die Straße, ich habe ihn viel zu schief geschossen, Lotte rennt hinterher, Lotte rennt vor das Auto, der Autofahrer ist mit seinem Radio beschäftigt, Lotte rennt weiter, das Auto fährt weiter. „Stopp! Lotte, bleib stehen!" Ich schreie aus Leibeskräften, doch sie hört mich nicht, sie hört das Auto nicht, sie sieht das Auto nicht, sie sieht nur den Ball. „Verdammt Lotte, bleib stehen!" Verzweifelt und hektisch renne ich auf sie zu, wedele dabei wie verrückt mit den Armen, um den Autofahrer auf mich aufmerksam zu machen, doch der schaut nicht mal auf. Ich renne, stolpere, schürfe mir das Knie auf, stehe wieder auf, laufe weiter, sehe alles wie in Zeitlupe, laufe wie in Zeitlupe. Ich laufe zu langsam, ich bin zu langsam. Lotte dreht sich um, das Auto ist direkt vor ihr, meine Hand streift ihren Arm, sie schreit auf, die Motorhaube des Autos stößt auf meinen Arm, ich halte Lottes Hand, ziehe sie von dem Auto weg, doch zu spät. Das Auto fährt mit voller Wucht in Lotte und mich hinein. Ich höre den lauten Knall, Lotte ist vor mir, die Wucht schleudert erst Lotte und dann mich zur Seite, Lottes Hand ist weg, sie ist mir entrissen worden, ich sehe nichts mehr, meine Brille muss irgendwo unter dem Auto liegen, ich fliege durch die Luft, knalle wenig später mit einem lauten Knall auf den Boden. Wenig später ein weiterer Knall, vermutlich der von Lotte. Bremsen quietschen und ein paar Sekunden später heult der Motor wieder auf, das Auto fährt weiter. Es fährt weg, es fährt einfach weg, warum? Mühsam hebe ich den Kopf und spüre einen stechenden Schmerz im Inneren meines Hirns. Ich kneife die Augen zusammen und setze mich auf, reibe mir mit den schmutzigen Fingern über die Augen, ich kann nichts sehen, ich reibe weiter, meine Augen fangen an zu tränen, es ist mir egal, ich muss etwas sehen, um Lotte zu suchen. Ich zwinkere übertrieben und sehe einen kleinen verschwommenen Schein Licht. Ich halte mich an ihm fest, taste mich langsam vorwärts, spüre einen Körper, der Schein wird größer, dort liegt Lotte, aber ich bin noch so weit entfernt, ich spüre ihre Beine, aber ich komme nicht vorwärts. Der Schein verschwindet wieder, ich schreie, schreie im Inneren, bewege die Lippen, doch ich bringe keinen Ton heraus. Es wird schwarz, der Schein verschwindet und ist doch noch da, ich sehe Lotte dort liegen, doch bewegen kann ich mich nicht. Ich atme einmal tief durch, beruhige mich so gut es geht, setze einen Fuß vor den anderen, lasse mich neben ihr nieder, schreie um Hilfe, diesmal mit Ton. Ich kniee neben ihr, ziehe meine Jacke aus und falte sie so zusammen, dass ich sie als Kissen unter ihren Kopf legen kann. Die Straße neben ihr ist blutverschmiert. Wo kommt verdammt nochmal das ganze Blut her? Ich nehme ihren Kopf mitsamt der Jacke auf meinen Schoß. Sie ist wach, ihre Augen sind geöffnet, aber ich spüre, dass es ihr weh tut. Ich möchte wissen, wo es ihr weh tut, doch ich kann nichts sagen, sie kann auch nichts sagen. Sie liegt da mit schmerzverzerrtem Gesicht, bewegt sich nicht. Mensch, sie bewegt sich nicht. Ihre Augen schließen sich und gehen wieder auf abwechselnd. „Hey!", bringe ich krächzend heraus.
„Du bist meine Heldin. Du bist meine Heldin! Es tut mir lei..." Weiter kommt sie nicht. Ihre Augen schließen sich und ich weiß, dass es für immer ist. Ich weiß es und doch weiß ich es nicht. Ich starre sie an, ich starre sie an und weiß es, weiß es gleichzeitig nicht. Ich höre eine Sirene, die näher zu kommen scheint, jemand muss einen Krankenwagen gerufen haben. Ich weiß es und doch weiß ich es nicht. Ich nehme alles wie durch einen Schleier wahr, sie liegt neben mir, hat gerade ihre letzten Worte gesagt. Ich weiß es und doch weiß ich es nicht. Ich will es nicht wissen. Ich rüttele an ihr, schaukele ihren kleinen Körper hin und her. Kann es nicht wissen wollen. Ich schaukele weiter, ich weiß es und doch weiß ich es nicht. Ich weiß, dass sie mir nicht mehr antworten wird, aber trotzdem weiß ich es nicht. Die Sirene wird immer lauter, Tante Maria stürzt auf uns zu, genauso wie Mum und Dad, sie reißen mich von ihr weg. Sie reißen mich fort. Warum reißen sie mich fort? Ich muss bei ihr bleiben, ich muss sie retten. Ich stemme mich gegen die vielen Hände, die auf einmal überall um mich herum aufgetaucht sind und an mir zerren. Ich höre keine Stimmen, weil ich nur ihre Stimme höre. Und ich selbst nichts sagen kann, weil sie es auch nicht mehr tun kann. Meine Hand streift ihren blutverschmierten Ellbogen, er liegt reglos am Boden, genauso wie der ganze Rest ihres Körpers. Ich kann nicht mehr, sie entzieht mir die Kraft, weil sie sie mehr braucht als ich. Die Ärzte sind bei ihr, sie reanimieren. Sie reanimieren sie, es scheint nicht zu funktionieren. Ich werde fortgerissen, knicke um, falle hin, falle tief, immer tiefer, sie vor mir, bis es schließlich schwarz wird, wenn wir beide auf den Boden knallen, der nur so etwas wie eine Zwischenstation ist, die sie nicht halten kann, an der sie vorüberfällt, an mir vorbei. Und ich kann nichts mehr tun, außer ihr hinterher zu schauen und zu sehen, wie sie immer tiefer fällt und irgendwann nicht mehr zu sehen ist.
Ich bin gerannt, unabsichtlich bin ich gerannt, immer weiter, in den Wald hinein. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich war. Es war mir egal, es ist mir egal. Ich wollte einfach nur weg, einfach nur weg, an einen Ort, wo ich noch nie war, den ich nicht kenne, den sie nicht kennt. Ich renne auch jetzt noch, einfach weg, irgendwohin. Sie hat mich geleitet, dort, wo wir zu Hause waren, hat sie mich geleitet und ermutigt alle nötigen Sachen, die man zum Campen benötigt einzupacken. Und ihr Tagebuch. Sie hat mich genötigt ihr Tagebuch einzupacken und ich kann es ihr noch nicht mal verdenken. Aber ich renne und ich weiß nicht so genau, ob ich vor ihr wegrenne, weil sie mir folgt und ich keine Chance habe, sie abzuschütteln. Sie überholt mich, es ist wie früher, als ich immer langsamer gelaufen bin, damit sie bei unseren Wettrennen immer gewinnt. Sie überholt mich, obwohl ich so schnell laufe, wie ich kann. Sie bleibt vor mir stehen und ich muss abrupt bremsen. Sie steht vor mir, die Arme ausgebreitet. „Ich bin wieder da!" Ich starre sie an, ich starre sie an, weil das nicht sein kann. Weil sie nicht da sein kann, weil sie es nicht sein kann, weil es nicht wahr sein kann, oder doch?
„Hey, was ist? Freust du dich denn gar nicht?" Sie ist es wirklich, sie steht vor mir und diesmal richtig. Sie ist real und doch irgendwie nicht, aber sie ist es und ich renne auf sie zu. Sie kommt mir immer näher, ich berühre sie, ich berühre ihren lebenden Körper, ich berühre sie, ich nehme sie in den Arm. Ich drücke sie so fest an mich, wie ich kann, ich rieche ihren Geruch, der mir so lange gefehlt hat. Ich wirbele sie um mich herum. Ihre Locken wehen im Wind und sie lacht.
„Bist du es wirklich?"
„Ja, ich bin es, ich bin wieder zurück. Sag ich doch!" Ich kann es nicht fassen, sie ist da, ich hab alles nur geträumt, es ist ein böser Albtraum gewesen, es war alles nur ein Albtraum. Ich bin überglücklich und umarme sie direkt noch ein zweites Mal. Der Ozean, der zwischen ihr und mir war, ist ausgetrocknet, sodass sie wieder zu mir und ich wieder zu ihr kann. Es ist wie früher, es ist wieder wie früher, es ist nichts passiert, es ist rein gar nichts passiert.
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