*Jeder Schatten*

ist auch immer ein Wegweiser zum Licht!

Erschrocken starre ich auf den dunklen Fleck, der sich da gerade über uns gelegt hat. Lotte hat davon nichts mitbekommen, ich aber leider schon! Ganz langsam und mit klopfendem Herzen drehe ich mich um, den Blick nach unten gesenkt. Mein Atem geht schnell und ich muss mich beherrschen, nicht in Panik zu verfallen, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Aufgeschreckt zucke ich zurück, reiße die Augen auf und schlage wild um mich. Ich weiß nicht, aber aus irgendeinem Grund habe ich auf einmal sehr große Angst vor dem Etwas, was da vor mir steht und es nicht mal für nötig hält auch nur den leisesten Laut von sich zu geben.

Wie in Zeitlupe hebe ich den Kopf und fühle mich dabei jetzt ein bisschen dämlich. Kleiner Angsthase! Kleiner Plüschfuß! Ich grinse und schaue dem Etwas direkt in die Augen. Die azurblauen Sprenkel, die mich einsaugen wollten. Das Gesicht, was mir Angst gemacht hatte, das Mädchen ist wieder da. Miriam ist wieder da. Warum zur Hölle folgt sie uns? Was will sie von uns? Fragend schaue ich sie an, lege den Kopf etwas schief und ziehe eine Augenbraue nach oben. Erst nach ein paar Minuten beginnt sie zu sprechen: „Hey, ich wollte mich bei dir für meinen komischen Auftritt eben entschuldigen. Ich weiß nicht, was mit mir los war, aber egal, was es war, es tut mir leid, falls ich dir irgendwie Angst gemacht habe oder so." 

Sie schaut mir tief in die Augen, zu tief für meinen Geschmack. Verwirrt kreuzen sich meine Gedanken, sie fliegen wild durcheinander, nach oben, nach unten, nach links, nach rechts, zur Seite und wieder nach oben. Mir wird ein wenig schwindelig und ich muss mich am Boden abstützen. Alles scheint sich zu drehen, das Karussell, auf dem ich fahre, scheint sich nicht anhalten zu lassen. Nach einiger Zeit ist die Fahrt vorüber, meine Fahrkarte abgelaufen und ich bin zum ersten Mal froh darüber. Erneut schaue ich dem Mädchen in die Augen und bemerke erst dann, dass es eine Antwort von mir erwartet. 

„Schon okay.", antworte ich schnell, ohne zu überlegen. 

„Okay!", erwidert sie und scheint sehr erleichtert darüber zu sein. Wie selbstverständlich lässt sie sich neben mir auf dem Boden nieder und reckt ihre Nase der Sonne entgegen. Genauso wie es kurze Zeit vorher noch Plüschfuß gemacht hatte. 

„Ist doch ok, oder?", fragt sie im Nachhinein. Zögernd nicke ich, es war ja auch jetzt nichts anderes mehr möglich, oder? Eine Weile schauen wir einfach alle drei in den Himmel, beobachten das endlose Blau, das immer wolkenloser wird und ich male mir aus, Sterne dort oben funkeln zu sehen. Ganz helle, dort oben im Weltall, im riesengroßen Weltall. Dort ist alles schwerelos, die Anziehungskraft, von der sie uns immer in der Schule so eifrig berichten, gilt da oben nicht. Dort gilt einfach nichts von dem, was die Menschheit gewöhnt ist. Vielleicht wäre das genau das richtige für mich, andere Luft, anderes Umfeld, andere Umgebung, andere Welt, anderes Universum, anderes Leben. Dort würde nichts von alledem gelten, was ich hier unten erfahren hatte. Lotte würde natürlich mitkommen, so viel steht fest. Ich muss grinsen bei dem Gedanken an Lotte und mich, die in Anzügen schwer atmend durchs Weltall fliegen, dabei Wettrennen veranstalten, anschwirrende Planeten verfehlen und am Ende gegeneinander knallen. Der Gedanke ist einfach zu witzig. 

„Was ist so witzig?" Miriam schaut mich von der Seite belustigt an. Ich wende meinen Blick ihr zu und starre sie verständnislos an. 

„Ähm ja, sorry, ich sollte nicht immer mit der Tür ins Haus fallen, oder?" Sie lacht quasi über sich selbst, scheint sich aber sofort wieder einzukriegen, als sie bemerkt, dass ich es nicht lustig finde. 

„Ja, ähm, eigentlich sollte ich mich mal vorstellen. Alsooooo ..." Ihr lang gezogenes „O" macht mich ganz verrückt. Und generell, warum sollte sie sich mir vorstellen? Ich hatte sie nicht danach gefragt.

„Ich bin Miriam, 16 Jahre alt und mir ist gerade einfach nur sterbenslangweilig. Und ich rede zu viel und meistens auch echt wirres Zeug, falls du das noch nicht gemerkt hast." Da muss ich jetzt auch grinsen, nein, als ob ich das noch nicht gemerkt hatte. Sie scheint meinem Lächeln neuen Mut zu entziehen und redet ungebremst weiter. 

„Ich bin hier bei meinem Vater und er hat jeden Tag irgendwelche Events geplant, jetzt hab ich mich mal einem entzogen und er motzt mich direkt an. Naja, da bin ich eben abgehauen." Sie sagt das mit so einer großen Überzeugung, dass es schon wieder fast lustig ist. Sie grinst mir entgegen und entblößt dabei ihre unnatürlichen weißen Zähne. Eine starke Windböe pfeift mir um die Ohren und verwuschelt meine Haare, sodass sie wenig später in alle Richtungen abstehen. Dämliche Locken! Ich grinse und versuche sie wieder einigermaßen in Form zu bringen. Miriam schaut mir dabei belustigt zu, sie lacht mich nicht etwa aus, sondern lacht mit mir. Ein Gefühl, was ich zuvor immer nur mit Lotte gespürt hatte. Apropos Lotte, wo ist die überhaupt? Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie aufgestanden war. Ich hatte es nicht gehört, warum hatte ich es nicht gehört? Hektisch schaue ich mich um, nach hinten, nach links, nach rechts. Ich erblicke sie nirgendwo, Panik steigt in mir auf. Mein Atem wird schneller und mein Herzschlag erhöht sich. Da ertönt plötzlich ein lauter Schrei. Abrupt drehe ich mich um und erblicke kurz darauf Lotte, die ein paar Meter entfernt im Gras liegt. Ich wollte gerade aufspringen und zu ihr eilen, da entpuppt sich der Schrei als Lachen und ich muss augenblicklich auch lachen. Erleichtert entspannen sich meine Muskeln wieder und ich höre auf, mich in die Grashalme zu krallen. 

„Alles in Ordnung?", ertönt Miriams Stimme neben mir, die sich gerade ihre dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht fischt. Diese Haare passen so perfekt zu den Augen, wie in einer perfekten Lovestory. Wobei das hier ganz und gar keine Lovestory ist, eher so eine mit Mystery und null Verständnis. Ich verstehe es ja selber irgendwie nicht.

Ich nicke und schaue in die Ferne, zu dem Busch, zu dem Baum, der da hinten am Wegesrand steht, zu den Blättern, die da oben auf der Baumkrone baumeln und schließlich wieder in den Himmel und zu den paar Wolken und den hellen Sternen, die ich mir im Kopf dazumale.

„Und du so?", fragt Miriam nach einer kurzen Stille. „Ich zelte.", antworte ich. Nicht gerade überzeugt davon, dass es die richtige Entscheidung war, ihr das zu sagen. Das einem mir vollkommen fremden Mädchen zu sagen. Aber naja, sie hatte schließlich zuerst von ihr erzählt, oder? 

„Alleine?" In diesem Moment verletzt mich dieses Wort so sehr. Ich weiß nicht, warum genau. Ob, wegen der Tatsache, dass sie Lotte anscheinend nicht bemerkt zu haben scheint oder deswegen, weil ich quasi mit Lotte alleine bin, ich habe niemanden, meine Eltern nicht und auch keinen anderen Erwachsenen. Wie naiv dieses Zelten eigentlich von mir ist! Miriams Blick scheint mich regelrecht zu durchbohren, schnell nicke ich und bin zufrieden damit, Lotte aus alle dem hier herauszuhalten. Überrascht begutachtet sie mich und ich kann nicht erkennen, ob das in ihrem Blick Anerkennung oder Abwertung ist. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top